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       # taz.de -- Prozess um den Mord an Walter Lübcke: Kampf um die Wahrheit
       
       > Seit Monaten kommt Irmgard Braun-Lübcke in den Saal 165. Sie hofft auf
       > ein hartes Urteil gegen die Mörder ihres Mannes – und könnte enttäuscht
       > werden.
       
   IMG Bild: Irmgard Braun-Lübcke in Begleitung ihrer Söhne betritt den Gerichtssaal im November 2020
       
       Seit Monaten sitzen sie nur wenige Meter voneinander entfernt, blicken sich
       direkt an, über Stunden. Im Saal 165 des Oberlandesgerichts Frankfurt am
       Main. Links des Vorsitzenden Richters Thomas Sagebiel ist der Platz von
       Irmgard Braun-Lübcke, neben sich ihre beiden Söhne Christoph und
       Jan-Hendrik. Und rechts, von den Lübckes nur durch die Anklagebank
       getrennt, sitzt Stephan Ernst.
       
       Es ist der Mann, der Walter Lübcke, den Ehemann von Irmgard Braun-Lübcke,
       den Vater von Christoph und Jan-Hendrik, auf einer Bürgerversammlung
       beschimpfte, weil er für Geflüchtete eintrat. Der das Haus der Lübckes im
       kleinen Istha bei Kassel über Jahre hinweg ausspähte. Und der in der Nacht
       vom 1. Juni 2019 auf die Terrasse trat und Walter Lübcke, der dort rauchend
       und in sein Tablet vertieft saß, tötete. Mit einem Kopfschuss, von der
       Seite, aus gut einem Meter Entfernung.
       
       Man sieht Irmgard Braun-Lübcke und ihren Söhnen die Belastung an, die ihnen
       diese Tage im Gerichtssaal bereiten. Wie sie jedes Mal, dunkel gekleidet,
       hintereinander langsam in den Saal schreiten, einer Prozession gleich. Wie
       sie sich mit versteinerten Gesichtern Notizen machen. Wie sie in den Pausen
       stumm und kerzengerade hinter ihren Stühlen stehen und sich an den Lehnen
       festhalten. Wie sie sich bei ihren Zeugenaussagen zusammennahmen, um
       möglichst präzise zu antworten, und doch mit den Tränen ringen.
       
       Und wie sie immer wieder Stephan Ernst fixieren, den [1][Hauptangeklagten].
       
       Fast keinen der 44 Prozesstage hat die Familie verpasst. Einmal muss sie
       nun noch in den Saal. Am Donnerstag, wenn das Urteil fällt, über Stephan
       Ernst, einen 47-jährigen Rechtsextremisten aus Kassel, und über einen
       zweiten Angeklagten, der mit im Saal sitzt, Markus H. Ein Tag, der für die
       Familie zu einer bitteren Enttäuschung werden könnte.
       
       ## Seit Juni 2020 läuft der Prozess
       
       Seit Juni 2020 wurde in dem Gericht gegen Stephan Ernst und Markus H.
       verhandelt. In einem holzvertäfelten Saal mit getrübten Fenstern und hoher
       Decke, die Zuschauer hinter einer Glaswand, auf der Empore die Presse. 53
       Zeugen und neun Sachverständige wurden befragt. Und dennoch ist am Ende so
       wenig klar wie selten in einem Strafprozess. Geht es nach den Verteidigern
       von Stephan Ernst, war der Tod Lübckes nicht einmal ein Mord. Sie
       [2][plädieren auf Totschlag]. Das wird wohl nicht verfangen.
       
       Aber es gibt andere ungeklärte Fragen, trotz der 44 Prozesstage: Schoss
       Stephan Ernst wirklich allein? Gibt es Mitwisser? Verübte Ernst noch mehr
       Taten? Und, über den Prozess hinaus: Hat die Gesellschaft ausreichend
       reagiert?
       
