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       # taz.de -- „Fabian“ am Berliner Ensemble: Geht nicht heraus aus dem Kopf
       
       > Die Premiere von Castorfs „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ im
       > Berliner Ensemble wurde mehrfach verschoben. Was das für die Beteiligten
       > bedeutet.
       
   IMG Bild: Probenfoto: v.l. Clara de Pin, Margarita Breitkreiz, Sina Martens, Frank Büttner
       
       „Ein Theater ohne Vorstellungen ist ein Geisterhaus“, sagt Amely Joana
       Haag. Ganz entgeistert ist das Berliner Ensemble derzeit nicht. Auf der
       großen Bühne laufen die Proben zur „Dreigroschenoper“. Auf den Gängen führt
       ein Kamerateam Interviews. Haag ist gemeinsam mit Sina Martens von den
       Proben zu „Anatomie eines Suizids“ von Alice Birch gekommen. Geplanter
       Premierentermin war der 27. Februar – Schall und Rauch jetzt auch diese
       Planung.
       
       Immerhin proben sie aber. Im Coronamodus natürlich. „Alle, die auf der
       Bühne stehen, also Schauspieler*innen und Kameraleute, aber auch die
       Mitarbeiter*innen in der Requisite, die engen Kontakt mit uns haben,
       werden alle zwei bis drei Tage getestet. Alle anderen bleiben auf Abstand,
       müssen Masken tragen und werden einmal die Woche getestet“, erzählt Sina
       Martens.
       
       Auch bei den [1][Proben zu Frank Castorfs „Fabian“] war das so. Martens
       ging vor dem Probenblock im November sogar in eine selbst gewählte
       Quarantäne. „Ich habe meine Kontakte außerhalb des Theaters auf null
       heruntergefahren. Ich bin extra aus meiner WG ausgezogen, damit ich frei
       proben konnte“, blickt sie zurück. Auch andere Ensemblemitglieder waren
       extra vorsichtig.
       
       Denn diese Castorf-Inszenierung wurde in großen Teilen bereits vor Corona
       erarbeitet, sollte im März 2020 herauskommen. Sie war auf Nähe gepolt, auf
       Anfassen, auf Emotion und damit auf Aerosole. „Als wir im November für den
       zweiten Premierentermin mit den Wiederaufnahmeproben begannen, haben wir
       diese Spielweise beibehalten. Wir hatten ja ganz engmaschige Tests, konnten
       deshalb die extreme körperliche Nähe zulassen“, meint Haag.
       
       Vorfreude auf die Premiere 
       
       Das ganze Ensemble hatte sich zu jenem Zeitpunkt sehr auf die Premiere
       gefreut. Denn sie hätte eine Konfrontation mit dem Leben, wie es früher
       war, bedeutet. „Man hat doch jetzt das Distanzhalten so verinnerlicht, dass
       dieses Castorf-Theater mit all seiner Körperlichkeit besonders provokativ
       gewirkt hätte“, meint Haag zur taz.
       
       Und auch Martens bedauert, dass die Inszenierung nicht wenigstens im
       November herausgekommen ist. Die Proben hat sie als besonders kostbar in
       Erinnerung: „Der Moment auf der Bühne, Tränen und Schweiß zu riechen – das
       war für mich einer der unglaublichsten Momente 2020. Etwas, was vorher sehr
       normal war für mich, hatte auf einmal ganz besondere Bedeutung.“
       
       Martens wie auch Haag haben beobachtet, dass „Fabian“ über die Monate noch
       an Bedeutung gewonnen hat. Im Roman „Fabian“ beschreibt Erich Kästner die
       Radikalisierung Deutschlands in den frühen 1930er Jahren, die Gewalt, den
       Hass, der in die politische Auseinandersetzung eingeströmt war. „In der
       Zwischenzeit, zwischen den ersten Proben im März und jetzt, ist ja so viel
       passiert. Es gab in Washington den Sturm auf das Kapitol, hier in Berlin
       diesen Sturm auf den Reichstag. Wir leben jetzt zwar in 2021, die Zeiten
       sind nicht die gleichen. Aber die Themen von ‚Fabian‘ haben neue
       Dringlichkeit“, sagt Martens der taz.
       
       Die Produktion, die jetzt bereits zum dritten Mal verschoben ist, fühle
       sich für sie an wie ein ungeborenes Baby: „Dieses Bild trifft es am besten.
       Die Inszenierung ist nicht herausgekommen, ist wie unerlöst, geht nicht
       heraus aus dem Kopf. Und man hat das Gefühl, dass man ganz besonders auf es
       aufpassen muss.“
       
       Eine Art Körpererinnerung 
       
       Die sehr ungewöhnlichen Produktionsrhythmen – erste Proben im Februar und
       März, dann Neuaufnahme im November, vor der neuerlichen Premiere wird es
       dann weitere Wiederaufnahmeproben geben – stellten sie nicht vor größere
       Probleme. „Es gibt eine Art Körpererinnerung. Man steht auf der Bühne,
       sieht das Bühnenbild, die Kolleg*innen – und dann ist auch der Text
       wieder da“, sagt Martens.
       
       Hilfreich ist auch das besondere Regiebuch Frank Castorfs. „Da wird alles
       notiert, nicht nur Text, sondern auch die Bewegungen sowie inhaltliche
       Assoziationen. Castorf probt ja keine Szene ein zweites Mal. Es wird
       aufgezeichnet, was auf den Proben gefunden wurde“, erklärt Haag. Die
       Arbeitsweise des unermüdlichen Probens und dabei fast pedantischen
       Notierens stellt sich also als besonders pandemiegeeignet heraus.
       
       Für den neuen Premierentermin, Mai/Juni 2021, wenn es denn klappt, muss man
       also keine Erinnerungsverluste befürchten. Die Inszenierung ist fertig,
       liegt gewissermaßen im Regal – und muss nur ausgeliefert werden: an
       Menschen, die weiter ans Versammeln in Räumen glauben, ans gemeinsame
       Erleben, ans Teilen von Emotionen.
       
       Ergänzung: Am 29. Januar meldete das Berliner Ensemble, den Probenbetrieb
       bis Ende März einzustellen.
       
       31 Jan 2021
       
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