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       # taz.de -- Über Sex reden nach dem Tod des Partners: Das doppelte Tabu
       
       > Warum spricht eigentlich nach einem Trauerfall niemand über den Verlust
       > von Intimität? Diese Form der Trauer ist überhaupt nicht anerkannt.
       
   IMG Bild: Trauer zeigt sich in vielen Facetten, aber über manche wird nicht geredet
       
       Warum spricht eigentlich niemand über Sex, wenn’s um Trauer geht? Diese
       Frage habe ich mir nach dem Tod meines Ex-Freundes ständig gestellt. „Ich
       war dir nah. Kannte deine Arme, deine Beine, deine Brust. Dein schöner
       Körper im Feuer“, schrieb ich ein paar Tage nachdem wir seine Urne beerdigt
       hatten, auf einen der zahllosen Notizzettel von damals. Diese Art der
       Trauer war so anders als die Trauer, die ich kannte. Es fühlte sich an, als
       wäre die plötzliche Nichtexistenz seines Körpers in meinen Körper
       übergegangen, ich trug eine bleierne Taubheit in mir, die ich fast zwei
       Jahre lang nicht mehr loswurde.
       
       Die U.S.-amerikanische Psychologin Alice Radosh [1][nennt dieses Phänomen
       „sexual bereavement“] – die Trauer über den Verlust der sexuellen
       Intimität. „Ich war nicht vorbereitet auf den Schock und die Schwere dieser
       Trauer. Sie fühlte sich [2][grundlegender an als der Verlust gemeinsamer
       Aktivitäten] wie Konzertbesuche und Kanufahren. Das waren Dinge, die wir
       zusammen getan hatten. Hier ging es darum, wer wir zusammen gewesen waren“,
       schreibt sie in ihrem Essay „Taboo times two“ über den Tod ihres Mannes,
       mit dem sie über 40 Jahre verheiratet war.
       
       Wenn sie versuchte, mit ihren Freund*innen darüber zu sprechen, stieß die
       über 70-Jährige auf pikiertes Schweigen. Auch Bücher halfen nicht weiter:
       „Ich machte mich auf die Suche nach einer Bestätigung, dass meine Gefühle
       nicht unangebracht waren. Ich las die Klassiker von Joan Didion und Joyce
       Carol Oates über den Tod ihrer Ehemänner. In zusammengenommen fast 700
       Seiten fand ich keinen Hinweis auf die Trauer um ihre körperliche
       Beziehung, wie ich sie erlebte. Die unausgesprochene Botschaft, die mir
       entgegenschlug, lautete: Über Sex spricht man nicht.“
       
       ## Eine Form, die nicht anerkannt ist
       
       Daraufhin [3][führte Radosh eine Studie unter Frauen durch], die 55 Jahre
       und älter waren. Das Ergebnis: Mehr als 70 Prozent der Befragten glaubten,
       dass sie Sex mit ihrem Partner vermissen würden. Fast ebenso viele würden
       über diese Gefühle mit vertrauten Menschen sprechen wollen. Gleichzeitig
       gaben über die Hälfte an, dass es ihnen nicht in den Sinn käme, das Thema
       bei einer trauernden Freund*in anzusprechen.
       
       Wie krass muss das Schweigen sein, wenn man einen Menschen verliert, mit
       dem man nicht nur sein ganzes Leben, sondern auch sein gesamtes Intimleben
       verbracht hat? Radosh spricht hier von „entrechteter Trauer“. Eine Form der
       Trauer, die nicht anerkannt ist, und die – weder privat noch öffentlich –
       thematisiert werden darf. Ich hatte mit meinem Ex-Freund keine 40-jährige
       Beziehung.
       
       Er war nicht der erste und nicht der letzte Mensch, mit dem ich in meinem
       Leben geschlafen habe. Und trotzdem quälte mich dieser körperliche Verlust.
       Darüber sollten wir sprechen. Laut und deutlich. Der Tod hat etwas mit
       unseren Körpern zu tun. Es sind unsere Körper, die kalt und leblos werden,
       dieselben Körper, mit denen wir lieben. Let’s talk about sex. And death.
       Baby.
       
       25 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28024674/
   DIR [2] https://www.nytimes.com/2017/03/06/well/when-a-partner-dies-grieving-the-loss-of-sex.html
   DIR [3] https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1016/j.rhm.2016.11.005
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Caroline Kraft
       
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