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       # taz.de -- Lessingtage digital am Hamburger Thalia: Gegen Angst und Autokraten
       
       > Das Thalia Theater lädt zum Festival am Computer. Das internationale
       > Programm weckt Erwartungen, die eigene Produktion zum Auftakt dämpft sie
       > wieder.
       
   IMG Bild: Einladung auf die europäische Couch: Hamburger Lessing (Fritz Schaper, 1881)
       
       Hamburg taz | Gebannt vom Terrorregime des sich immer wieder neu mit
       Mutationen radikalisierenden Coronavirus ist Gemeinschaft derzeit das zu
       Vermeidende. Abstand wahren bis hin zur Selbstisolation gilt als Tugend der
       Pandemiemonate. Das Hamburger [1][Thalia-Theater] aber wünscht sich, dass
       auch mal aus der Lockdown-Blase herausgedacht wird.
       
       Es soll nicht ins Abseits der öffentlichen Wahrnehmung geraten, was
       beispielsweise gerade die Autokraten in Russland, Ungarn, Belarus, Polen
       und der Türkei so treiben und was das für die dort lebenden Menschen
       bedeutet. Deswegen lautet das Motto der vom Thalia initiierten, bis zum 1.
       Februar dauernden [2][Lessingtage 2021]: „Stories from Europe“.
       
       Da persönliche Begegnungen derzeit unmöglich sind, „ist das Publikum also
       eingeladen, auf einer paneuropäischen Couch Platz zu nehmen − zu Hause,
       aber doch zusammen, in Paris, Turin, Budapest oder Moskau“, wie es in der
       Ankündigung heißt. „Angetrieben von der Neugier auf die Vielfalt Europas“
       werde das Programm der Streaming-Ausgabe einen digitalen Einblick in den
       Reichtum des Theaterschaffens auf dem Kontinent ermöglichen und dabei mit
       der politischen Situation in den Ländern konfrontieren.
       
       Wir müssen uns also vorstellen, da sitzen in Paris, Turin, Budapest oder
       Moskau die Theaterfans vor ihrem Laptop und wollen zur Festivaleröffnung
       erfahren, was in Deutschland gerade für Diskurse laufen und mit welchen
       ästhetischen Mitteln die kritische Regie-Avantgarde darauf reagiert. Und
       dann sehen die zugeschalteten Lessingtage-Besucher ein Schauspielerpärchen
       einen auf Leinwand projizierten Text ablesen, als wäre es ihre
       Erstbegegnung mit Thomas Köcks „paradies spielen (abendland. ein
       abgesang)“. Christopher Rüping hat das Stück zusammen mit „paradies fluten
       (verirrte sinfonie)“ und „paradies hungern“ inszeniert und nun als
       Live-Stream in die Welt geschickt.
       
       ## Mäandernde Poesie
       
       Die assoziativ mäandernde Poesie des Textes vermittelt sich mit der
       englischen Übersetzung in den Untertiteln kaum. Inhaltlich lassen die
       sprachspielerisch prunkenden Worte-, Gedanken-, Materialfluten schon den
       deutschen Muttersprachler überfordert zurück.
       
       Was für eine reizvolle Aufgabe also, diesem mürrisch präzisen
       Bewusstseinsstrom einen Klangraum zu schaffen, die Argumentation
       nachvollziehbar zu machen, Figuren zur Beweisführung empathisch zu
       entwickeln und Köcks Kritik der globalisierten Ökonomie zu nutzen, die
       Evolution des Kapitalismus als Prinzip der Selbstauslöschung des Menschen
       zu analysieren. Oder so ähnlich.
       
       Aber Rüpings läppisch performative Show drückt sich um all das. Der
       Regisseur lässt Nebel wallen, beliebig Textfragmente abliefern und
       kuschelige Pop-Sounds musizieren. Nur wenn die Darsteller mal eine Rolle
       annehmen, die schlaumeiernde Vorlage aus ihrem humanen Kern heraus
       erkunden, vermittelt sich eine Haltung zum Inhalt. Insgesamt ist diese
       Gedankenreise durchs verlorene Paradies ein denkbar schlechtes Beispiel, um
       deutsche Stadttheaterkultur zu feiern.
       
