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       # taz.de -- Der Hausbesuch: Sie war ein Draußenkind
       
       > 27 Jahre war Monika Ziebeil Telefonistin im Virchow-Krankenhaus in
       > Berlin. Als sie ein betrunkener Kollege schlug, hat sie gekündigt.
       
   IMG Bild: Monika Ziebeil in ihrer Wohnung in Reinickendorf – sie war die jüngste von vier Geschwistern
       
       Sie ist Berlinerin. Und sie will, wie Friedrich der Große es einst sagte,
       nach ihrer Façon selig werden.
       
       Draußen: Verlassen wirkt die Wohnstraße in Reinickendorf im Norden Berlins.
       Das liegt am Nieselregen. Und am Shutdown. Eigentlich hätte, wer die Straße
       hochginge, ein schönes Ausflugsziel: den Schäfersee mit Café am Ufer. Nur
       ist derzeit alles zu.
       
       Drinnen: Monika Ziebeil findet, die besten Farben für Sofas, Teppiche,
       Möbel seien Beige und Braun. Nippes und Fotos sind wichtigstes Dekor. Das
       neueste Stück in ihrer Stube ist der Fernsehsessel, auf dem sie die
       schmerzenden Füße hochlegen kann. Die Farbe Rot mag sie auch. Die weißen
       Küchenschränke, bei Quelle hat sie sie vor fast 30 Jahren gekauft, sind rot
       verziert.
       
       Keine rosigen Zeiten: Seit 20 Jahren wohnt Monika Ziebeil in den eineinhalb
       Zimmern. Sie hat fast ihr ganzes Leben in dem Bezirk gelebt, hier ist sie
       vier Monate nach Kriegsende geboren. Als Jüngste von vier. Die Wildeste.
       „Ich war wie ein Junge.“ Weil sie und ihr Bruder im Hungerjahr 1946 fast
       gestorben wären, man sie im Krankenhaus nicht behalten wollte, „hier
       sterben schon genug Kinder“, hätten die Ärzte gesagt, war entschieden
       worden, dass der Junge zur Mutter und die Kleine zur Großmutter kommt.
       Diese lebte in einer zugigen Laube, zog aber auf jedem Fleckchen Grün
       Gemüse und Obst und päppelte nicht nur „die Kleene“ damit auf, sondern
       versorgte alle Verwandten. Von da an war Ziebeil ein Draußenkind.
       
       Berlin nach dem Krieg: Kinder gucken mit großen Augen auf die Welt und
       stellen sie nicht in Frage. Die kaputte Stadt, die Armut, Kinder werten das
       nicht. Einzig die oft erzählten Geschichten der Erwachsenen klingen
       bedrohlich. Dass die Großmutter, als die Russen in Berlin einmarschierten,
       ein Schild auf Russisch ans Gartentor hängte: „Achtung, Typhus“. Sie konnte
       die Sprache ein wenig. Offenbar hatten die Soldaten Mitleid und gingen
       wieder. Dass zudem Frauen versteckt waren in der Laube, die so vor
       Vergewaltigung geschützt wurden, wird auch erzählt. Und dann tauchten da
       noch die gebrochenen Männer auf. Ihr Vater einer von ihnen. Er starb schon
       1948.
       
       Überhaupt Vater: Unklar ist sowieso, ob dieser Mann ihr Vater war. Alles
       spricht dagegen. Er habe sie ignoriert, wenn nicht gar verachtet. Sie sah
       anders aus als ihre blonden Geschwister, sie war schwarzhaarig mit
       prägnanter Nase. „‚Zigeunersche‘ hat meine Oma oft zu mir gesagt.“ Und dann
       tauchte an ihren Geburtstagen und Weihnachten immer ein Mann auf, „der
       Jakubasch, ein schöner Mensch“, und habe nur sie beschenkt. Die Mutter
       hätte ihre Herkunft kennen müssen, nie jedoch sprach sie darüber.
       
