URI: 
       # taz.de -- Jugendliche und Corona: Sprachlos im Stimmengewirr
       
       > Für die Studie JuCo 2 wurden junge Menschen zu ihren Erfahrungen in der
       > Coronazeit befragt. Viele blicken sorgenvoll in die Zukunft.
       
   IMG Bild: Persönliche Gespräche mit Freunden fehlen. Viele Jugendliche fühlen sich einsam
       
       Die zurückliegenden Monate nagen an den Nerven. Die Entwicklung des
       Infektionsgeschehens, die Varianten der Maßnahmen und
       Kontaktbeschränkungen, die Mutationen des Virus und vor allem die tägliche
       Benachrichtigung über die Infektionszahlen, die Angaben vom RKI über
       Menschen, die an oder mit Corona verstorben sind, führen in allen
       Altersgruppen zu Verunsicherung, psychischer Belastung und teilweise zu
       Abwehr. „Verantwortung“ ist ein zentraler Begriff der öffentlichen
       Diskussion, insbesondere wenn es darum geht, dass im individuellen Alltag
       die Regeln von jeder einzelnen Person eingehalten werden.
       
       Damit werden auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in die
       Verantwortung für eine gelingende Strategie gegen die Ausbreitung des Virus
       genommen. Was jeweils erwartet wird, ist [1][mindestens für jüngere
       Kinder], aber auch für Jugendliche und junge Erwachsene nicht immer zu
       durchschauen. Wofür Einzelne verantwortlich gemacht werden und wofür sie
       sich verantwortlich fühlen, wenn das Infektionsgeschehen öffentlich
       diskutiert wird, bleibt jenseits klar definierter Regeln – im Bus einen
       Mund-Nasen-Schutz zu tragen – diffus.
       
       Während einerseits ein Stimmengewirr über Verantwortung zu beobachten ist,
       sind andererseits wichtige Themen eher durch Sprachlosigkeit geprägt.
       Beides, Stimmengewirr und Sprachlosigkeit, betreffen derzeit auch
       Lebenswelt und Lebensgefühl junger Menschen sowie die gesellschaftliche
       Diskussion über Jugendliche und junge Erwachsene.
       
       Pflegekräfte, das könnte im Zuge der Pandemie allen deutlich geworden sein,
       sind die menschliche Brücke zwischen isolierten Erkrankten und ihren
       Angehörigen. Dass auch junge Menschen in Kliniken arbeiten, wird hingegen
       selten thematisiert.
       
       „Ich bin Pflegekraft im Krankenhaus, die neuen Einschränkungen und
       steigende Zahlen der Coronapatienten bei uns verursachen viel
       Unsicherheit.“ In mehr als 1.400 eindrücklichen Kommentaren haben
       Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen einer Studie ihre Stimmung,
       ihren Alltag, ihre soziale Lage und ihre Meinung kommuniziert. Die
       Pflegekraft ist eine von über 7.000 Personen zwischen 15 und 30 Jahren, die
       an der bundesweiten Jugendstudie JuCo 2, die im November 2020 durchgeführt
       wurde, teilgenommen haben [2][(www.doi.org/10.18442/163)]. Die Mehrheit war
       unter 20 Jahre alt, 70 Prozent waren weiblich, 20 Prozent hatten einen
       Migrationshintergrund, 30 Prozent gaben an, in einer Großstadt zu leben, 30
       Prozent auf dem Land und der Rest in kleineren oder mittleren Städten.
       
       Verantwortung für Andere 
       
       Die zitierte junge Pflegekraft eines Krankenhauses steht hier
       stellvertretend für all diejenigen, die derzeit in jungem Alter
       Verantwortung für Andere tragen, aber als Angehörige dieser Altersphase nur
       wenig im Blick sind. Denn einerseits wird unter den Eindrücken der Pandemie
       der Mangel etwa bei der Digitalisierung der Bildung beziehungsweise
       fehlenden tragfähigen Konzepten wie unter einem Vergrößerungsglas besonders
       viel Raum gegeben und vielstimmig diskutiert.
       
       Andererseits wirkt die öffentliche Diskussion monothematisch, denn andere
       Phänomene, Ereignisse oder soziale Gruppen stehen im Schatten der
       Aufmerksamkeit. [3][Schülerinnen und Schüler] kritisieren, dass sie derzeit
       auf diese eine Rolle reduziert werden und funktionieren sollen, aber, so
       ließe sich argumentieren, immerhin wird über Schule, Präsenz- oder
       Fernunterricht heftig gestritten. Nicht wenige Schulkollegien hätten sich
       diese Aufmerksamkeit vermutlich früher gewünscht.
       
