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       # taz.de -- Enkel über seine Oma Ingeborg Rapoport: „Sie war sehr bescheiden“
       
       > Die dritte Staffel von „Charité“ erzählt von der Ärztin Ingeborg
       > Rapoport. Ihr Enkel findet ihre Darstellung gut, nicht aber die der
       > historischen Umstände.
       
   IMG Bild: Nina Kunzendorf (Mitte) in der Rolle als Kinderärztin Dr. Ingeborg Rapoport
       
       taz: Herr Rapoport, die ARD-Serie „Charité“ erzählt in der aktuellen,
       dritten Staffel die Geschichte der 2017 verstorbenen Ärztin Ingeborg
       Rapoport, einer berühmten Medizinerin, Begründerin unter anderem der
       Neonatologie, der Säuglingsheilkunde – ihre Großmutter. Wird sie für Sie
       „richtig“, also nachfühlbar gezeigt? 
       
       Daniel Rapoport: Ja – innerhalb dessen, was in einer TV-Serie möglich ist,
       erkenne ich sie gut wieder. In Wirklichkeit war Imo – wie sie in der
       Familie heißt – aber viel quirliger und witziger. In der Serie ist sie ein
       bisschen übertrieben mütterlich und ernsthaft gezeichnet. Sie hatte immer
       was Mädchenhaftes, bis ins hohe Alter. Aber dieses Offene, Zugewandte, tief
       an Menschen interessierte, das von Nina Kunzendorf dargestellt wird, das
       hatte [1][meine Großmutter] auch. Tatsächlich hat sich die Kunzendorf den
       Augenaufschlag meiner Imo so genau abgeguckt, dass ich lachen musste. Wie
       gesagt, es soll ja kein Biopic über meine Großmutter sein, sondern eine von
       der Wirklichkeit inspirierte Soap. Und innerhalb dieses Anspruchs kann ich
       Imo ganz gut wiedererkennen.
       
       Werden Ihrer Perspektive nach die „Charité“-Folgen der Komplexität der
       Biografie Ihrer Großmutter gerecht – als in Hamburg geborene Jüdin vom
       Holocaust verfolgt, Emigration auch in die USA, dort madig gemacht worden
       durch die Kommunistenfresserei McCarthys in den frühen 50er Jahren,
       schließlich Übersiedlung in die DDR? 
       
       Man kann so eine TV-Serie nicht mit Ansprüchen überfrachten. Natürlich wird
       die Vielschichtigkeit einer Person fast nie im Film erfasst. [2][Auch
       „Charité“ leidet] an dem Fluch, seine Figuren nur durch Handlungen
       darstellen zu können. Innere Monologe fallen meistens weg. Drehbuchautoren
       müssen ihre Figuren verflachen, um deren Handlungen begreiflich zu machen.
       Es ist schon der Gipfel des Genres, wenn man einer Figur noch ein bisschen
       Widersprüchlichkeit mitgibt. Aber das ist das Ambivalente – daran scheint
       das Publikum kein Interesse zu haben. Das Fernsehen und sein Publikum haben
       sich über die Jahre einander so erzogen, dass Fragen nach Tiefe und
       Wahrhaftigkeit im Grunde obsolet geworden sind.
       
       Warum war für Ihre Großmutter die DDR der auch in medizinischer Hinsicht
       bessere Teil von Deutschland? 
       
       Die DDR war für sie der Teil Deutschlands, der eine antifaschistische
       Doktrin verfolgte. Das zog damals, nach dem Nationalsozialismus, viele
       Intellektuelle an. Sodann war es der Teil Deutschlands, der sich
       vorgenommen hatte, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, und meine
       Großeltern waren ja Kommunisten. Dann gab es eine Menge ganz grundlegender
       Regelungen, die in den Augen meiner Großeltern zu mehr Gerechtigkeit
       führten. Das Gesundheitswesen war für jeden gleichermaßen da, die Mieten
       waren niedrig, dieses ganze existenzielle Elend, das am Geldverdienenmüssen
       hängt, war aus der Welt. Und das Land gab vielen und vor allem natürlich
       Menschen wie meinen Großeltern das Gefühl, gebraucht zu werden und etwas
       mitgestalten zu können.
       
       Aus welchen Gründen, Ihrer Erinnerung nach, wurde sie auch nach dem Fall
       der „Mauer“ nicht zur Dissidentin in Sachen Sozialismus? 
       
       Warum Imo nach 1990 nicht dem Sozialismus abschwor? Erstens erschien es ihr
       unanständig, Überzeugungen abzulegen, nur weil sie nicht von den meisten
       geteilt wurden. Und zweitens hat sich durch den Fall der Mauer tatsächlich
       nichts an den Gründen dieser Überzeugungen geändert. Sie wusste ja vorher
       schon von den Ungerechtigkeiten in der DDR. Gegen einige von denen hatte
       sie selbst gekämpft. Es brauchte nicht den Fall der Mauer, um ihr
       klarzumachen, dass der Sozialismus in der DDR gravierende Mängel hatte.
       Eine Enttäuschung war sicher, dass sie diese Mängel für reparabel hielt und
       dann lernen musste, dass die meisten Menschen an Reform nicht interessiert
       waren.
       