       Trümmer überall: Aber Ziebeil macht kein Gewese um die Umstände. Spricht
       sie vom Vater, meint sie den, der in der Geburtsurkunde steht. Den, von dem
       man sagt, dass er verhärmt war, dass er ihre ältere Schwester oft grundlos
       in die Kohlenkammer sperrte. Ohnehin ging es nach dem Krieg darum, sich aus
       den Trümmern hochzuarbeiten. Die Verluste zu verkraften, sämtliche Brüder
       der Mutter tot. Da hat man nicht so auf Kinder geachtet. „Ich bin wild
       aufgewachsen. In der Schule war ich schwach. Niemand kümmerte sich.“ Nach
       der Schule macht sie eine Lehre als Verkäuferin. Mit Jungs hat sie es nicht
       so. Und Rock ’n’ Roll, Elvis Presley, Twist? „Nicht mein Ding.“ Allerdings
       toupiert sie ihre Haare, wie man es damals tat.
       
       Die Hilfsbereite: „Man hat sich nach dem Krieg unterstützt“, sagt sie. Das
       sei ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Bis heute. Eine Zeit lang sollte
       sie zwei alte Tanten pflegen. „Das überforderte mich aber.“ Sie nimmt dann
       eine Stelle in einem Kurheim für Berliner Arbeitermänner in Bad Oeynhausen
       als Hausmädchen an. 500 D-Mark und Kost und Logis. 200 D-Mark schickt sie
       jeden Monat der Mutter. „Die hatte nichts. Meine Schwestern haben sie auch
       unterstützt.“
       
       Der Mann: Sie fand es nicht komisch, dass sie an Männern kein großes
       Interesse hatte. Einmal sei sie mit Kolleginnen in Bad Oeynhausen tanzen
       gegangen und ständig aufgefordert worden, habe aber abgelehnt. „Bitte, du
       musst mit einem tanzen, sonst werden die ungemütlich“, hätten die
       Freundinnen gesagt. „Die lauern uns nachher auf, ‚bist wohl was Besseres,
       hältst uns für Dorftrottel‘, sie schubsen und bedrängen einen“, warnten
       sie. „Ich hatte trotzdem keine Lust.“ Hinter ihr saß ein Mann, Bernd hieß
       er, „das wird allmählich gefährlich, Sie müssen mit jemandem tanzen“, soll
       er gesagt haben. „Da habe ich mit ihm getanzt. Er hat mich nicht bedrängt.“
       Sie lässt sich auf ihn ein. Und wird schwanger.
       
       Zurück nach Berlin: Der Mann will sie heiraten, sobald er geschieden ist.
       Er organisiert eine Wohnung für sie in Düsseldorf. Kurz bevor er den
       Mietvertrag unterschreibt, lehnt sie ab. „Das lass mal bleiben“, sagte sie.
       „Ich wollte das nicht.“ Weil ihre Mutter nicht nach Bad Oeynhausen kommen
       will, um auf das Kind aufzupassen, „die hätten uns sogar eine Wohnung
       gestellt im Kurhaus“, geht sie zurück nach Berlin. Zieht mit ihrer Mutter
       zusammen, kriegt, da ist sie 22, den Sohn und fängt wieder an zu arbeiten,
       erst als Verkäuferin, ab 1978 für 27 Jahre als Telefonistin im Krankenhaus.
       Im Kegelclub hatte man ihr von der Stelle erzählt. Als das Kind noch klein
       ist, holt sie es manchmal aus der Krippe und geht mit ihm zurück zur
       Arbeit. Das Kind sei pflegeleicht gewesen. „Den konntest du wo hinsetzen,
       und da ist er sitzen geblieben.“
       