       Im Saal 165 ist die größte offene Frage: Welche Rolle spielte der zweite
       Angeklagte, [3][Markus H].? Ein beleibter, alleinstehender Leiharbeiter,
       auch er ein Rechtsextremist. Er lernte Stephan Ernst schon vor zwanzig
       Jahren in der Kasseler Kameradschaftsszene kennen, traf ihn 2011 auf der
       Arbeit wieder, bei einem Kasseler Bahntechnikhersteller. Mit Ernst besuchte
       H. fortan AfD-Demos und absolvierte Schießübungen, im Schützenverein und im
       Wald. Ermittler fanden bei ihm etliche Waffen und reihenweise
       NS-Devotionalien, darunter eine Zyklon-B-Dose als Stifthalter.
       
       Anders als Ernst, der blass und mit eingefrorener Miene den Prozess über
       sich ergehen lässt, verfolgt Markus H. das Verfahren wie ein Unbeteiligter,
       betont selbstsicher, plaudernd mit seinen Verteidigern, zwei Szeneanwälten
       – und immer wieder grinsend. Ein Grinsen, das Irmgard Braun-Lübcke in ihrer
       Zeugenaussage „verletzend“ nennt. „Nicht nur für uns, für alle hier.“
       
       ## Wie schuldig ist Markus H.?
       
       Die Sache ist nur: Bei Stephan Ernst ist klar, dass er an der Tötung von
       Walter Lübcke beteiligt war. Seine DNA-Spur fand sich auf dem Hemd von
       Lübcke und an der Tatwaffe, einem Rossi-Revolver. Er hat die [4][Tat
       gestanden]. Von Markus H. aber gibt es keine DNA-Spur, keine handfesten
       Beweise für seine Anwesenheit am Tatort. Und der 44-Jährige schweigt
       beharrlich.
       
       Die Anklage glaubt, dass Markus H. seinen früheren Kumpel immerhin in
       seinem Mordplan bestärkte, mit den Schießübungen und Demobesuchen. Das
       Gericht glaubt nicht mal mehr das: Es entlässt H. schon im Oktober aus der
       Untersuchungshaft. Es gebe keinen dringenden Tatverdacht mehr.
       
       Die Lübckes aber glauben, dass Markus H. mit auf ihrer Terrasse stand, als
       Walter Lübcke erschossen wurde. Dass auch er ein Mörder ist.
       
       Es ist die Version, die Stephan Ernst erzählt, inzwischen jedenfalls. Alles
       habe am 14. Oktober 2015 begonnen, auf einer [5][Bürgerversammlung in
       Kassel-Lohfelden. Walter Lübcke] informierte dort über die Eröffnung einer
       Asylunterkunft, Ernst und Markus H. saßen hinten im Saal. Als Pöbler den
       CDU-Politiker wiederholt störten, entgegnete der: „Es lohnt sich, in
       unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten, und wer diese
       Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen.“ Ernst
       schrie dazwischen: „Ich glaub’s nicht! Verschwinde!“ Und Markus H. filmte,
       stellt den Ausschnitt noch am Abend ins Netz, mit dem Verweis: „Politiker
       ohne Maske“. Das Video löste wüste Hasspostings gegen Lübcke aus.
       
       Stephan Ernst, so sagt er es im Prozess, ließ dieser Abend nicht mehr los.
       Über Jahre habe er sich in einen Hass auf Lübcke hineingesteigert, immer
       wenn die Asyldebatte wieder hochkochte. Zur Kölner Silvesternacht, beim
       Anschlag von Nizza, bei der Ermordung zweier Däninnen durch Islamisten in
       Marokko. Schließlich habe er das Haus der Lübckes in Istha ausgespäht, mal
       alleine, mal mit Markus H., auch mal mit Wärmebildkamera. Und dann seien
       sie zu zweit am 1. Juni 2019 auf die Terrasse getreten.
       
       Markus H. sei von vorne gekommen, er selbst von der Seite. „Zeit zum
       Auswandern“, habe H. gesagt. Lübcke habe sich aufrichten wollen, Ernst ihn
       zurück auf den Gartenstuhl gedrückt. Daher die DNA-Spur. Ernst will
       gezischt haben: „Für so was wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten.“ Lübcke
       habe noch geantwortet: „Verschwinden Sie!“ Dann habe Ernst abgedrückt.
       
