URI: 
       # taz.de -- Homeschooling im Homeoffice: Hausgemachter Wahnsinn
       
       > Homeschooling ist hart – für Kinder und Eltern. Inzwischen hat wohl jedeR
       > die eine Geschichte darüber zu erzählen. Ein „Best of“ aus der Redaktion.
       
   IMG Bild: Wäre es rein freiwillig, wäre vielleicht mehr Spaß dabei: Kind mit einer Lern-App
       
       ## Das liegende Klassenzimmer
       
       Ab und zu höre ich aus dem Zimmer meines Sohnes die Zurechtweisung einer
       Lehrkraft, ansonsten scheint die Stimmung von Minute zu Minute zu steigen.
       Lautes Lachen und konzentrierte Nachfragen wechseln sich ab,
       Stimmendurcheinander, es klingt fast wie auf einer Klassenfahrt. Die
       Inhalte scheinen auf das Wesentliche reduziert, vor allem das Zusammensein
       zählt, jede und jeder kommt mal dran.
       
       Werfe ich einen Blick ins Zimmer, bekomme ich eine Geste, die sagt: „Ich
       bin gerade in einem wichtigen Meeting, was willst du?“ Im Schlafoutfit und
       mit Mütze sitzt, nein, liegt mein 14-jähriger Sohn mit Rechner auf dem Sofa
       und ist voll dabei. Drumherum stapeln sich Müslischüsseln, Tassen,
       Obstreste und leere Süßigkeitenverpackungen.
       
       Geht Unterricht auch, wenn man morgens einfach liegen bleibt? Anscheinend
       schon, zumindest solange alles online abläuft – und die Kamera
       ausgeschaltet ist, versteht sich.
       
       Erik Irmer 
       
       ## Beim Satz des Pythagoras
       
       „Zur Wiederholung des Satzes von Pythagoras bastelt bitte eine Pyramide mit
       quadratischer Grundfläche. Welche Seitenlängen die Grundfläche hat, ist
       euch überlassen, die Pyramide soll aber genau 12 cm hoch sein. Nehmt wenn
       möglich festeres Papier, denkt an die Klebelaschen, arbeitet sauber und
       exakt und macht sie schön bunt.“ Mein 14-Jähriger sitzt völlig paralysiert
       vor dem Bildschirm. „Alter, das meint die nicht ernst!“ „Die“ ist seine
       Mathelehrerin.
       
       Seit der Grundschule geht das so mit dieser – benoteten – Bastelei in allen
       Fächern. Dass es uns jetzt am Gymnasium ereilt, hatte ich nicht erwartet.
       
       Es war der erste Monat Homeschooling, ich habe das noch alles sehr ernst
       genommen. Mithilfe eines „Pyramidenrechner“ im Internet haben wir
       irgendwann herausgefunden, wie es geht. Weil alle Läden dicht waren,
       mussten wir das feste Papier aus dem Container hinterm Haus holen. Das
       Ganze musste dann fotografiert und hochgeladen werden. Ich habe mir
       wirklich Mühe gegeben – die Lehrerin hat sich nie zurückgemeldet. Das nehme
       ich ihr bis heute übel. Gaby Coldewey
       
       ## Noch ein Butterbrot, bitte!
       
       Homeschooling ist klasse. Der Tag beginnt mit stundenlanger Verspätung.
       Statt der sonstigen Hektik ab 6.30 Uhr mit Frühstück, Badstress, Anziehen,
       Loslaufen ist entspanntes Frühstücken im Familienkreis angesagt. „Kann ich
       noch ein Brot haben?“ – „Klar, wir haben doch keinen Stress.“ Schulbeginn,
       offiziell von den LehrerInnen empfohlen: 9 Uhr.
       
       Dann die ersten beruflichen Mails, eine Zoom-Konferenz, daneben Mathetricks
       für die Subtraktion erklären. Zweite Zoom-Runde beim Kind, inklusive
       English „do and doesn’t“. Noch ein paar Mails, ein beruflicher Anruf, 15
       Minuten Deutschdiktat 5. Klasse, Anruf der Lehrerin, erste Wortmeldung „Wir
       haben Hunger!“ Kochen, „Hofpause“, also kurzer Sprint auf den Spielplatz,
       schneller Blick auf die fertigen Übungsblätter, noch ein paar Mails und
       Anrufe. Gegen 15.30 Uhr: Kaffeepause fast in Ruhe.
       
       Und dabei feststellen, dass ich heute noch nicht die Zähne geputzt habe.
       Nächster Tag. Gleiches Programm. Bert Schulz
       
       ## Morgens im Papierstau
       
       An Tag eins im zweiten Lockdown muss das Kind gleich „mal schnell“ was
       ausdrucken. „Darf ich kurz, Mama?“, fragt der Sohn, 6. Klasse, und schiebt
       den bereits geöffneten Familienlaptop neben meinen Arbeitsrechner. Zwei
       leuchtende Bildschirme morgens um neun Uhr, dazu das blinkende Smarthphone
       sind nicht das, was ich an einem Montag (noch zwei Zoom-Konferenzen heute!)
       in der Früh brauche.
       
