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       # taz.de -- Reiseboykott für Ostdeutschland: Reisende, meidet Sachsen!
       
       > Vor 100 Jahren rief der Satiriker Tucholsky zum Reiseboykott für das
       > präfaschistische Bayern auf. Lässt sich das auf das heutige Sachsen
       > übertragen?
       
   IMG Bild: Dorfchemnitz in Sachsen 2017, wo rechte Wahlplakate besonders tief hängen
       
       Reisen bildet. Es stellt Vorurteile infrage und schafft im Idealfall ein
       besseres Verständnis für andere Kulturen. Aber kann auch gezieltes
       Nichtreisen die Welt zu einem besseren Ort machen? Kann also der
       Reiseverzicht, den uns die Pandemie aufnötigt, künftig als freie
       Entscheidung gegen bestimmte Regionen sinnvoll sein?
       
       Vor 100 Jahren, am 27. Januar 1921, veröffentlichte Ignaz Wrobel in der
       Wochenzeitschrift Die Weltbühne einen wütenden Artikel (heute würde man
       sagen: Rant), dessen Titel einschlug wie eine Bombe: „Reisende, meidet
       Bayern!“ Darin geht es um die restriktive bayerische Einreisepolitik, mit
       der Ministerpräsident Gustav von Kahr damals eine Sonderstellung Bayerns im
       Deutschen Reich behaupten wollte:
       
       „Sie verhängt über die Zureisenden Verordnungen und Strafen, schreibt den
       Reisenden eine Meldefrist vor, verlangt Einreisebewilligungen, die schwerer
       zu haben sind als ein Pass nach Nikaragua.“ Wrobel empfiehlt seinen Lesern:
       „Fahrt nicht mehr nach Bayern, wenn man euch schikaniert! Boykottiert es.
       […] Wollt ihr euer Geld Leuten in den Rachen werfen, die euch belästigen?“
       
       Ignaz Wrobel ist ein Pseudonym Kurt Tucholskys. Er nutzt es gern für
       beißende Kommentare, „weil mir der Name Ignaz besonders hässlich erschien,
       kratzbürstig und ganz und gar abscheulich“. Zugleich ist Ignaz Wrobel
       Tucholskys schärfste Waffe gegen den aufkeimenden Faschismus. Auch in
       seiner Reisewarnung geht es nur vordergründig um lästige Bürokratie.
       Eigentliches Thema ist das Bestreben von Kahr und seiner Bayerischen
       Volkspartei, [1][das Land zur protofaschistischen „Ordnungszelle“]
       auszubauen.
       
       Begonnen hatte die Transformation mit der blutigen Zerschlagung der
       Bayerischen Räterepublik am 1./2. Mai 1919 durch revanchistische
       Freikorps-Einheiten, die teilweise schon das Hakenkreuz auf den Helmen
       trugen.
       
       ## Wer konnte, floh
       
       Herbeordert hatte sie der abgesetzte sozialdemokratische Ministerpräsident
       Johannes Hoffmann mit Unterstützung der Reichsregierung unter Friedrich
       Ebert. Ergebnis: Mehr als tausend tote Revolutionäre auf den Straßen
       Münchens und insgesamt 520 Jahre Gefängnis für die überlebenden Köpfe der
       Räterepublik.
       
       Wer konnte, floh ins Ausland oder andere Teile des Reiches, andere wurden
       ausgewiesen – darunter die große Mehrzahl jener Schriftsteller, Maler und
       Theaterschaffenden, die seit der Jahrhundertwende Münchens Ruf als
       besonders freiheitliche Kulturstadt geprägt hatten.
       
       Ob avantgardistische Kunst, radikales Cabaret, freie Liebe oder offen
       gelebte Homosexualität – was man für die Zeit der Weimarer Republik
       hauptsächlich mit Berlin assoziiert, war in der Schwabinger Boheme schon
       vor dem Ersten Weltkrieg gelebte Realität gewesen. So wundert es nicht,
       dass die Revolution in München zwei Tage früher als in Berlin ausgerufen
       wurde – am späten Nachmittag des 7. Novembers 1918 vom anarchistischen
       Dichter Erich Mühsam und ein paar Stunden später von dessen
       USPD-Widersacher Kurt Eisner. Letzterer ließ sich auch gleich zum ersten
       Ministerpräsidenten des neuen Freistaats ausrufen und hatte dieses Amt
       inne, bis er am 21. Februar 1919 vom antisemitischen Attentäter Anton Graf
       von Arco ermordet wurde.
       
       Ersterer wurde zum Spiritus Rector der [2][Bayerischen Räterepublik],
       überlebte deren blutiges Ende nur, weil er zu diesem Zeitpunkt bereits in
       Haft saß, schrieb aus der Zelle heraus ebenfalls für Tucholskys Stammblatt
       Weltbühne und begab sich nach seiner Entlassung direkt nach Berlin.
       
       Münchens Ruf als Kulturstadt war schon dahin, als nach dem gescheiterten
       Putsch im März 1920 Gustav von Kahr Nachfolger Hoffmanns im Amt des
       Ministerpräsidenten wurde. Er hielt die völkischen Einwohnerwehren, die
       nach dem Putsch reichsweit aufgelöst wurden, in Bayern weiter am Leben und
       veranlasste Massenausweisungen von vormals aus Osteuropa eingewanderten
       Juden. 1923 wurde er zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen
       Vollmachten ernannt und rivalisierte fortan mit Adolf Hitler um die Führung
       des rechtsextremen Lagers, das München zur „Hauptstadt der Bewegung“
       gemacht hatte.
       