       Stephan Ernst schildert diesen Ablauf erst über eine Erklärung seines
       Verteidigers, dann spricht er selbst, monoton und gedrückt. Es ist kaum zu
       durchdringen, welche Gefühle er dabei wirklich hat. Und immer wieder
       belastet er Markus H. Dieser habe ihn „aufgehetzt“, immer wieder Waffen ins
       Spiel gebracht, vor einem Bürgerkrieg gewarnt, zum Schießen auch einmal
       eine Zielscheibe mit dem Bild Angela Merkels mitgebracht. Und er habe
       erklärt, Lübcke sie jemand, an den man rankomme.
       
       Markus H. reagiert kühl auf die Aussagen. Seinen früheren Freund würdigt er
       keines Blickes. Aus den Kameraden sind Feinde geworden. Ernst aber
       beteuert, den Mord zu bereuen. „Es tut mir leid“, schluchzt er. Und sein
       Verteidiger verspricht der Familie, dass Ernst auf Lebenszeit ihre Fragen
       zur Tat beantworten werde. „Das gilt unbefristet und unwiderruflich.“
       
       ## Die drei Versionen des Hauptangeklagten
       
       Das Problem ist nur: Es gibt noch [6][zwei weitere Versionen] von Ernst zu
       dem tödlichen Schuss. Die erste schildert er kurz nach seiner Festnahme,
       zwei Wochen nach der Tat. Damals sagt er den Ermittlern, er allein habe den
       CDU-Politiker erschossen. Dann aber wechselt Ernst den Anwalt, lässt sich
       nun von dem Pegida-nahen Frank Hannig vertreten und zieht das Geständnis
       zurück. Jetzt behauptet er: Markus H. habe geschossen. Man sei zu zweit vor
       Ort gewesen, der Schuss habe sich „versehentlich“ gelöst. Bis Ernst sich im
       Prozess von Hannig abwendet – und seine Version Nummer drei präsentiert:
       die mit mit beiden Männern am Tatort, aber ihm als Schützen. Zurück bleibt
       die Frage: Welche dieser Versionen stimmt?
       
       Schon vor Prozessbeginn erklärt die Familie Lübcke, sie wolle die volle
       Wahrheit, vor allem über die letzten Sekunden ihres Mannes und Vaters. Und
       eine „gerechte Strafe“ für diejenigen, die Walter Lübcke „auf dem Gewissen“
       hätten. Im Gerichtssaal appelliert Irmgard Braun-Lübcke an die beiden
       Angeklagten, Aussagen zu machen. „Helfen Sie wenigstens so!“ Auch der
       Richter Thomas Sagebiel sagt: „Hören Sie nicht auf Ihre Anwälte, hören Sie
       auf mich!“ Eine Aussage sei „Ihre beste Chance, vielleicht Ihre einzige
       Chance“.
       
       Aber Markus H. bricht auch danach sein Schweigen nicht. Stephan Ernst
       jedoch sagt aus. Nur ist es nicht klar, ob man ihm auch glauben kann. Denn
       von seinen drei Geständnissen sind zwei offensichtlich frei erfunden. Und
       auch nach früheren Taten gab er sich vor Gericht reuig – und schlug danach
       weiter zu.
       
       Schon als 16-Jähriger hatte er versucht, ein von Migranten bewohntes Haus
       in Brand zu setzen. Später stach er einen türkischen Imam nieder, zündete
       eine Rohrbombe in einem Auto vor einer Asylunterkunft – und wanderte ins
       Gefängnis. Auch danach mischte Ernst weiter bei der NPD und Kasseler
       Kameradschaften mit – wo er Markus H. traf. Erst 2009 will sich Ernst
       zurückgezogen haben, in ein Haus mit Spitzgiebel in Kassel-Lohfelden, sich
       besinnend auf seine Frau und seine zwei kleinen Kinder.
       
