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       # taz.de -- Kinder- und Jugendstärkungsgesetz: Mehr Rechte für Kinder
       
       > Die Große Koalition will Kinder, die im Heim leben, Gewalt erfahren oder
       > vernachlässigt werden, besser schützen. Doch am Gesetzentwurf gibt es
       > Kritik.
       
   IMG Bild: Hilfe in der Not: Die Bundesregierung will Kinder besser schützen
       
       Berlin taz | Unangekündigte Kontrollen von Heimen, mehr
       Beschwerdemöglichkeiten für Kinder: Die Bundesregierung will die Kinder-
       und Jugendhilfe reformieren. Das neue „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“
       soll die Situation von Kindern verbessern, die im Heim oder bei einer
       Pflegefamilie leben, [1][zu Hause vernachlässigt werden, Gewalt erfahren]
       oder eine Behinderung haben. Am heutigen Freitag berät der Bundestag
       erstmals darüber.
       
       Das neue Gesetz sieht unter anderem eine engere Zusammenarbeit von
       Ärzt*innen und dem Jugendamt vor. Künftig sollen Ärzt*innen, die eine
       Kindeswohlgefährdung vermuten, mehr Klarheit darüber bekommen, wann sie
       trotz Schweigepflicht das Jugendamt informieren dürfen. Darüber hinaus
       sollen sie eine Rückmeldung erhalten, wie es mit dem Kind und der Familie
       weitergeht, und gegebenenfalls per Telekonferenz in Fallbesprechungen
       einbezogen werden.
       
       Jo Ewert, Kinderarzt am Universitätsklinikum Eppendorf in Hamburg, lobt die
       Pläne grundsätzlich. Er und seine Kolleg*innen melden dem Jugendamt
       regelmäßig Fälle, bei denen sie Kindeswohlgefährdung vermuten. „Es ist sehr
       wichtig, dass Ärzt*innen Rückmeldung bekommen sollen. So können wir die
       Patient*innen medizinisch viel besser begleiten“, sagt Ewert. Nicht zu
       wissen, wie es mit dem Kind weitergeht, sei darüber hinaus psychisch
       herausfordernd.
       
       Außerdem begrüßt Ewert, dass klarer geregelt werden soll, wann Ärzt*innen
       das Jugendamt einschalten dürfen – nämlich dann, wenn sie es bei
       gewichtigen Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung für notwendig halten.
       „Viele Ärzt*innen sind unsicher, wann der Bruch der Schweigepflicht vom
       Kinderschutzgesetz gedeckt ist“, sagt Ewert. Zudem wüssten einige nicht
       genau, woran sie eine Kindeswohlgefährdung erkennen.
       
       ## Auch Zahnärzt*innen sind wichtig
       
       Ewert fordert daher, Ärzt*innen besser zu schulen. Anzeichen seien zum
       Beispiel jegliche Verletzungen bei Säuglingen, Rippenbrüche oder blaue
       Flecke an Oberarmen, Ohren und Genitalien.
       
       Sinnvoll sei auch die Einbindung von Ärzt*innen in Fallbesprechungen.
       Ewert vermutet aber, dass es an der Umsetzung scheitern könnte.
       Niedergelassene Kinderärzt*innen behandelten pro Tag oft mehr als 60
       Kinder, sagt der Mediziner. „Sie haben also frühestens ab 20 Uhr Zeit für
       Telekonferenzen. Das Jugendamt ist jedoch ab 16.30 Uhr häufig nicht mehr
       erreichbar.“
       
       Scharfe Kritik äußert Ewert daran, dass Zahnärzt*innen als einzige
       Gruppe nicht enger mit dem Jugendamt zusammenarbeiten sollen. „Schlechte,
       kariöse Zähne sind Anzeichen für Vernachlässigung, daher sind
       Zahnärzt*innen extrem wichtig für den Kinderschutz“, sagt Ewert. „Ich
       verstehe nicht, wieso Zahnärzt*innen von der Regelung ausgeschlossen
       werden. Die Frage lautet doch eher: Wie schaffen wir es, mehr
       Zahnärzt*innen zu bewegen, sich mit Kinderschutz zu beschäftigen?“
       
       Des Weiteren ist eine bessere Aufsicht [2][von Heimen] geplant, zum
       Beispiel durch anlasslose und unangekündigte Kontrollen. Bislang sind diese
       in der Regel angemeldet. Außerdem dürfen Heimaufsichten künftig Gespräche
       mit Kindern und Jugendlichen führen, ohne dass ein*e Mitarbeiter*in des
       Heimes dabei ist. So soll gewährleistet werden, dass sich die
       Bewohner*innen unbefangen äußern können.
       
       ## Unabhängige Beschwerdestellen
       
       Zusätzlich werden die Beschwerdemöglichkeiten erweitert: In Zukunft können
       sich Kinder nicht mehr nur innerhalb der Einrichtung beschweren (etwa bei
       einem Erzieher oder der Heimleiterin), sondern auch bei unabhängigen
       externen Stellen.
       
