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       # taz.de -- Spielfilm „Der weiße Tiger“ auf Netflix: Nicht mehr dienen
       
       > Die Adaption des Buchs „Der weiße Tiger“ ist eine Satire auf das indische
       > Kastensystem. Zugleich erzählt er von Ungerechtigkeit.
       
   IMG Bild: Trotz abgeschafften Kastenwesens steht Balram (Adarsh Gourav, links) unter Ashok (Rajkummar Rao)
       
       Balram (Adarsh Gourav) wurde in eine niedrige Kaste geboren. Obwohl bereits
       seit Mitte des letzten Jahrhunderts gilt, dass kein Inder aufgrund seiner
       (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer bestimmten „Varna“ diskriminiert werden
       darf, sieht die Realität ganz anders aus. Verändert habe sich das
       Kastenwesen aber durchaus, wird später aus dem Off zu hören sein. Einfacher
       ist es geworden. Heutzutage gebe es nur noch zwei Kasten, zwei
       Bestimmungen: dicker oder dünner Bauch, fressen oder gefressen werden.
       
       Damit sind Ton des Films und die wesentlichen Koordinaten im Leben seines
       Protagonisten eigentlich gesetzt. Doch ebenso wenig, wie sich dieser mit
       seiner vermeintlichen Bestimmung, sich am unteren Ende der Nahrungskette
       einzufinden, zufrieden gibt, hält sich Regisseur Ramin Bahrani („99 Homes“)
       mit kitschigen Aufstiegsgeschichten auf.
       
       Dass Balram es aus der Armut herausschafft, verrät gleich zu Beginn der
       erzählerische Rahmen, in dem „Der weiße Tiger“, die Verfilmung des
       gleichnamigen [1][Debütromans von Aravind Adiga], zum Sprung ansetzt.
       Modisch gekleidet in einem schicken Büro sitzend, tippt er eine
       ausführliche E-Mail an den damals amtierenden chinesischen Premierminister
       Wen Jiabao.
       
       Da dieser nach Bangalore kommt, um mit indischen Unternehmern zu sprechen,
       möchte er ihm seine eigene Transformation nahebringen. Und die hat weder
       viel mit romantischen Erlösungsmärchen nach „Slumdog Millionär“-Manier noch
       den neoliberalen Erfolgsstorys im Stile von [2][„Hillbilly-Elegie“] gemein.
       Eher verhöhnt sie sie.
       
       ## Ein anderes Leben führen
       
       Der aus dem Off vorgelesene Text der E-Mail zieht sich als roter Faden
       durch den Film. Chronologisch erzählt wird in satt-gelben, körnigen Bildern
       zunächst von Balrams Herkunft: Als Kind erhält er, dank seines Verstandes,
       Aussicht auf Bildung. Doch da hat sich sein Vater bereits krummgeschuftet,
       ist an Tuberkulose erkrankt und stirbt schließlich, weil er keine
       medizinische Behandlung erhält. Damit ist Arbeiten angesagt und alle
       schulischen Aspirationen sind vom Tisch.
       
       Als die Leiche des Vaters verbrannt wird und sich die Muskeln
       zusammenziehen, sieht es für den Sohn so aus, als würde er sich gegen einen
       vorschnellen Tod aufbäumen. Der Anblick wird zum Erweckungsmoment, ein
       anderes Leben führen zu wollen. Als er den Großgrundbesitzer (Mahesh
       Manjrekar), der auch in seinem Dorf Schulden eintreibt, zum ersten Mal
       sieht, beschließt er, dessen Fahrer zu werden. Mit großen Mühen gelangt er
       an sein Ziel – aber das präsentiert sich anders als erwartet.
       
       Statt den erwachsenen Sohn Ashok (Rajkummar Rao) und dessen Verlobte Pinky
       (Priyanka Chopra Jonas) zu chauffieren, ist er nützlicher Lakai, der zu
       jeder Zeit in jedem Ton für jegliche Aufgabe herbeizitiert wird. Gleich
       lebendem Inventar, hat er allen Anweisungen Folge zu leisten – und scheint
       damit anfänglich kein Problem zu haben.
       
       Indien gleiche einem Hühnerkäfig, in dem 99,9 Prozent der Bevölkerung
       gefangen seien, sagt er aus dem Off. Sie sähen das Blut ihrer Vorgänger,
       röchen es sogar, aber unternähmen doch nichts. Zu sehr sei die Pflicht zu
       dienen in ihnen verankert.
       
       Die Kritik, die indische Bevölkerung stereotyp darzustellen, muss sich der
       Film angesichts derartiger Urteile gefallen lassen. Seine Zuspitzungen, die
       die Gesellschaft in Dienende und Herrschende teilen, machen „Der weiße
       Tiger“ allerdings zugleich zu einer Parabel, die sich auf andere
       Ungerechtigkeitsverhältnisse unserer Zeit übertragen lässt.
       
       ## Kein versöhnlicher Film
       
       „Der weiße Tiger“ ist kein versöhnlicher Film, denkt gar nicht an schale
       Kompromisse. Die Verve, mit der der iranisch-amerikanische Filmemacher
       Ramin Bahrani sich an den sozialen Ungerechtigkeiten abarbeitet, hat er aus
       der gleichnamigen Buchvorlage übernommen. Aravind Adigas Roman, der 2008
       mit dem Booker-Prize ausgezeichnet wurde, ist Bahrani nicht nur gewidmet,
       er war auch in den Entstehungsprozess involviert.
       
       Seit ihren Studientagen an der Columbia University seien die beiden
       befreundet, seit damals hätten sie es sich zum Ziel gemacht, „die Kraft von
       Geschichten“ und „die ökonomisch Ausgeschlossenen“, „die unsichtbaren
       Menschen“ zusammenzubringen, sagt Adiga in der Financial Times.
       
       Die Symbiose ist geglückt. Doch trotz seiner Vehemenz ist kein zermürbender
       Film entstanden. Im Gegenteil: Das Spektrum reicht von frappierend
       leichtfüßigem Witz bis zu beißendem Sarkasmus. Von nach Mitleid heischendem
       „poverty porn“ ist man weit entfernt: Auf einen zweiten Erweckungsmoment,
       in dessen Zentrum der islamische Philosoph Muhammad Iqbal mit den Worten
       zitiert wird, dass man mit dem Erkennen der Schönheit in der Welt aufhöre,
       ein Sklave zu sein, folgt Balrams radikale Selbstermächtigung.
       
       Von nun an kein Diener mehr sein, „non serviam“ – ein Credo, das nicht
       umsonst auf Luzifer zurückgeht. Auch Balram wird durch ein sich früh
       abzeichnendes Verbrechen nicht nur zum gefallenen Engel, sondern auch zum
       Herrscher über sein eigenes Reich. Dass er dem Publikum wider besseres
       Wissen weder als Sympathieträger verloren geht noch eine abschließende
       Läuterung erfährt, ist wohl das Radikalste an „Der weiße Tiger“.
       
       21 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Arabella Wintermayr
       
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