       Aber den Ausstieg hat es nie gegeben. Ernst besuchte auch danach noch eine
       rechtsextreme Sonnenwendfeier und spätestens ab 2016 AfD-Demos oder einen
       rechten Großaufmarsch in Chemnitz. Und schließlich, im Oktober 2015, die
       Bürgerversammlung von Walter Lübcke in Lohfelden.
       
       Irmgard Braun-Lübcke und ihre Söhne lassen im Prozess keinen Zweifel daran,
       dass sie den damaligen Auftritt ihres Mannes und Vaters bewundern. Walter
       Lübcke sei seinem christlichen Menschenbild gefolgt, sagt seine Witwe. Es
       sei für ihn selbstverständlich gewesen, geflüchteten Menschen zu helfen.
       Auch Jan-Hendrik, der jüngere der Söhne, der seinen sterbenden Vater als
       Erster auf der Terrasse fand, betont, sein Vater habe „Werte hochgehalten“.
       Wo dieser aber sonst immer lebensmunter und unbesorgt auftrat, sei er nun
       erstmals beunruhigt gewesen über den Hass, habe politische Rückendeckung
       vermisst.
       
       Im Prozess erzählte die Familie, dass sie nach dem Mord ganz bewusst nicht
       aus Istha weggezogen sei. Um nicht nachzugeben. Sie lebt weiter im gleichen
       Haus, die Witwe im Erdgeschoss, Jan-Hendrik mit seiner Familie oben. Die
       Söhne gehen ihrer Arbeit in einer Solarfirma nach. Die Mutter ist
       pensionierte Lehrerin. Und doch ist alles anders. „Das Haus ist nicht mehr
       das Haus. Das Leben ist nicht mehr das Leben“, sagt Irmgard Braun-Lübcke,
       die 40 Jahre mit ihrem Mann verheiratet war. „Er fehlt uns unendlich.“
       Jan-Hendrik sagt, der Mord habe die Familie „innerlich zerrissen“. „Wir
       werden niemals damit fertig werden, was unserem Vater angetan wurde.“ Es
       sind diese Momente, in denen die Contenance der Familie vor Gericht bricht.
       
       Ihr Anwalt Holger Matt hakt immer wieder bei Stephan Ernst nach. Wie genau
       liefen die Ausspähungen? Wann war Markus H. dabei? Wann entschieden die
       Männer, dass Walter Lübcke sterben müsse? Wie sahen die letzten Sekunden
       auf der Terrasse aus? Stephan Ernst antwortet auf jede Frage, beteuert, nun
       „die volle Wahrheit“ zu sagen. Am Ende wendet sich Irmgard Braun-Lübcke
       selbst an ihn: „Ist es wirklich wahr, dass mein Mann in der letzten Sekunde
       seines Lebens in das Gesicht von Markus H. geschaut hat?“ Ernst zögert
       nicht: „Ja.“ – „Wirklich?“ – „Ja.“
       
       Die RichterInnen aber glauben das nicht. Als sie Markus H. im Oktober aus
       der Untersuchungshaft entlassen, tun sie die Schilderungen von Ernst zur
       Tatbeteiligung von H. als „äußerst detailarm“, widersprüchlich und „nicht
       glaubhaft“ ab.
       
       Auch die Bundesanwaltschaft hält in ihrem Plädoyer eine Anwesenheit von
       Markus H. am Tatort für nicht nachweisbar. Es bleibe bei der psychischen
       Beihilfe. Die Forderung: neun Jahre und acht Monate Haft. Und für Stephan
       Ernst die Höchststrafe, lebenslange Haft mit anschließender
       Sicherungsverwahrung.
       
       ## Der Kampf von Familie Lübcke
       
       Aber die Lübckes kämpfen dafür, dass beide Männer als Mörder verurteilt
       werden, dass beide lebenslange Haft bekommen. Die Familie macht klar, dass
       sie Ernst inzwischen glaubt. Je länger und freier dieser im Prozess
       ausgesagt habe, desto glaubwürdiger wurde, dass es wirklich beide Männer am
       Tatort waren, sagt Matt. „Wir glauben, dass Herr Ernst uns die Wahrheit
       gesagt hat.“ Ein Strafprozess, in dem die Opfer mit Vehemenz für die
       Glaubwürdigkeit des Täters eintreten – auch das ist selten.
       