       Daher klingt es recht irritierend, als Rüping tags drauf im [3][„Voices of
       Europe“-Stream] betont, er ersehne ein Theater für alle. „Paradies“ war
       wohl eher ein Vergnügen für wenige.
       
       Aber vielleicht ist das auch nur eine ebenso wohlbekannte Phrase wie so
       viele Statements, die europäische Starregisseure für den Film artikulieren.
       Rüpings Wunsch eins und zwei für die postpandemische Zukunft des Theaters
       lauten übrigens: mehr Fenster und Grünpflanzen ins Foyer.
       
       Was all das mit Lessing zu tun hat, dem das Festival gewidmet ist? „Was uns
       interessiert, ist das, wofür Lessing steht, die Vernunft, seine
       aufklärerischen Gedanken, sein Eintreten fürs Gemeinwohl, seine radikale
       Offenheit im Ermöglichen kontroversen Austauschs, Lessing setzt die
       Freiheit des Denkens an die Stelle der Angst“, sagt Thalia-Pressesprecherin
       Maren Dey.
       
       So wie Gotthold Ephraim Lessing im 18. Jahrhundert die konstruktive
       Streitkultur in Hamburgs Literatur- und Theaterszene geprägt habe, soll das
       Festival heute politisch-gesellschaftliche Fragestellungen unserer Zeit
       beleuchten. 2018 beispielsweise ging es um Demokratie und ihre Gefährdung,
       vergangenes Jahr wurde gefragt: Wem gehört die Welt und wie geht
       postkoloniale Selbstbestimmung? 2021 verzichten die Verantwortlichen
       allerdings auf solche losen, roten Fäden. Erstmals wurde das
       Gastspielangebot nicht kuratiert.
       
       Seit einigen Jahren ist das Thalia-Theater Teil von [4][Mitos 21], einem
       Zusammenschluss europäischer Bühnen. Dort tauschen sich Intendanten und
       Dramaturgen aus, über Nachhaltigkeit wird diskutiert und hier eine
       Co-Produktion, dort ein Gastspiel organisiert.
       
       Nun tritt Mitos 21 erstmals öffentlich auch als Festival-Mitveranstalter in
       Erscheinung: Alle [5][18 Mitglieder] waren zu den Lessingtagen eingeladen,
       eine Produktion ihrer Wahl vorzustellen. Elf Theater konnten rechtzeitig
       ein Streaming-Angebot bereitstellen, noch bis zum 31. Januar ist jeden
       Abend eines kostenlos abrufbar. Am Samstag Waren [6][antike Geschichten als
       zeitgenössische Überschreibungen] zu erleben: In Kate Tempests
       „Teiresias“-Version eröffnet der gleichnamige Seher die Gender- und
       Identitätsdebatte. Und in Stefan Hertmans’ Neufassung ist „Antigone“ eine
       Jurastudentin, ihr Bruder ein radikalisierter Islamist und Ort der Handlung
       ist der Brüsseler Stadtteil Molenbeek, bekannt als Terroristen-Hotspot der
       Pariser Anschläge des Jahres 2015. Regie bei den Uraufführungen im
       Antwerpener Toneelhuis führt dessen Leiter Guy Cassiers.
       
       Außerdem noch bei den Lessingtagen dabei: Berliner Ensemble, Teatro Stabile
       Torino, das Moskauer Theater der Nationen, Teatre Lliure aus Barcelona,
       Schauspielhaus Düsseldorf, Odéon Paris und Katona József Színház, Budapest.
       
       26 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://mitos21.com/#1
   DIR [5] https://mitos21.com/members
   DIR [6] https://www.thalia-theater.de/stueck/antigone-in-molenbeek-_-tiresias-2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Fischer
       
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