       Die Ökonomie der Aufmerksamkeit führt dazu, dass andere Orte, die den
       Alltag von Jugendlichen und jungen Erwachsenen prägen, unsichtbar sind und
       damit auch die Aufgaben, die jugendliche Akteure im Beruf, in der
       Ausbildung, im Ehrenamt etwa bei der telefonischen Beratung von
       Gleichaltrigen immer samstags von 14 bis 20 Uhr übernehmen
       ([4][www.nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendtelefon.html]).
       
       Bei der Jugendbefragung im November kamen 40 Prozent der Teilnehmerinnen
       und Teilnehmer aus der Schule, 23 Prozent waren im Studium, etwa 12 Prozent
       waren erwerbstätig, 7,5 Prozent in Ausbildung und etwas mehr als 10 Prozent
       waren in einem Freiwilligendienst tätig. Diese Verteilung gibt einen
       kleinen Überblick darüber, dass die Lebensumstände junger Menschen
       vielfältiger, aber in der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht repräsentiert
       sind. Unbenommen ist die Situation für Schülerinnen und Schüler schwierig,
       doch erstens kann die Schule allein die Belastungen dieser Krise für
       Jugendliche nicht ausbalancieren und zweitens ist niemandem geholfen, wenn
       andere biografische Stationen zwischen 15 und 30 Jahren marginalisiert
       werden.
       
       Einsamkeit und Sorge 
       
       Die Konzentration auf einige wenige Themen trägt zudem mit dazu bei, dass
       andere Aspekte zu beschwiegenen Erscheinungen der Pandemie werden. Die
       erste Auswertung der Befragung zeigt einen großen Anteil an jungen
       Menschen, die sich einsam fühlen (über 30 Prozent) und sorgenvoll in die
       Zukunft blicken (45 Prozent). Hinzu kommt die Sorge, ältere Angehörige
       könnten sich anstecken und erkranken.
       
       So ist nicht nur die junge Pflegekraft davon betroffen, in dieser Pandemie
       eine große Verantwortung für besondere verletzliche Menschen zu tragen,
       auch im nahen Umfeld von Jugendlichen hat dies ein neue Dimension erhalten.
       Doch die damit einhergehenden Zweifel, der Wunsch, eine solche
       Verantwortung vielleicht auch mal zurückweisen zu können, und
       Verunsicherung haben allenfalls im Privaten einen Raum, zur Sprache
       gebracht zu werden.
       
       In den Kommentaren der Studie wird dies thematisiert: „Vielen geht es
       psychisch nicht gut und manchmal weiß ich nach einer Nachricht oder einem
       Anruf nicht, ob sie die nächste Nacht überstehen werden. Dann sitze ich da
       und hoffe. Hoffe, dass ich nicht hätte eigentlich zu diesen Personen fahren
       müssen, dass ich mich richtig entscheide, indem ich zu Hause sitzen bleibe,
       niemanden ‚gefährde‘. Ich fühle mich überfordert und schutzlos und
       irgendwie ein bisschen, als könnte ich nichts richtig machen. Wir jungen
       Menschen versuchen, glaube ich, ganz verzweifelt alles richtig zu machen,
       verantwortungsvoll zu handeln.“
       
       Wo wird darüber gesprochen, dass Jugendliche sich verantwortlich fühlen,
       wenn sie einen depressiven Freund wegen der Kontaktbeschränkungen nicht
       besuchen können und zugleich das Gefühl haben, ihn im Stich zu lassen? In
       der Studie schreiben Jugendliche auch über Großeltern in
       Pflegeeinrichtungen, die sie nicht besuchen können oder wollen: „Ich bin
       oft traurig und mich belastet es, dass ich meine Großeltern nicht mehr
       umarmen kann. Außerdem ist meine Oma seit Kurzem im Krankenhaus und ich
       kann sie nicht besuchen.“
       
       Fehlende Ablenkung 
       
       Die um die Weihnachtszeit kurz aufgeflammte Diskussion über ein
       öffentliches Gedenken an die Verstorbenen, die mit Covid-19 infiziert
       waren, hat für einen Moment die Aussicht darauf eröffnet, sprachfähig zu
       werden und Verantwortungsgefühle zu teilen. Die Zeit scheint dafür aber
       noch nicht reif zu sein. So bekommen Jugendliche und junge Erwachsene eine
       gesellschaftliche Sprachlosigkeit über den Verlust von Nähe zwischen
       Generationen besonders zu spüren und sie haben außerhalb der Familie und
       der digitalen Kommunikation kaum Räume, in denen sie wenigstens zeitweise
       auf andere Gedanken kommen, abgelenkt werden oder aber das Gespräch über
       persönliche Verluste und diffuse Gefühle suchen können.
       