       Immer wieder hat Matt Anträge gestellt, um eine Doppeltäterschaft
       nachzuweisen. Das Gericht sollte die Handakte von Ex-Verteidiger Hannig
       beschlagnahmen, es sollte nach weiteren DNA- und Schmauchspuren auf
       Terrassenmöbeln suchen. Die Familie ließ im September sogar die beiden
       Verteidiger von Ernst, Mustafa Kaplan und Jörg Hardies, zu sich auf die
       Terrasse, damit diese den Tatort angucken können.
       
       Und Matt listet im Prozess 30 Indizien auf, die nach Sicht der Familie
       dafür sprechen, dass Markus H. direkt in den Mord involviert war. Er habe
       die Waffen ins Spiel gebracht, Christoph Lübcke habe ihn bei einer
       Ausspähung erkannt, H. habe nach der Tat sofort seine Threema-Nachrichten
       mit Ernst gelöscht. Auch habe Ernsts Frau in der Tatnacht zwei Autos vor
       ihrem Haus vorfahren hören. Und bei Markus H. fand sich ein Buch, in dem
       Lübcke auftauchte, orange angemarkert. „Alles Zufall?“, fragt Matt. „Nein!“
       
       Die Verteidiger von Markus H. kritisieren in ihrem Plädoyer das „herzliche
       Einvernehmen“ der Hinterbliebenen mit dem Täter, legen gar nahe, diese
       litten an einem „Stockholm-Syndrom“. Gemeinsam werde versucht, Markus H.
       mit in den Mord hineinzuziehen. Alles, was vorliege, seien aber „bloße
       Behauptungen“ ohne Substanz. Stephan Ernst sei ein notorischer Lügner und
       seit jeher ein gewalttätiger Rechtsextremist – eine Radikalisierung von
       außen habe es gar nicht gebraucht. Er habe den Mord allein geplant und
       ausgeführt. Die Anwälte fordern einen Freispruch für ihren Mandanten – und
       eine Haftentschädigung. Markus H. erhebt da, ganz am Ende, doch noch einmal
       kurz das Wort. „Nicht alles, was hier gesagt wurde, hat zur Aufklärung
       beigetragen“, sagt er knapp. Dann schweigt er wieder.
       
       Es könnte sein, dass Markus H. damit durchkommt. Hätte das Gericht vor, ihn
       zu einer langjährigen Haftstrafe zu verurteilen, müsste es ihn eigentlich
       wieder in Untersuchungshaft nehmen. Wollte es ihn gar als Mitmörder
       verurteilen, bräuchte es zuvor einen rechtlichen Hinweis. Beides ist bisher
       nicht erfolgt. Einzig für einen Waffenverstoß könnte Markus H. verurteilt
       werden, weil er eine „Dekowaffe“, eine Maschinenpistole, nicht ausreichend
       schussunfähig gemacht hatte – eine Lappalie. Gut möglich, dass der Neonazi
       auch am Urteilstag wieder einmal grinsen wird. Für die Familie Lübcke wäre
       das eine Demütigung.
       
       Und es könnte noch bitterer werden. Denn Verteidiger Mustafa Kaplan fordert
       auch für Stephan Ernst eine milde Strafe: ein „verhältnismäßiges, aber auch
       annehmbares Urteil“, ohne besondere Schwere der Schuld, ohne
       Sicherungsverwahrung. Dass die Tat kein Mord, sondern Totschlag sein soll,
       begründet Kaplan mit vermeintlich fehlenden Mordmerkmalen. Zum einen fehle
       es an Heimtücke, da Ernst und Markus H. Lübcke auf der Terrasse offen
       entgegengetreten seien. Zum anderen lägen auch keine niederen Beweggründe
       vor, da Ernst sich vor der Tat in einer „rechtspopulistischen Blase“ bewegt
       habe und deshalb fälschlich dachte, er handele im Allgemeininteresse.
       Zumindest Letzterem wird das Gericht wohl nicht folgen: Das Töten aus
       politischen Motiven zählt fast immer als niederer Beweggrund.
       