       Möglichkeiten zur Beschwerde sollen auch Kinder in Pflegefamilien erhalten.
       Auch muss in Zukunft von Anfang an geklärt werden, ob ein Kind
       perspektivisch eher für eine kurze Zeit oder länger in der Pflegefamilie
       bleiben wird. Familiengerichte sollen daneben eine dauerhafte Unterbringung
       in einer Pflegefamilie anordnen können.
       
       Carmen Thiele vom Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien begrüßt
       das. „Es gibt Eltern, die regelmäßig versuchen, ihre Kinder aus
       Pflegefamilien rauszureißen, obwohl sie schon jahrelang dort leben“, sagt
       Thiele, die selbst Pflegemutter ist. Die neue Regelung schütze Kinder vor
       Verunsicherung und erneuten Beziehungsabbrüchen.
       
       Jugendliche, die im Heim oder bei einer Pflegefamilie leben und bereits
       Geld verdienen, müssen sich bislang an den Kosten für ihre Unterbringung
       beteiligen – mit 75 Prozent ihres Gehalts. Wer als Pflegekind also eine
       Ausbildung macht und monatlich 1.000 Euro verdient, muss 750 Euro ans
       Jugendamt zahlen. Das neue Gesetz sieht vor, dass Jugendliche künftig
       höchstens 25 Prozent ihres Lohns an die Behörde abgeben müssen.
       
       „Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht genug“, sagt
       Thiele. Sie fordert, die Kostenbeteiligung ganz abzuschaffen. „Sie führt
       dazu, dass Jugendliche die Pflegefamilien vorzeitig verlassen, obwohl sie
       noch gar nicht so weit sind.“ Gut hingegen sei, dass Pflegekinder künftig
       nichts mehr von ihrem Vermögen ans Jugendamt zahlen müssen. „Wie sollen sie
       auf eine eigene Wohnung oder den Führerschein sparen, wenn sie das Ersparte
       nicht behalten dürfen?“
       
       Eine weitere Änderung: Kinder und Jugendliche können sich in Zukunft
       uneingeschränkt vom Jugendamt beraten lassen – ohne Einwilligung der
       Eltern. Außerdem sind unabhängige Ombudsstellen geplant, an die sich
       Familien wenden können, wenn sie Konflikte mit dem Jugendamt haben.
       
       Die Dortmunder Jugenddezernentin Daniela Schneckenburger begrüßt das, sagt
       aber: „Die Mitarbeiter*innen der Ombudsstellen müssen sich sehr gut in
       der Kinder- und Jugendhilfe auskennen. Eine strenge Parteilichkeit für das
       Kind ist unbedingt notwendig.“
       
       Grundsätzlich fordert sie mehr Geld für die Kinder- und Jugendhilfe.
       „Jugendämter sind eingeklemmt zwischen wachsenden Bedarfen auf der einen
       Seite und den finanziellen Grenzen auf der anderen. Wir als Stadt können
       das Kindeswohl unmöglich von der Finanzierung abhängig machen.“
       
       Die wohl umfangreichste Neuerung: Ab 2028 soll die Kinder- und Jugendhilfe
       für alle Kinder zuständig sein – auch für Kinder mit Behinderung. Bisher
       gibt es zwei parallele Systeme. Die stufenweise Umstellung dauert sieben
       Jahre. Bereits ab 2021 sollen alle Kinder gemeinsam in Kitas betreut
       werden. Ab 2024 unterstützen „Verfahrenslots*innen“ Eltern dabei, die
       Hilfen zu bekommen, die ihnen zustehen.
       
       ## Heftige Kritik von der Linkspartei
       
       Viel Kritik äußern Linke, Grüne und FDP an der Kostenheranziehung von Heim-
       und Pflegekindern. Sie fordern, den Jugendlichen ihr komplettes Gehalt zu
       lassen. „Sorry, aber das kann sich Deutschland leisten“, sagt der
       Bundestagsabgeordnete Daniel Föst von der FDP.
       
       Marcus Weinberg, der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion,
       findet es hingegen richtig, dass sich die Jugendlichen weiter an den Kosten
       ihrer Unterbringung beteiligen sollen. „Die jungen Menschen müssen lernen,
       dass Kost und Wohnung mit Aufwendungen verbunden sind, die sie nach dem
       Ende der Hilfe selbst tragen müssen“, sagt der CDU-Politiker. „Im Übrigen
       geben auch Jugendliche, die bei ihren Eltern leben, nicht selten Teile
       ihres Gehalts zu Hause ab.“
       
       Während FDP und Grüne den Entwurf von Familienministerin Franziska Giffey
       (SPD) aber grundsätzlich begrüßen, lehnt ihn die Linksfraktion komplett ab.
       „Hier werden elementare Rechte von Kindern und Jugendlichen beschnitten. Es
       droht eine Zunahme von hochproblematischen Kinderschutzverläufen“, sagt
       Norbert Müller, kinder- und jugendpolitischer Sprecher der Fraktion. Die
       geplanten Änderungen stärkten vor allem Misstrauen, nicht aber die Familien
       und ihre Kinder.
       
       Wann das Gesetz in Kraft tritt, ist noch offen. Bundestag und Bundesrat
       müssen dem Gesetz noch zustimmen.
       
       29 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Neue-Jugend-Einrichtung-in-Hamburg/!5711489
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rieke Wiemann
       
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