       Ist die Schilderung der DDR einschließlich Mauerbau 1961 in „Charité“
       angemessen dargestellt? 
       
       Sachlich macht die Serie vieles richtig, ja. Zum Beispiel, dass der DDR
       durch die offene Grenze ständig Fachkräfte verloren gingen. Oder dass es
       Anfang der 60er Jahre in der DDR, im Gegensatz zur Bundesrepublik, eine
       Impfung und eine Impfpflicht gegen Polio gab. Auch dramaturgisch schlägt
       das Ende einen schönen Bogen. Ich will es hier aber nicht spoilern.
       Trotzdem finde ich den Einfall, die Serie in den Tagen des Mauerbaus
       stattfinden zu lassen, letztlich nicht gut. Es ist klar, dass diese
       Ereignisse dann alles überschatten. Die Mauer ist sozusagen die geheime
       Hauptperson der Serie, neben der alle anderen und selbst die Charité
       [3][zur Kulisse mit Statisten] werden. Dadurch müssen dann ständig
       Kampfgruppen und Polizisten durchs Bild springen, es wird geschossen,
       irgendein Parteisekretär ergeht sich in bedrohlich zweideutigen
       Bemerkungen, es wird immerfort übers Eingesperrtsein geredet und so weiter.
       Vermutlich ist das tatsächlich auf eine Weise angemessen, wenn der Mauerbau
       die Hauptrolle spielt, aber es ist, auf DDR und Charité als Ganzes bezogen,
       doch sehr einseitig.
       
       Wäre Ihre Großmutter mit der Serie, in der ihre Geschichte eine der
       tragenden Rollen spielt, einverstanden? 
       
       Eher nicht. Es gibt ja einen – übrigens sehr guten – Dokumentarfilm über
       meine Großeltern, der derzeit auch noch in der Mediathek von ARD und ZDF
       abrufbar ist. Schon als der gedreht wurde, waren meine Großeltern im
       Zweifel, ob sie das überhaupt machen sollten. Es erschien ihnen nicht
       schicklich, sich in den Mittelpunkt eines Filmes zu stellen und auch in
       gewisser Weise zu entblößen. Und da ging es lediglich um nicht fiktive
       Geschichten. Ich glaube, als Figur in fiktiven Geschichten aufzutreten, das
       hätte ihr nicht behagt.
       
       Hätte sie so etwas wie Stolz empfunden, dass ihre Lebensleistung in dieser
       Weise dargestellt wird? 
       
       Ganz sicher nicht. Sie war tatsächlich sehr bescheiden, was diese Art der
       Würdigung betrifft. Orden, Titel, Öffentlichkeit: So was galt meiner
       Großmutter letztlich wenig. Ihr lag viel an den Menschen, die sie kannte;
       aber dieses Hineintrompeten ihres Namens und ihres Lebens in das Leben
       anderer, die sie gar nicht kannte, das war ihr eher suspekt. Das heißt aber
       nicht, dass ich als Enkel nicht ein bisschen stolz auf sie bin und froh,
       dass ihr Wirken erinnert und auf eine Weise auch aktualisiert wird.
       
       Sie sind nun selbst „gelernter“ DDR-Bürger und arbeiten jetzt als
       Zelltechnologe in Lübeck. Wird die DDR, wird das Deutschland der
       Nachnazizeit in TV-Serien nachvollziehbar erzählt? 
       
       Ich schaue nur selten TV-Serien. Aber wenn ich mal einschalte, dann haben
       solche Filme eigentlich nur die zwei immergleichen Sujets: Entweder die RAF
       oder die DDR. Manchmal – seltener – gibt es noch Sachen, die im
       neofaschistischen Milieu angesiedelt sind. Man sieht: alles Dinge, die den
       deutschen Weltbürger milde schaudern machen. Und das ist auch der Zweck und
       die Wirkung dieser Gegenstände in TV-Serien. Ihren Reiz und ihre
       Faszination ziehen sie aus dem Gruseln und der Erleichterung, dass sie
       vergangen oder weit weg sind. Vorderhand soll nichts verständlich gemacht,
       sondern unterhalten werden. Dass manches in Deutschland dann furchtbar
       didaktisch rüberkommt und anderes trotzdem erhellt, ist vielleicht noch ein
       letztes Erbe Schillers, mit seiner „Schaubühne als moralischer Anstalt“.
       
       Woran fehlt es bei deutschen TV-Serien? 
       
       Als gelernter DDR-Bürger komme ich von Leuten wie Bertolt Brecht, Peter
       Hacks oder meinetwegen Thomas Brasch. Das heißt, ich möchte das Ganze in
       all seinen Widersprüchen, seiner Ambivalenz – auch im Fernsehen, etwa bei
       TV-Produktionen, die deutsche Vergangenheit thematisieren. Aufreizend soll
       es sein und komplex. Gern ärgerlich, aber klug und schwierig. Und witzig.
       Die Dialektik, der ich viel weniger abgewinnen kann als viele Linke, ist
       für mich trotzdem das gültige Paradigma der Dramatik. Da gehört sie hin,
       ins Theater und in den Film. Wenn Sie mich fragen, was fehlt, wäre es mit
       einem Wort: Dialektik.
       
       4 Feb 2021
       
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