URI: 
       # taz.de -- Abtreibungsverbot in Polen: Unter Hochspannung
       
       > Wegen eines strengen Abtreibungsverbots gehen wieder viele Pol*innen
       > auf die Straße. Einige sprechen von Niedertracht der PiS-Regierung.
       
   IMG Bild: Der rote Blitz, das Kampfzeichen gegen das Abtreibungsverbot: Protest in Warschau am 28.01.2021
       
       WARSCHAU taz | Warum tut uns die Regierung das an? Warum ausgerechnet
       jetzt? Warum in Coronazeiten, die kaum noch auszuhalten sind?“, ruft Marta
       Lempart, die resolute Chefin der Frauen-Streik-Bewegung „strajk kobiet“ den
       Demonstrantinnen zu. Am Mittwochabend hatte Polens Regierung das Urteil des
       Verfassungsgerichts vom Oktober 2020 im Gesetzesblatt publiziert.
       
       Damit müssen Polinnen demnächst auch Schwangerschaften austragen, die mit
       einer Totgeburt enden. Oder schwerkranke Kinder zur Welt bringen, die dann
       noch Tage, Wochen oder Monate qualvolle Schmerzen erleiden müssen, bis sie
       endlich sterben. Julia Przyłębska, die umstrittene Chefin des
       Verfassungsgerichts und enge Vertraute von Jarosław Kaczyński, dem
       Parteichef der national-populistischen Regierungspartei Recht und
       Gerechtigkeit (PiS), entsprach mit diesem Urteil dem PiS-Wunsch nach einer
       Verschärfung des Abtreibungsrechts in Polen.
       
       „Sie tun dies, weil sie nichts anderes können. Sie können nur klauen und
       lügen“, schallt Lemparts Stimme auch Straßen weiter aus Lautsprechern. Nur
       rund eine Stunde, nachdem Przyłębska die Begründung des Urteils vom Oktober
       2020 publik gemacht hatte, waren bereits Zehntausende Frauen in ganz Polen
       auf der Straße.
       
       „Unsere Politiker wissen nicht, was Gesundheitsfürsorge ist, was
       Schulbildung ist oder wie man die Pandemie in den Griff bekommt!“, ruft die
       gestandene Geschäftsfrau aus Breslau (Wroclaw) in die Nacht. „Die
       Unternehmer gehen ihnen am Arsch vorbei. Die vielen Menschen, die in diesen
       Tagen ihre Arbeit verlieren, genauso. Sie können nichts, rein gar nichts!
       Gerade diese Nichtskönner aber sind zu allem fähig! Diese Banditen!“
       
       [1][Die Demonstrant:innen] vor dem Verfassungsgericht in Warschau
       klatschen laut. Viele halten ihre Handys hoch, filmen den furiosen Auftritt
       Lemparts und schicken ihn ins Internet. Die Social-Media-Portale kennen nur
       noch ein Thema: die Entmündigung der schwangeren Frauen in Polen.
       
       ## Kost und Logis in Berlin
       
       „Wir sollten einen Shuttledienst ins befreundete Ausland aufbauen“,
       schreibt eine Userin auf Twitter. „Dort gibt es Ärzte, die uns bei
       Risikoschwangerschaften helfen!“ Andere schicken Preislisten aus
       Großbritannien, Tschechien, Frankreich und Deutschland. „Lasst die
       Regierung ihr Ding machen, wir machen unseres“, schreibt eine andere. „Ich
       gehöre zu den gut verdienende Pol:innen. Um ärmeren Frauen zu helfen,
       spende ich zwei Abtreibungen im Jahr.“ Eine andere bietet Kost und Logis in
       Berlin an: „Mir ist jede Frau in Not willkommen!“
       
       Am Donnerstag bringen die zumeist jungen Frauen rote Farbe mit zum
       Verfassungsgericht in Warschau. Die „Spaziergänger:innen“, wie sie sich
       nennen, um nicht als „Demonstrant:innen“ [2][in Coronazeiten] verhaftet zu
       werden, schütten ganze Kübel roter Farbe auf den Gehsteig. Blutrot ist die
       Farbe des Lebens. Blutrot ist auch das Blitz-Symbol der „strajk
       kobiet“-Bewegung, das an das internationale Symbol „Achtung! Hochspannung!“
       erinnert. In den nächsten Tagen müssen die Richter auf ihrem Weg von und
       zur Arbeit durch diese „Blutlache“ gehen.
       