       Die Neigung: Dass sie mehr auf Frauen steht, habe sie schon als Mädchen
       gewusst, hat es aber für sich behalten, solange der Sohn klein war. Als er
       18 ist, gibt sie eine Annonce auf „in einer Zeitschrift, die für solche
       Sachen offen war“. Mona antwortet. Sie treffen sich am
       Kurt-Schumacher-Platz. „Gleich am ersten Abend bin ich mit ihr mit.
       Zahnbürste und Unterwäsche hatte ich dabei.“ Sie könne doch nicht gleich
       mitgehen, habe Mona gesagt. Sie meinte es nicht sehr ernst. Ziebeil hat
       sich dann geoutet. „Mutter, ich muss dir was sagen, ich habe jemanden
       kennengelernt, eine Frau. Mit ihr will ich zusammen sein.“ Da soll die
       Mutter geantwortet haben: „Hast ja recht, musst keine dreckigen
       Männerunterhosen waschen.“
       
       Das Anderssein: Mona ist Ziebeils große Liebe. Sie ziehen zusammen. Mit ihr
       verreist sie. Mit ihr geht sie aus. In „Die 2“. Lieber noch ins „Pour
       Elle“. Berliner Frauenbars der 70er, 80er, 90er Jahre, die es nicht mehr
       gibt. Eines Abends sieht sie ihre Nichte im Pour Elle. „‚Bienchen‘, hab ich
       durch den Raum gerufen. Eine Überraschung.“ Aber doch auch nicht so
       überraschend. Irgendwie liege das Anderssein in der Familie. Da waren ihre
       zwei Großtanten – gut, über die habe man nur hinter deren Rücken so
       geredet. „Und dann der Onkel Kurt, der Bruder meiner Mutter. Der ist aber
       jung an Krebs gestorben.“ Jetzt also ihre Nichte. „Ein Neffe auch noch.
       Moni, ich bin schwul, hat er zu mir gesagt.“ Flugbegleiter ist er.
       
       Der Knall: Fünf Jahre dauert die Beziehung mit Mona. Dann passiert
       Schlimmes. Ziebeil hat eine Operation im Krankenhaus. „Ich war noch nicht
       dort angekommen, stand schon Leni bei Mona vor der Tür.“ Leni war Ziebeils
       beste Freundin. Und die fängt was mit Mona an. Ziebeil ist am Boden. „Dass
       ausgerechnet Leni mir die Mona wegnimmt.“ Sie hat Jahre gebraucht, um
       darüber wegzukommen. Heute sagt sie: „Wahrscheinlich wäre es sowieso nicht
       gut gegangen. Mona hat viel getrunken.“ Entgrenzt soll sie gewesen sein.
       Vulgär mitunter. „Da habe ich manchmal aufpassen müssen, dass ich nicht
       mitgerissen werde.“ Irgendwann habe Ziebeil den beiden verziehen.
       
       Intoleranz: Lesbisch sein in ihrem Milieu – es hört sich an, als wäre es
       einfach. Ist es aber nicht. Nach der Wende werden das Virchow-Krankenhaus
       und die Charité zusammengelegt. „Mit den neuen Kollegen und den
       Rationalisierungen veränderte sich das Betriebsklima.“ Ein Ostkollege sei
       über sie hergezogen, habe sie beschimpft, sich über das Lesbische mokiert,
       habe sie sogar geschlagen. „Der war ziemlich betrunken.“ Eine
       Entschuldigung ist das nicht. Der Kollege wird zwar versetzt, aber Ziebeil
       kündigt trotzdem. Mit Abfindung. Nur findet sie danach keinen neuen Job.
       Mit 60 geht sie in Rente, „mit 33 Prozent Abschlag“. Heute putzt sie
       nebenher, um einigermaßen über die Runden zu kommen.
       
       Glück: „Mich nach Mona auf eine neue Liebe einlassen, das konnte ich
       nicht.“ Aber Ziebeil hat Freundinnen. Helga und noch eine Helga und Erika.
       Nach und nach werden alle krank. Sie betreut sie, manche bis zum Tod. Auch
       Mona, die Krebs bekam, unterstützte sie. Heute hilft sie ihrer Nichte,
       ihrem Sohn, ihrer Schwester. Die Arbeit in deren Garten erfüllt sie mit
       Freude. Denn eigentlich wäre sie gerne Gärtnerin geworden.
       
       30 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
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