       Aber Kaplan erinnert Richter Sagebiel auch an seinen Appell zu
       Prozessbeginn: dass sich ein Geständnis lohnen werde. Und Stephan Ernst
       habe ja letztlich umfassend ausgesagt, sogar seine Verteidiger partiell von
       der Schweigepflicht entbunden. Er bereue die Tat, wolle den
       Rechtsextremismus mithilfe eines Aussteigerprogramms hinter sich lassen.
       „Alles, was Herr Ernst hätte machen können, hat er gemacht. Mehr geht
       nicht.“ Kaplans Appell: „Es braucht ein Signal, dass es sich am Ende lohnt,
       auszusagen.“
       
       Dabei ist nicht mal klar, ob es nicht sogar noch weitere Mitwisser gibt.
       Denn auch ein anderer Bekannter löschte nach dem Mord all seine
       Threema-Chats mit Stephan E: Alexander S., einst bei der NPD und den Freien
       Kräften Schwalm-Eder aktiv. Auch er absolvierte Schießtrainings, stand am
       Tattag noch mit Markus H. in Kontakt. Vor Gericht aber wiegelte Alexander
       S. ab: Vom Mord habe er nichts gewusst, in den Chats sei es nur um das
       Drechseln eines Bauteils gegangen.
       
       Oder Jens L., ein Arbeitskollege von Stephan E., der ihm Waffen abkaufte
       und Schmiere gestanden haben soll, als E. den Tatrevolver samt anderer
       Waffen auf dem Firmengelände vergrub. Auch Jens L. stritt das vor Gericht
       ab. Die Waffen will er nur als „Wertanlage“ erworben zu haben. Irmgard
       Braun-Lübcke hakte auch hierzu bei Stephan Ernst nach: Gab es weitere
       Mitwisser, außer Markus H.? Ernst verneinte: „Es gab keine andere Person.“
       Aber auch hier: Kann man ihm glauben?
       
       ## Ungeklärt: Der Angriff auf Ahmed I.
       
       Offen bleibt auch, ob Ernst nicht noch weitere Taten begangen hat. Denn es
       gibt ein zweites Opfer, das im Saal 165 sitzt: [7][Ahmed I.], ein
       27-jähriger Musiker aus dem Irak, 2015 nach Deutschland geflohen. Ihn soll
       Stephan E. bereits am 6. Januar 2016 in Kassel [8][von hinten mit einem
       Messer niedergestochen] haben, aus Wut über Berichte von der Kölner
       Silvesternacht.
       
       „Mein Leben wurde hier zerstört“, sagt Ahmed I. im Prozess, ein gepflegter
       Mann mit gedämpfter Stimme. Er leide bis heute unter Rückenschmerzen, ein
       Bein sei taub, manchmal könne er bis in die Morgenstunden nicht schlafen.
       Und Ahmed I. erinnert sich, dass er die Ermittler früh auf ein mögliches
       rassistisches Motiv hinwies. Die standen damals tatsächlich vor der Tür von
       Ernst, mehr aber folgte nicht. Erst nach dem Mord an Walter Lübcke hatten
       sie auf Ahmed I.s Bitte hin das Haus von Ernst noch einmal durchsucht – und
       ein Messer mit DNA-Fragmenten von Ahmed I. im Keller gefunden.
       
       Aber die Sache ist nicht ganz klar. Die DNA-Spur ist nicht eindeutig
       identifizierbar, Ernst bestreitet die Tat, seine Anwälte fordern hier einen
       Freispruch. Alexander Hoffmann, Anwalt von Ahmed I., hält die DNA am
       Messer dagegen für ein schwerwiegendes Indiz, er verweist auf Ernsts
       früheren Messerangriff auf den Imam, eine Blaupause. Und er erinnert, wie
       Ernst selbst den Ermittlern erzählt hatte, just am 6. Januar 2016 einem
       „Ausländer“ in Kassel gedroht zu haben, man müsse ihm den Hals
       aufschneiden.
       