       Jeden Tag werden wir über die aktuelle Zahl der an und mit Covid-19
       Verstorbenen informiert. Auch Jugendliche gehören mit hoher
       Wahrscheinlichkeit zu den Hinterbliebenen. Ihr Opa sei an Corona gestorben,
       hat eine JuCo-2- Studienteilnehmerin mitgeteilt und das sei neben der
       persönlichen Zukunftsangst eine Bürde, die sie müde mache und lähme.
       
       Und wer den Gedanken zulässt, dass sich viele der Verstorbenen nicht von
       ihren Angehörigen oder nahen Freundinnen und Freunden verabschieden
       konnten, dass sie ihre letzten Tage an Beatmungsmaschinen verbracht haben,
       wird auch die zitierten Studienteilnehmerinnen besser verstehen: Vieles
       macht derzeit traurig und viele fühlen sich belastet und nicht immer gibt
       es im nahen Umfeld gute Gelegenheiten, sich auch über den Tod, die damit
       verbundenen Ängste sowie über gemeinsame Erinnerungen auszutauschen. Hier
       lohnte sich der Austausch über Verantwortung und Sprachlosigkeit.
       
       24 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kindern-Corona-erklaeren/!5671103
   DIR [2] http://(https://doi.org/10.18442/163)
   DIR [3] /Schulstart-in-der-Coronakrise/!5702054
   DIR [4] https://www.nummergegenkummer.de/kinder-und-jugendtelefon.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Andresen
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Jugendliche
   DIR Studie
   DIR Einsamkeit
   DIR Pflege
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Schule und Corona
   DIR Geht's noch?
   DIR Schule und Corona
   DIR Pflegekräftemangel
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Psychische Folgen von Corona: Generation kontaktlos
       
       Kinder und Jugendliche leiden besonders in der Pandemie. Schüler:innen,
       Therapeut:innen, Sozialarbeiter:innen und andere Betroffene
       erzählen.
       
   DIR Corona bei Jugendlichen: Junge Leute sorgen sich
       
       EIne Studie zeigt hohe Zustimmung junger Menschen für
       Corona-Schutzmaßnamen. Aber sie haben Zukunftsängste und wollen mehr
       mitreden.
       
   DIR Alkoholverbot in Hamburg: Schampus statt Kioskbier
       
       Der Hamburger Senat vertreibt Jugendliche aus Parks und Straßen. Doch das
       Alkoholverbot gilt nicht für alle: In teuren Bars darf man weiter saufen.
       
   DIR Corona-Politik in Hamburg: Kein Raum für Kinder
       
       In Mümmelmannsberg stehen fünf Turnhallen leer, in denen die Elternschule
       Familien Bewegung und Beratung anbieten möchte. Die Stadt erlaubt das
       nicht.
       
   DIR Gesundheitsökonom über Coronakrise: „Auf schwere Fälle konzentrieren“
       
       Das deutsche Gesundheitssystem kommt in der Pandemie an seine Grenzen.
       Gesundheitsökonom Jonas Schreyögg dazu, warum das keine Frage des Geldes
       ist.
       
   DIR Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: 15-km-Regel in Bayern gekippt
       
       Die Regel sei nicht klar genug, so ein Münchner Gericht. Das RKI meldet
       knapp 6.400 Neuinfizierte. Jens Spahn befürwortet Exportkontrollen für
       Impfstoffe.
       
   DIR Mitbestimmung in der Pandemie: Thüringen startet Coronabürgerrat
       
       In der Coronakrise sollen die BürgerInnen des Freistaats ab Dienstag die
       Politik beraten. Ähnliche Gremien gibt es auch schon in anderen Ländern.
       
   DIR Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Moderna-Impfstoff wirkt bei Mutante
       
       Allerdings könnte für den vollen Schutz gegen die Mutation aus Südafrika
       eine dritte Impfung nötig sein. In den Niederlanden eskalieren
       Anti-Lockdown-Proteste.
       
   DIR Trauern während Corona: „Alles ist gerade zu viel verlangt“
       
       Seit Corona sterben viele Menschen allein. Unerträglich, findet Petra Bahr
       vom Deutschen Ethikrat. Ein Gespräch über Schuld, Scham und Trauer.
       
   DIR Schulstart in der Coronakrise: Die große Rückkehr
       
       Die Sommerferien gehen zu Ende – und der Ruf nach Digitalisierung ist so
       laut wie nie. Doch das Wichtigste bleiben pädagogische Kompetenzen.
       
   DIR Kindern Corona erklären: Wenn Normalität weg ist
       
       Kinder haben ein Recht auf Gegenwart. Wie kann man ihnen in den Zeiten der
       Pandemie den Ernst der Lage vermitteln, ohne sie zu verängstigen?