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       # taz.de -- Vorgehen gegen kommunistische Ärztin: Erst Knast, dann Erdoğan
       
       > Die Stadt Nürnberg will eine türkische Maoistin ausweisen. Der türkische
       > Machthaber Erdoğan dürfte sich auf die Rückkehr der Regimegegnerin
       > freuen.
       
   IMG Bild: AnhängerInnen der TKP/ML bei einer Demonstration am 01. Mai 2013 in Berlin
       
       Nürnberg taz | Es war ein großes Herz, das die Mitglieder der Mahnwache mit
       dem gebotenen Abstand auf dem Nürnberger Kornmarkt im Dezember formten –
       ein Herz für Banu Büyükavcı und zugleich „ein Herz für Menschenrechte“, wie
       es die Gewerkschaft Verdi auch von der Stadt Nürnberg fordert. Die nämlich
       will die Nürnberger Ärztin und Verdi-Funktionärin in die Türkei ausweisen.
       
       Der Grund: Büyükavcı wurde im vergangenen Sommer wegen Mitgliedschaft in
       einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Wohlgemerkt: einer
       Organisation, die in Deutschland gar nicht verboten ist.
       
       Aber der Reihe nach: Nach nicht weniger als 270 Verhandlungstagen endete im
       Juli 2020 am Oberlandesgericht München [1][ein Verfahren gegen zehn
       Mitglieder der maoistischen Türkischen Kommunistischen
       Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML)], darunter auch Banu Büyükavcı. Die
       Psychiaterin des Klinikums Nürnberg wurde zu einer Freiheitsstrafe von
       dreieinhalb Jahren verurteilt, die sie zum allergrößten Teil bereits mit
       der Untersuchungshaft abgesessen hatte.
       
       Büyükavcı und den Mitangeklagten war von der Bundesanwaltschaft vorgeworfen
       worden, sie hätten für die TKP/ML Veranstaltungen organisiert, um Spenden
       für ihre Partei zu sammeln. Deren Ziel sei es, das politische System in der
       Türkei mittels bewaffneten Kampfes zu stürzen, um eine „Diktatur des
       Proletariats“ zu errichten und dafür auch Mord und Totschlag zu begehen, so
       die Bundesanwaltschaft.
       
       ## Eine „Gefahr für die Bundesrepublik“?
       
       In der Tat werden die Kampforganisationen der TKP/ML für diverse Anschläge
       in der Türkei verantwortlich gemacht, bei denen auch Menschen getötet
       wurden. 2006 etwa starben bei dem Anschlag auf einen Bürgermeister in
       Ostanatolien vier Kinder. In Deutschland jedoch ist die TKP/ML wie auch in
       der übrigen EU nicht verboten.
       
       Das schriftliche Urteil liegt noch nicht vor, auch über den Revisionsantrag
       der Angeklagten ist noch nicht entschieden. Dennoch soll die seit 15 Jahren
       in Deutschland lebende Büyükavcı nach dem Willen der Nürnberger
       Ausländerbehörde nun in die Türkei ausgewiesen werden – weil sie eine
       „Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland“ sei.
       
       Es ist eine Entscheidung, die nach Meinung von KritikerInnen lebenslange
       Haft und Folter zur Folge haben dürfte. Schließlich kennt die Regierung von
       Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan [2][selten Gnade mit Regimegegnern].
       
       Im Gerichtssaal sah man die Ärztin mit den roten Locken die geballte Faust
       in die Höhe recken, der „Nürnberger Zeitung“ gegenüber bezeichnete sie sich
       als Revolutionärin. Aus einer liberalen Beamtenfamilie im Westen der Türkei
       stammend, sei sie politisiert worden, als sie erlebt habe, mit welcher
       Selbstverständlichkeit in ihrer Stadt Menschen als „Zigeuner“ diskriminiert
       worden seien.
       
       ## Maas gab grünes Licht für den Prozess
       
       Als junge Ärztin sei sie dann im Osten der Türkei Zeugin von Unterdrückung
       und Misshandlung von Frauen, Diskriminierung von Kurden sowie bitterer
       Armut geworden. Büyükavcı wurde Kommunistin. Mit Gewalt habe das aber
       nichts zu tun. Auch Jesus, Luther und Rosa Luxemburg seien Revolutionäre
       gewesen, hätten Gewalt aber abgelehnt.
       
       Das Solidaritätsbündnis #banumussbleiben richtet sich nun auch direkt an
       Außenminister Heiko Maas, der mit dafür verantwortlich ist, dass der höchst
       umstrittene Mammut-Prozess überhaupt stattfinden konnte. Maas hatte in
       seiner damaligen Eigenschaft als Justizminister das Verfahren nach Paragraf
       129b des Strafgesetzbuches erst genehmigt.
       
       Der nach den September-Anschlägen 2001 ergänzte Passus macht es möglich,
       auch die Unterstützung einer ausländischen Terrorgruppe in Deutschland zu
       verfolgen – vorausgesetzt, die Bundesanwaltschaft wird vom Justizminister
       dazu ermächtigt. Kritiker des Verfahrens hatten Minister und Justiz daher
       den Vorwurf gemacht, sich zu Erdoğans Handlangern zu machen, der stets die
       Verfolgung türkischer Oppositioneller in der EU gefordert hatte.
       
       „Hätte damals Heiko Maas nicht grünes Licht für die Verfolgung von
       TKP/ML-Mitgliedern gegeben, dann müssten wir heute nicht hier stehen“,
       schimpfte eine Verdi-Sprecherin bei einer der bereits mehrfach abgehaltenen
       Mahnmachen. „Banu wäre unbehelligt geblieben und heute ein ganz normales
       wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft.“
       
       Man wisse nicht, was den SPD-Politiker damals zu seiner Entscheidung bewegt
       habe. „Wir erwarten aber, dass er persönlich und schnell den hierdurch
       entstandenen Schaden wieder gut macht und seinen Einfluss bei Stadt und
       Innenministerium geltend macht.“
       
       Büyükavcıs Unterstützerkreis hofft nun auf ein Einlenken der Nürnberger
       Ausländerbehörde. Die endgültige Entscheidung liege in deren Ermessen,
       erklärte der Anwalt der Ärztin in der Lokalzeitung. Bei den
       Solidaritätsaufrufen gehe es nun darum, die Stadt zu bewegen, den
       Ermessensspielraum zugunsten seiner Mandantin zu nutzen.
       
       8 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Terrorprozess-in-Muenchen/!5699276
   DIR [2] /Tuerkische-Juristin-in-Gefaengnis/!5710521
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dominik Baur
       
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