       Richter Sagebiel sagt aber auch hier zuletzt, man sehe den Anklagepunkt
       „kritisch“. Ahmed I. trat auch deshalb am Ende noch einmal selbst ans
       Mikrofon, bedankte sich vor allem bei der Bundesanwaltschaft, die ebenfalls
       eine Verurteilung für den Messerangriff fordert. „Das Urteil ist mir
       wichtig“, stellte er klar. „Ich hoffe, dass die Gerechtigkeit siegt und die
       Verbrecher bestraft werden.“
       
       Für Ahmed I. und die Lübcke-Familie geht der Kampf inzwischen aber über den
       Gerichtssaal hinaus. Der Iraker hat Unterstützer um sich geschart, die sich
       gegen Rassismus engagieren. Als Ahmed I. im Prozess seine Aussage macht,
       stehen sie mit einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude. Und sein Anwalt
       Hoffmann wirft den Ermittlern institutionellen Rassismus vor. Diese seien
       dem schwer verletzten Iraker mit Misstrauen begegnet, hätten seine Ängste
       nicht ernst genommen, ihn ohne Ankündigung zu Befragungen aufs Revier
       geholt, ob er wollte oder nicht. Es ist ein trübes Bild, das Hoffmann vom
       Umgang mit Opfern rassistischer Gewalt in diesem Land zeichnet.
       
       Und auch Holger Matt, der Anwalt der Lübckes, sonst sehr zurückgenommen,
       wird am Ende noch einmal bitter. Wie stehe es denn heute um den
       Rechtsstaat, für den Walter Lübcke eintrat, fragt er in seinem Plädoyer.
       Teile der Gesellschaft verfolgten eine „Hasspolitik“, manipulierten die
       öffentliche Meinung, nähmen Einzelne ins Visier. „Da fragt man sich: Wo ist
       der wehrhafte Staat?“ Die Hasspostings nach Lübckes Auftritt in Lohfelden?
       „Irgendwie hat’s keiner gemerkt.“ Zwei Rechtsextreme hantieren ungestört
       mit Waffen? „Kein Problem.“ Das Einreihen in Szeneaufmärsche? „Keiner
       kriegt’s mit.“
       
       Matt attestiert dem Verfassungsschutz im Fall Lübcke ein
       „Komplettversagen“. Aber auch Politik und Gesellschaft trügen eine
       Mitschuld. Weil PolitikerInnen wie Erika Steinbach den Hass gegen Lübcke
       mit anfeuerten. Weil AfD-Stammtische die Angeklagten bestärkten. Oder
       Arbeitskollegen nach der Tat meinten, Lübcke habe es verdient. „Das ist
       schrecklich“, sagte Matt. „Wir müssen uns dagegen wehren und deutlich eine
       Grenze ziehen.“
       
       Es ist ein Appell, den auch Irmgard Braun-Lübcke, Christoph und Jan-Hendrik
       Lübcke schon vor Prozessbeginn an die Öffentlichkeit richteten. Hass und
       Ausgrenzung seien Walter Lübcke fremd gewesen, sie dürften in der
       Gesellschaft keinen Platz haben, schrieben sie in einer Mitteilung. „Wir
       alle, die wir für unsere freiheitliche Demokratie eintreten, dürfen nicht
       verstummen, sondern müssen klar Position beziehen.“
       
       Es ist der zweite Kampf der Familie, der größere. Einer, der über das
       Urteil am Donnerstag hinausreicht – und doch bereits im Gerichtssaal
       beginnt. Als dort im September noch einmal das Video von Walter Lübcke auf
       der Bürgerversammlung gezeigt wird, reißt es Jan-Hendrik Lübcke aus der
       Beherrschtheit. Spontan greift er zum Mikro: „Ich bin stolz auf meinen
       Papa! Alles, was er gesagt hat, hat er richtig gesagt.“
       
       27 Jan 2021
       
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