       Es geht natürlich nicht „mal ganz schnell“. Erst muss unser
       Drucker-Dinosaurier an den Laptop angeschlossen werden. Dafür muss man
       kompliziert unter den Schreibtisch krabbeln und irgendwelche Kabel
       umstecken und sich dabei den Kopf stoßen. Weil bei uns in der Familie das
       letzte Mal zu Studienzeiten jemand so etwas wie Homeoffice gemacht hat und
       sich seitdem nie mehr jemand um einen funktional organisierten Schreibtisch
       kümmern musste.
       
       Der Drucker kommt planmäßig in Fahrt, rattert und röhrt. Dann Papierstau.
       20 Minuten versuche ich den zu beheben, das Kind ist verzweifelt, es muss
       gleich „was hochladen“ auf die Online-Lernplattform. Der Kleine schlendert
       rein, Kita sind wir hier ja auch noch. „Was macht ihr da?“
       
       Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Ich vermute, es nennt sich
       Homeschooling.
       
       Anna Klöpper 
       
       ## Stresstest
       
       Am Abend kommt eine Mail der Klassenlehrerin. Darin der Satz: „Anders als
       als im vergangenen Schuljahr werden nicht oder zu spät erbrachte Leistungen
       mit 0 Punkten bewertet.“
       
       Erster Impuls: Schuldbewusstsein. Wie oft stand der Sohn neben mir: „Mama,
       kannst du das noch einscannen?“ Und ich so: „Gleich, mein Schatz, bin hier
       gerade in einer Videokonferenz.“ Und dann habe ich es doch erst am nächsten
       Tag geschafft und manchmal, tja, auch vergessen.
       
       Zweiter Impuls: Nachfrage. „Sag mal, hast du neulich eine Sechs bekommen?“
       Hat er. In Bio. Weil er die Aufgabe zu spät abgegeben hatte. Dritter
       Impuls: Wut. Gepfefferte E-Mail aufgesetzt. Tenor: Kannjawohlnichtwahrsein!
       „Fühle mich von der Schule und meinen Sohn unter Druck gesetzt, das
       Internet schwächelt, kein Endgerät und überhaupt: Videokonferenzen wären
       auch mal schön.“ Die anderen Eltern gleich in cc gesetzt und abgeschickt.
       
       Am nächsten Abend kommt ein Anruf der Lehrerin. Wieso ich die Mail gleich
       an alle Eltern schicken musste, man gebe sich solche Mühe, stehe mit allen
       Schülern in Kontakt, und wegen der Videokonferenzen: Man soll den Lehrern
       doch einfach ein wenig mehr Zeit geben. „Sehen Sie“, sage ich, „Sie den
       Schülern aber auch. Ich verteile ja auch keine Sechsen.“ Wir telefonieren
       noch eine halbe Stunde und erzählen uns, wie außergewöhnlich die Lage ist
       und wie belastet wir jeweils sind.
       
       Vierter Impuls: Reue. Die Frau ist am Limit, merke ich. Dann legen wir auf.
       Wir müssen schließlich an diesem Abend beide noch arbeiten. Anna Lehmann
       
       24 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gaby Coldewey
   DIR Erik Irmer
   DIR Anna Klöpper
   DIR Bert Schulz
   DIR Anna Lehmann
       
       ## TAGS
       
   DIR Homeschooling
   DIR Protokoll Arbeit und Corona
   DIR Schule und Corona
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schule und Corona
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF)
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Familienpsychologe über den Lockdown: „Was will das Kind kommunizieren?“
       
       Am Montag beginnt in Berlin wieder das Homeschooling. Psychologe Thilo
       Hartmann warnt vor dem elterlichen Anspruch, alles kontrollieren zu wollen.
       
   DIR Lockdown in der Flüchtlingsunterkunft: Schulkinder ohne Anschluss
       
       Rafaela kann nur nachts lernen. Drittklässlerin Mina vergisst ihr Deutsch.
       Die Bildung vieler geflüchteter Kinder bleibt auf der Strecke.
       
   DIR Homeoffice für Bürotätigkeiten: Oft längst eingeführt
       
       Nach den neuen Coronaregeln müssen Arbeitgeber das Arbeiten zu Hause
       ermöglichen. Einige tun das sowieso schon, aber die Verbände wehren sich.
       
   DIR Soziologe über die Kinder-Notbetreuung: „Vorrang für ärmere Familien“
       
       Wer sollte in die Notbetreuung von Kitas und Schulen kommen und wer nicht?
       Der Soziologe Hauke Brunkhorst fordert ein Eingreifen der Politik.
       
   DIR Diskussion um Schulöffnungen und Abitur: Erstmal Ferien machen
       
       Berliner Schulleiterverbände sind gegen eine schnelle Öffnung im Lockdown.
       Die Abiturfrage soll diese Woche entschieden werden.
       
   DIR Flüchtlingskinder im Homeschooling: Digitales Lernen ausgeschlossen
       
       Homeschooling ist für Flüchtlingskinder besonders hart: Nur wenige haben
       Computerzugang, viele Heime noch immer kein oder zu schwaches Internet.