       ## Kein Herz, aber Geld
       
       Dass es Tucholsky mithin nicht allein um bürokratische Hürden, sondern um
       die antisemitische und fremdenfeindliche Stimmung in Bayern geht, wird in
       einem zweiten Artikel deutlich, der 1924 unter demselben Titel erscheint.
       Den Anlass bietet eine Kampagne bayerischer Fremdenverkehrsvereine und
       Hoteliers, die inzwischen gemerkt haben, dass mit den Reisenden auch die
       Einnahmen ausbleiben:
       
       „Ebenfalls sind die Gerüchte über die antisemitische Hetze kolossal
       übertrieben und wird besonders im hiesigen Gebiet von allen Teilen der
       Bevölkerung jegliche Garantie übernommen, dass die Besucher unsres
       Wintersportplatzes, sowohl auf Straßen und Plätzen wie in den Hotels,
       unbehelligt bleiben.“ Wrobels spöttischer Kommentar: „Ein Herz scheinen die
       deutschen Brüder da unten nicht zu haben. Aber ein Portemonnaie haben sie
       in den treudeutschen Hosen.“
       
       Ob Tucholsky wirklich glaubte, man könne die Tourismusregionen Bayerns
       mittels Reiseverweigerung finanziell in einem Maße schwächen, die zu einem
       echten Umdenken oder wenigstens zu einer zähneknirschenden Simulation von
       Weltoffenheit führen würde? Wenn ja, wurde er eines Besseren belehrt. Nicht
       nur die bayerische „Ordnungszelle“ radikalisierte sich weiter,
       [3][antisemitisches und rassistisches Gedankengut] flutete in den kommenden
       Jahren das ganze Land und brachte schließlich den Nationalsozialismus an
       die Macht.
       
       Doch auch wenn einbrechende Tourismuseinnahmen offenbar nicht genügen, um
       in regionalen Brutstätten des Rechtsextremismus einen Sinneswandel zu
       bewirken, kann es nicht doch sinnvoll sein, auf Reisen in solche Gegenden
       zu verzichten? Aktuell beispielsweise nach Sachsen?
       
       Zwar wird es viele potenzielle Urlauber fürs Erste ohnehin abhalten, dass
       sich Sachsen in den letzten Wochen zum pandemischen Hotspot entwickelt hat
       (nicht nur, aber sicher auch aufgrund der großen Schnittmenge zwischen
       Rechtsextremen und Coronaleugnern).
       
       Und für Schwarze, homosexuelle Paare oder Transpersonen dürfte diese
       Brutstätte der Pegida-Bewegung, mit ihren Reichskriegsflaggenspalieren an
       der Landstraße B96 und in Kreisen, in denen fast die [4][Hälfte der
       Bevölkerung AfD wählt], ohnehin ein eher exotisches Reiseziel sein. Aber
       solche Gäste braucht es anscheinend gar nicht für eine florierende
       Tourismusbranche, wie die meist überfüllten Wanderwege der Sächsischen
       Schweiz belegen.
       
       ## Warum fahrt ihr hin?
       
       Wäre es nicht höchste Zeit für jene Reisenden, die nicht qua Hautfarbe,
       Sexualität oder Geschlecht automatisch zum Ziel von Beleidigungen und
       Angriffen werden, die Scheuklappen abzunehmen? Zu realisieren, dass das
       Warenangebot der tschechischen Grenzmärkte neben billigen Zigaretten vor
       allem Nazi-Devotionalien, Kampfmesser, Schlagstöcke und rechte
       Szeneklamotten für die sächsischen Stammkunden bereithält? Den tätowierten
       Reichsadler auf dem Handgelenk der freundlichen Kellnerin zu bemerken, wenn
       sie einem den Sauerbraten hinstellt? Und den Schluss daraus zu ziehen, dass
       man sein Geld künftig lieber in anderen Gegenden ausgeben sollte? Schaden
       kann es sicher nicht.
       
       So wichtig es ist, dass die Kulturschaffenden dieses Landes nicht aufgeben,
       auf jeder kleinen sächsischen Bühne aufzutreten, die ein paar tapfere
       Menschenfreunde gegen alltägliche Anfeindungen mühsam aufrechterhalten, so
       fatal wäre es, den (Haken-)kreuz- und querdenkenden Menschenfeinden nebenan
       mittels Urlaubsreisen das Gefühl zu geben, sie seien noch akzeptabler Teil
       der Zivilgesellschaft.
       
       Rufen wir lieber mit Tucholsky: „Reisende, meidet Sachsen!“, und
       vergegenwärtigen wir uns dabei, dass dieses Sachsen größer ist als das
       gleichnamige Bundesland. Es reicht von den in doppelter Hinsicht weißen
       Stränden Usedoms über die verengten Horizonte der deutschen Mittelgebirge
       bis hinab nach Bayern, wo die einstige „Ordnungszelle“ in provinzieller
       „Mia san mia“-Arroganz auch heute noch Tucholskys Analyse bestätigt:
       
       „Wer nicht einen nationalen Bierbauch bayerischer Provenienz hat, ist ein
       ‚Fremder.‘“ Also, ob Vorpommern, Bayern oder Sachsen: „Warum fahrt ihr hin?
       Um euch belästigen zu lassen?“
       
       27 Jan 2021
       
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