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       # taz.de -- Geschlechtsangleichung in der Praxis: Ein Penis nach dem anderen
       
       > Sofia Koskeridou ist Epithetikerin. Sie baut Penisse für Menschen, die
       > einen brauchen. Vor allem trans Männer gehören zu ihren Patienten.
       
   IMG Bild: Sofia Koskeridou an ihrem Arbeitsplatz in Norderstedt
       
       Ob [1][der Penis] so geworden ist, wie ihr Patient sich das vorgestellt
       hat, erkennt Sofia Koskeridou an den Augen. Sie sucht im Blick der Männer
       nach Freude, Erleichterung, Stolz. Dann weiß sie, dass das Körperteil, das
       sie hergestellt hat, richtig sitzt, richtig aussieht und sich richtig
       anfühlt.
       
       Sofia Koskeridou ist Epithetikerin. Eigentlich mit Schwerpunkt auf dem
       Gesicht. Viele Jahre lang stellte die 55-Jährige aus medizinischem Silikon
       Nasen, Ohren oder Augenlider her für Menschen, denen beispielsweise ein
       Tumor im Gesicht entfernt worden war oder die Unfälle erlitten hatten. Wo
       plastische Chirurgie an ihre Grenzen stieß, übernahm sie.
       
       Bis 2013. Da bekommt sie eine E-Mail, in der ein junger Mann sie fragt, ob
       sie ein Abenteuer eingehen wolle. „Da habe ich natürlich erst mal gedacht:
       Bei was für einem Portal habe ich mich da versehentlich angemeldet?“, sagt
       sie per Videochat und zieht an ihrer Zigarette. Sie spricht mit leichtem
       griechischem Akzent, in den Neunzigern zog sie von Thessaloniki nach
       Hamburg.
       
       Doch Sofia Koskeridou ist ein neugieriger Mensch, sie will wissen, was
       dieser Mann von ihr möchte. Er erzählt ihr, dass er trans sei, sich gegen
       eine geschlechtsangleichende Operation entschieden habe und eine
       Epithetikerin suche, die mit ihm gemeinsam einen künstlichen Penis
       entwickelt. Koskeridou hat Lust und trifft sich immer wieder mit ihm, mehr
       als zwei Jahre.
       
       ## Zwei Patienten am Tag, mehr geht nicht
       
       Dass die Tüftelei an dem Genital so lange dauerte, liegt daran, dass eine
       Penis-Epithese mehr Funktionen braucht und widerstandsfähiger sein muss als
       beispielsweise eine Ohrmuschel. Menschen müssen mit der Epithese pinkeln
       können, sie ist konstanter Bewegung ausgesetzt und sitzt an einer schlecht
       durchlüfteten, zu Schweiß neigenden Stelle. Die meisten Männer wollen sie
       in zweifacher Ausfertigung – schlaff und erigiert. Das dauert. Sofia
       Koskeridou und der Mann, der ihr eine E-Mail schrieb, sind zufrieden mit
       dem Ergebnis. Sogar ein Orgasmus ist mit dem erigierten Modell möglich.
       Wie, will Koskeridou nicht verraten, die Technik soll geheim bleiben. Der
       Mann empfiehlt sie weiter. Und Koskeridou macht kurz darauf nichts anderes
       mehr als Penisse.
       
       Sie ist nicht die einzige Epithetikerin in Deutschland, die Penisse
       herstellt, aber sie ist wohl die bekannteste. Sofia Koskeridou hat
       Patienten aus ganz Deutschland und aus ein paar Nachbarländern. Überwiegend
       [2][behandelt sie trans] Männer, es kommen aber auch Menschen mit
       angeborenen Fehlbildungen oder Beeinträchtigungen beispielsweise nach einer
       Krebserkrankung zu ihr. Ihr jüngster Patient war ein Jahr alt, ihr ältester
       75. Nicht alle trans Männer wollen die Epithese anstelle einer Operation.
       Manche haben sie teilweise hinter sich und sind nicht zufrieden mit dem
       Ergebnis.
       
