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       # taz.de -- Buch über den Genozid an den Armeniern: Auf der Flucht vor dem Völkermord
       
       > Arshaluys Mardigian gelang als Haussklavin die Flucht vor den
       > völkisch-nationalistischen Türken. Ihr Zeitzeugenbericht war ein großer
       > Erfolg.
       
   IMG Bild: Undatierte Fotografie von deportierten Armenier*innen
       
       Vieles an dem Augenzeugenbericht von Arshaluys Mardigian liest sich
       frappierend aktuell. Die Qualen der Flucht, die Vergewaltigungen der
       Frauen. Erniedrigung und Folter in Gefangenenlagern, dazwischen immer
       wieder Berichte von Massakern.
       
       Der Augenzeugenbericht könnte aus den [1][Kriegsjahren des
       auseinandergefallenen Jugoslawiens] oder aus Afrika von Flüchtlingen, die
       sich nach Libyen durchschlagen, handeln. Doch er ist bereits mehr als
       hundert Jahre alt und beschreibt den [2][Völkermord an der armenischen
       Minderheit] im Osmanischen Reich 1915 aus dem Erleben eines jungen Mädchens
       auf der Flucht.
       
       Viele Passagen sind beim Lesen nur schwer erträglich. Besonders wenn die
       Autorin schildert, wie ihre Familienangehörigen ermordet werden. Die
       Familie Mardigian lebte in Ostanatolien in einer Kleinstadt zwischen dem
       heutigen Tunceli und Elazığ, das damals Harput hieß und ein armenisches
       Zentrum war.
       
       Ihr Vater war ein wohlhabender Bankier, sie und ihre Geschwister gingen auf
       Missionsschulen und genossen eine europäische Bildung. Gemessen am
       Analphabetentum der kurdischen Nomaden und türkischen Bauern in der Gegend
       um sie herum, gehörten sie zu einer Elite. Aber als ethnische und religiöse
       Minderheit eben auch zu einer gefährdeten Elite, wie vorangegangene
       Massaker an Armeniern am Ende des 19. Jahrhunderts zeigten.
       
       ## Als eine der Wenigen gelang ihr die Flucht
       
       Der Augenzeugenbericht selbst ist sehr eindringlich, geht auf die
       historischen Hintergründe aber kaum ein und lässt Leser, die die Geschichte
       des Völkermords an den osmanischen Armeniern nicht kennen, sicher häufig
       ratlos zurück. Dieser Mangel, der einem Erlebnisbericht aber inhärent ist,
       wird etwas aufgefangen durch ein Nachwort der Wissenschaftlerin und
       Menschenrechtsaktivistin Tessa Hofmann, die die damaligen Ereignisse
       detailliert beschreibt.
       
       Entstehen konnte der Zeitzeugenbericht von Mardigian nur, weil sie zu den
       Wenigen gehörte, denen damals die Flucht gelang. Sie konnte aus einem Harem
       eines reichen Türken fliehen, der sie als junges hübsches Mädchen aus den
       Flüchtlingskolonnen heraus gekauft hatte, um sie zu einer Art Haussklavin
       zu machen. Mithilfe eines armenischen Schäfers, der für den
       Großgrundbesitzer arbeitete, gelang ihr die Flucht.
       
       Wochen- und monatelang versteckte sie sich in den unwegsamen Gegenden des
       Dersim-Gebirges und ließ sich immer wieder von den dort lebenden
       alevitischen Kurden als Gehilfin anheuern, um an Lebensmittel zu kommen.
       Weil sie von diesen aufständischen Kurden nicht verraten wurde, gelang es
       ihr schließlich, das von den Russen eroberte Erzerum zu erreichen und dort
       Kontakt zu amerikanischen Missionaren aufzunehmen.
       
       Dass der Völkermord während des Ersten Weltkriegs stattfand, in dem etliche
       Armenier auf seiten der Russen kämpften, erfährt man nur sehr kursorisch.
       Auch dass das Deutsche Reich als Bündnispartner der Osmanen in den
       Völkermord tief verstrickt war, wird weder in dem Augenzeugenbericht noch
       in dem Nachwort von Tessa Hofmann thematisiert. Stattdessen beschäftigt
       sich Tessa Hofmann eingehender und aufschlussreich mit dem Schicksal der
       jungen Armenierin, nachdem sie in den USA angekommen war.
       
       ## Sogar in Hollywood verfilmt
       
       Ihr Augenzeugenbericht, der von einem amerikanischen Journalisten
       aufgeschrieben wurde, wurde ein großer Erfolg und schließlich sogar in
       Hollywood verfilmt. Der jungen Frau bekam der Rummel, der um sie entstand,
       schlecht. Als die Sensation vorbei war, wurde sie aussortiert und
       vergessen. Immerhin wurden aus den Einnahmen von Buch und Film auch größere
       Summen für armenische Hilfsorganisationen bereitgestellt, die sich um die
       Überlebenden des Völkermords kümmerten.
       
       Wer das Buch heute vor dem Hintergrund [3][des letzten Krieges zwischen
       Aserbaidschan und Armenien] um das Berggebiet Karabach liest, [4][versteht
       die Ängste der Armenier vor „den Türken“] besser, wie die Aserbaidschaner
       in Armenien durchgehend bezeichnet werden. Solange in der Türkei und
       Aserbaidschan [5][der Völkermord von 1915 nicht anerkannt] wird, wird sich
       daran auch nichts ändern.
       
       Das Buch ist als Neuauflage der ursprünglichen englischen Fassung von 1918
       im zu Klampen Verlag erschienen. Der Verlag hat sich bereits 2005 mit der
       Herausgabe der von Wolfgang Gust edierten Dokumente des Auswärtigen Amts
       zum Völkermord 1915 große Verdienste um die Sache erworben.
       
       18 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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