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       # taz.de -- Ein Fußballrelegationsduell als Buch: Ein Spiel wie ein Beben
       
       > Es ist ein Buch über nur ein Relegationsduell zwischen Nürnberg und
       > Ingolstadt und doch erzählt der Autor fast alles über den Fußball.
       
   IMG Bild: Vor Glück am Boden: der Nürnberger Enrico Valentini nach überstandenem Ausscheidungsduell
       
       Es gibt so Spiele. Spiele, die den geneigten, gern parteiischen Zuschauer
       nachhaltig erschüttern. Spiele, die das Erlebnis Fußball auf den
       dramatischen Punkt bringen. Entgegen landläufiger Meinung sind solche
       Spiele meist keine Endspiele, sondern Entscheidungsspiele unterer Art:
       Spiele gegen den Abstieg (wer es auch nur aus den Augenwinkeln verfolgt
       hat, wird sich ewig an Leverkusen – Lautern von 1996 erinnern), und,
       seitdem es sie, Fußballgott sei Dank, wieder gibt, Relegationsspiele.
       
       Hertha oder der HSV haben solche Spiele erlebt, Bielefeld – Darmstadt war
       eine solche Begegnung, und im Coronajahr 2020 hat es auch eines dieser ganz
       besonderen Spiele gegeben, vielleicht sogar eins, das auch wegen Corona
       eine Spur besonderer war als andere. Ja, wir sprechen von der
       Zweitliga-Relegation 1. FC Nürnberg (kurz: „der Club“) gegen den FC
       Ingolstadt 04 (kurz: „die Schanzer“); trotz der geografischen Nähe kein
       besonderes Zusammentreffen eigentlich; denn der traditionsbeladene Club und
       die Audi-gepäppelten Schanzer bewegen sich seit jeher in anderen Sphären –
       zu unterschiedlich, um eine spezielle Rivalität aufgebaut zu haben, und
       nicht unterschiedlich genug, um eine solche an sich mitzubringen. Was sich
       seit diesem Sommer geändert haben könnte.
       
       Nun ist das Buch zum Spiel erschienen, nämlich [1][„Fußball als
       Nahtoderfahrung“], erstellt, moderiert, geschrieben vom
       Zeit-Online-Sportjournalisten Oliver Fritsch, und als solches gut
       parteiisch auf Seiten des Club. Ein Buch rund um ein einziges Spiel, was
       Unbeteiligte erst einmal verblüffen mag. Aber dieses Buch macht klar: Das
       war nicht nur irgendein Spiel. Sondern ein symptomatisches. Ein
       nachhallendes. Ein Spiel wie ein Beben. Und es kann, es sei denn, man ist
       Fan vom FC Bayern, jeden treffen.
       
       „Meine Frau hat noch Tage später geweint, wenn sie von Ingolstadt sprach
       oder auch nur daran dachte. Vor Rührung, aus Schock. Sie und ich wurden von
       sozial inadäquatem Verhalten heimgesucht. Ich führte Selbstgespräche, ohne
       es zu merken. Sie kicherte ohne Anlass.“
       
       ## Gen des Scheiterns
       
       Wir erinnern uns: Nach einem 2:0 im Hinspiel und einem 0:0 in der Pause des
       Rückspiels sah der Zweitligist Nürnberg wie der sichere Sieger im
       Gesamtergebnis aus. Ehe Ingolstadt drei Tore aus Standards hinlegte, und
       alles auf den Kopf stellte. Bis dann die sechste Minute der Nachspielzeit
       anbrach …
       
       [2][Nun hat der Club normalerweise das Gen des Scheiterns in seiner DNA],
       jedenfalls der Club der Neuzeit. Absteiger als Meister, Absteiger als
       Pokalsieger, Rekordabsteiger, Phantomtor-Benachteiligter, you name it. „Wir
       sind Club-Fans. Für uns ist nie etwas safe, daher ließen wir uns durch den
       2:0-Sieg im Hinspiel nicht täuschen.“ Nur diesmal lief in letzter Minute
       alles anders, und vom ungläubigen Staunen, von dieser traumatischen
       Gesamterfahrung erzählt „Fußball als Nahtoderfahrung“.
       
       Das lustigerweise in Fürth erschienene Buch ist gut strukturiert in
       einzelne Gastbeiträge (ja, auch vom Gegner Ingolstadt gibt es Stimmen), die
       in ein fortlaufendes Gespräch zwischen Fritsch und seinem Freund, Club-Fan
       und Gesprächspartner Roland Wittner geschnitten sind. Alle Stationen,
       sämtliche Aspekte dieses ganz besonderen Spiels, aber auch alle Aspekte des
       modernen, neoliberalen Fußballs werden untersucht, beleuchtet, erzählt.
       Auch die Kreisligafreunde werden bedient, und zwar nicht zu knapp.
       
       Es ist ein kurzweilig erzähltes Buch, und ein echtes Fußballbuch, das umso
       erstaunlicher wird, beguckt man sich noch mal die Umstände: Coronajahr,
       Geisterspiele, eine Saison, die bis in den August hinein ging, ein Spiel
       zwischen einem, sorry, lange abgehalfterten Traditionsverein und dieser
       neuzeitlichen Neugründung eines Quasi-Werkclubs aus einer Satellitenstadt
       Münchens. Wer Fußballfantum noch nie verstanden hat, wird hinsichtlich der
       geschilderten Dramatik vielleicht immer noch den Kopf schütteln. Wer
       Ähnliches schon mal erlebt hat, wird sich bestens gespiegelt sehen. Der
       Rest wird aufs Beste unterhalten – und bekommt Einblicke auch „hinter die
       Kulissen“, Stichworte Fußballfamilien, Angestelltenwelt,
       Trainerpsychologie, Abgrund zwischen 2. und 3. Liga, Dorfdisko,
       Provinzvereine, Fußballdeutschland. Ein echter Gewinn.
       
       Und bitte, wer das alles noch mal nachfühlen möchte, sollte sich die
       entsprechenden Szenen auf Youtube angucken.
       
       26 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.starfruit-publications.de/buecher/oliver-fritsch/
   DIR [2] /Misere-beim-1-FC-Nuernberg/!5220510
       
       ## AUTOREN
       
   DIR René Hamann
       
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