       Im Schnitt hat Koskeridou zwei Patienten am Tag. Mehr geht nicht, weil die
       Termine sehr zeitaufwendig sind. Das erste Treffen ist zum Kennenlernen.
       Sie zeigt dann, was alles geht. Und es geht fast alles. „Beschnitten,
       unbeschnitten, halb beschnitten, die Größe, die Dicke, die Farbe, die
       Adern, die Gefäße, alles.“
       
       Ihre Patienten, sie nennt sie „ihre Jungs“, müssen einiges entscheiden.
       Manche haben ganz genaue Vorstellungen oder bringen gleich ein Foto ihres
       Wunschpenis mit. Manche überfordert die Tatsache, dass sie ihr eigenes
       Körperteil designen dürfen. Sie setzt sich mit ihnen dann in die Sofaecke
       und reicht verschiedene Exemplare rum. Oft sind Eltern oder Geschwister,
       Freund*innen oder Partner*innen dabei. „Besonders Väter und Brüder
       nehmen da alles besonders unter die Lupe“, sagt Koskeridou. Einige ihrer
       Patienten fragen sie auch nach ihrer persönlichen Meinung zur Optik. „Ich
       gebe da gerne meinen Senf dazu!“, sagt sie und lacht. Den Männern dabei zu
       helfen, die Epithese zu gestalten, macht Koskeridou Spaß. „Die Menschen,
       die zu mir kommen, haben oft so einen langen Leidensweg hinter sich. Wie
       toll ist es, sich seinen eigenen Penis auszusuchen?“
       
       ## „So eine coole und entspannte Art“
       
       Tate Burmeister ist einer von Sofia Koskeridous Jungs. Er ist 20 Jahre alt
       und trans, Anfang Januar 2020 war er das erste Mal bei ihr in Norderstedt
       bei Hamburg. Er und seine Freundin sind aus Leipzig angereist, der Wecker
       klingelte an dem Tag um drei Uhr morgens. Von Koskeridou hörte Burmeister
       zum ersten Mal, als er sich in einer Hamburger Klinik Brüste und
       Gebärmutter entfernen ließ. Die Eingriffe setzten ihm körperlich und
       psychisch stärker zu, als er erwartet hatte. An eine
       geschlechtsangleichende Operation wollte er nicht mal denken. Alles so
       lassen, wie es ist, war für ihn aber auch keine Option. Sein Arzt zeigte
       ihm verschiedene Penis-Epithesen, die von Koskeridou gefielen ihm am
       besten.
       
       Als Tate Burmeister und seine Freundin Koskeridous Institut wenige Monate
       später betreten, ist er nervös. Sie haben vorab vereinbart, dass Koskeridou
       beim ersten Termin einen Abdruck seines Intimbereichs nehmen wird, damit
       sie beim nächsten Mal schon ein Wachsmodell der späteren Epithese hat. Sein
       Bammel verfliegt in dem Moment, als sie ihm die Tür aufmacht. „Sofia hat
       einfach so eine coole und entspannte Art.“ Koskeridou duzt ihre Patienten,
       fängt im Gespräch Sätze häufig mit Vornamen an: „Tate, du hast verschiedene
       Möglichkeiten …“, „Tate, wichtig dabei ist, dass …“
       
       Sie baut gleich zu Beginn Nähe und Vertrautheit auf, denn Patient und
       Epithetikerin erleben gemeinsam Situationen, in denen Unverkrampftheit
       wichtig ist. Im Stehen zu pinkeln sollte mit der Epithese funktionieren,
       und damit das hinhaut, übt Koskeridou mit ihren Jungs. „Man stellt sich
       also vor die Toilette und versucht sich zu entspannen“, erzählt Tate
       Burmeister. „Und Sofia schaut, ob es so läuft, wie es laufen sollte.“ Viele
       Menschen haben schüchterne Blasen, ihnen fällt es schon schwer, vor
       Vertrauten aufs Klo zu gehen. Mit einer Person, die man zuvor erst einmal
       getroffen hat, muss die Atmosphäre im Badezimmer also auf Anhieb stimmen.
       