       Obwohl alle Warschauer:innen die vorgeschriebenen Mund-Nasen-Masken
       tragen und sich auch Mühe geben, Abstand zu den anderen einzuhalten, greift
       die Polizei kurz nach 21 Uhr ein. Sie will die „illegale Demonstration“
       auflösen und fordert alle Teilnehmer:innen auf, sich zu legitimieren.
       
       Die Methode erinnert viele an die Zeit des Kommunismus. Da bildete die
       Polizei auch gerne einen Kessel, drängte die Menschen immer enger zusammen,
       griff dann einzelne heraus, um ihre Daten aufzunehmen oder in Kommissariate
       am Warschauer Stadtrand zu verfrachten. Es ist schwer, mitten in der Nacht
       von der Peripherie wieder ins Stadtzentrum zu kommen. Jetzt – unter der
       PiS-Regierung – ist dieses Problem wieder aktuell.
       
       „Wenn sich Leute mit Covid angesteckt haben, sind Polizei und Regierung
       schuld. Ohne Polizeikessel wären alle gesund geblieben“, schreibt ein User,
       der sich mit den Frauen solidarisch erklärt. Vor dem Verfassungsgericht und
       dem Rauch eines Bengalofeuers steht eine junge Frau und sagt: „Die
       Entscheidung der Verfassungsrichter ist pure Niedertracht!“ Das Minivideo
       wird tausendfach geklickt und verbreitet. Es trifft den Nerv der Zeit.
       
       29 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Polinnen-rebellieren-gegen-Regierung/!5720697
   DIR [2] /Abtreibung-in-Polen/!5675483
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Stadtgespräch
   DIR Polen
   DIR PiS
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
   DIR Kolumne Red Flag
   DIR Polen
   DIR Polen
   DIR Holocaust
   DIR Polen
   DIR PiS
   DIR Schwerpunkt Abtreibung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abtreibungen in Deutschland: Ein ideologisches Kampffeld
       
       Abtreibungsverbote wirken aus der Zeit gefallen, doch sie bestehen
       weiterhin, nicht nur in Polen. Selbst wenn sie das Leben der Schwangeren
       gefährden.
       
   DIR Abtreibungsverbot in Polen: Kaczyńskis Kulturkampf
       
       Der Liberalismus der EU ist Staatssozialismus in neuem Gewand – davon sind
       Polens ultrarechte Milieus überzeugt. Also polarisieren sie die Debatten.
       
   DIR Mediensteuer in Polen: Kontrolle nach ungarischem Vorbild
       
       Mit einer zusätzlichen Steuer auf Werbeeinnahmen will die polnische
       Regierung die Privatmedien unter Druck setzen. Die aber wehren sich.
       
   DIR Polen und der Holocaust: Das Recht auf Nationalstolz
       
       Die Nichte eines Dorfschulzen verklagt zwei renommierte Holocaust-Forscher.
       Sie hätten den Ruf ihres Onkels und den Polens beschädigt.
       
   DIR Abtreibungsverbot in Polen: Nicht das letzte Wort
       
       Polens Gesellschaft ist zerstritten. Das jüngst verschärfte
       Abtreibungsverbot ist ein Sieg für die katholischen Fundamentalisten.
       
   DIR Streit über Abtreibungen in Polen: Von der Wut der Frauen überrollt
       
       Seit Jahren will Polens Regierungspartei PiS das ohnehin restriktive
       Abtreibungsrecht weiter verschärfen. Doch der massive Protest zeigt
       Wirkung.
       
   DIR Abtreibung in Polen: Proteste mit Abstand
       
       Die nationalpopulistische Regierung will erneut die Gesetze verschärfen –
       bis hin zu einem totalen Verbot. Trotz Corona gehen Frauen auf die Straße.