       Sofia Koskeridou fertigt nicht nur die Epithese an, sie hilft auch beim
       Papierkram. Penis-Epithesen stehen mittlerweile im Hilfsmittelkatalog der
       Krankenkassen, die Kosten werden theoretisch also erstattet. Bis die
       Bewilligung kommt, müssen viele ihrer Patienten jedoch mehrere Anträge
       stellen.
       
       ## „Manchmal laufen die Tränen“
       
       So auch Tate Burmeister. Er reichte die Personenstandsänderung, die
       Operationsberichte, den Kostenvoranschlag, die Bescheinigung eines
       Endokrinologen und das obligatorische „Motivationsschreiben“ ein. Abgelehnt
       – es bestehe keine medizinische Notwendigkeit. Meistens sehe die
       Krankenkasse irgendwann ein, dass das Gegenteil der Fall sei, spätestens
       nach Androhung einer Klage: „Sicher ist: Trans Männer brauchen einen langen
       Atem, so ist das leider immer noch.“
       
       Einer dieser Augenblicke, in denen sich die Anspannung löst, ist, wenn ihre
       Patienten das erste Mal die fertige Epithese anprobieren. „Manchmal laufen
       die Tränen, manchmal wird laut gelacht, manchmal ist komplette Stille“,
       sagt Sofia Koskeridou. Bisweilen ist da auch Wehmut, besonders bei den
       Älteren. Sie betrauern einen kurzen Moment all die Jahre, die sie –
       möglicherweise ungeoutet – haben verstreichen lassen. Bei fast allen
       beobachtet Koskeridou eine veränderte Körperhaltung. Die Schultern werden
       straffer, der Gang aufrechter und breitbeiniger. „Die stehen dann plötzlich
       ihren Mann. Dieser Unterschied, wenn sie kommen und wenn sie wieder
       weggehen, das kann man nicht beschreiben.“
       
       Sie erklärt bei diesem letzten Treffen auch, wie der Kleber anzuwenden ist,
       wie man die Epithese reinigt und wie man Schäden durch die Harnsäure
       vorbeugt. „Das gibt’s von mir aber auch noch mal schriftlich, weil ich
       genau weiß, die sind so überwältigt, die hören nur die Hälfte von dem, was
       ich sage.“
       
       ## Sich wieder vollständig fühlen
       
       Koskeridou hat früh gelernt, was es bedeutet, wenn ein Körperteil, das
       einen definiert, fehlt oder nicht so funktioniert, wie es sollte. Ihre
       Schwester kämpfte jahrzehntelang gegen Brustkrebs. „Sie war so ein
       richtiges Weib, eine griechische Göttin“, sagt sie. Irgendwann musste die
       Brust amputiert werden, der operative Aufbau danach funktionierte nicht.
       Die Schwester bat Sofia Koskeridou, die damals als Zahntechnikermeisterin
       arbeitete, ihr eine künstliche Brust anzufertigen. Koskeridou ließ sich zur
       Epithetikerin umschulen, doch ihre Schwester starb noch während der
       Ausbildung.
       
       Menschen dabei zu helfen, sich wieder vollständig zu fühlen, ist seitdem
       ihr Ansporn. Tate Burmeister hat auf Sofia Koskeridous Augen geachtet, als
       er sich bei ihr für die Epithese bedankte: „Ich hab ihr gesagt, dass ich
       total glücklich damit bin und ich sie sehr gut gelungen finde. Da hat man
       an ihrem Blick richtig gesehen, wie stolz sie ist auf ihre Arbeit. Das war
       ein cooler Moment.“
       
       23 Jan 2021
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Leonie Gubela
       
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