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       # taz.de -- Flüchtlingspolitik des Senats: „Viele haben Angst vor dem Amt“
       
       > Diana Henniges von Moabit hilft und Andreas Toelke von Be an Angel ziehen
       > ein ernüchterndes Fazit aus vier Jahren rot-rot-grüner
       > Flüchtlingspolitik.
       
   IMG Bild: Demonstration Ende Januar 2021 für eine sofortige EU-Aufnahme von Geflüchteten
       
       taz: Frau Henniges, Herr Toelke, lassen Sie uns zu Beginn des Wahljahres
       eine erste Bilanz der Flüchtlingspolitik von Rot-Rot-Grün ziehen. Die sieht
       ja nicht schlecht aus: Die zuständigen Verwaltungen wurden reformiert,
       Notunterkünfte geschlossen, neue Heime gebaut, [1][ein Aufnahmeprogramm für
       Griechenland-Flüchtlinge aufgelegt und Horst Seehofer verklagt] … 
       
       Andreas Toelke: Verklagt, schön, aber mit welchem Ergebnis? Das reicht doch
       nicht. Wir haben seit über vier Jahren diese schreckliche Situation an den
       EU-Außengrenzen. Es geht permanent nach unten mit den humanitären Werten,
       das Asylrecht wird mit Füßen getreten. Dann nach drei Jahren R2G mit einem
       Landesaufnahmeprogramm zu kommen, ist eine Feigenblattpolitik vom Senat und
       SPD-Innensenator Andreas Geisel.
       
       Aber was kann Berlin sonst machen? 
       
       Toelke: Ein juristisches Gutachten von den Grünen hat schon vor zwei Jahren
       festgestellt, es gibt Optionen, auch wenn der Bundesinnenminister nicht
       zustimmt. Ein Bundesland könnte so ein Aufnahmeprogramm mit
       Selbsteintrittsrecht durchziehen – aber kein einziges hat sich getraut.
       
       Wie soll das gehen, selber Flugzeuge chartern und Leute herholen? 
       
       Toelke: Ja, genau das.
       
       Diana Henniges: Da stehen zwar einige praktische und juristische Hürden im
       Weg, etwa eine Fluggesellschaft finden, die das macht – aber im Prinzip
       sehe ich das wie Andreas. Da ist viel Symbolpolitik dabei. Das sieht man
       auch daran, dass [2][Menschen, die auf anderen Wegen aus Moria und
       vergleichbaren Lagern hierher kommen], eben nicht einfach aufgenommen
       werden, sondern dass man ihnen Steine in den Weg legt.
       
       Erklären Sie doch mal, wie das aussehen kann. 
       
       Henniges: Sie werden in andere Bundesländer umverteilt ohne Rücksicht
       darauf, dass sie hier über uns eine soziale und humanitäre Anbindung haben.
       Weil wir, also Moabit hilft oder Be an Angel, sie oft schon in Griechenland
       unterstützt haben – indem wir Geld schickten, bei den Papieren halfen, den
       Flug bezahlten, sie auf die Asylanhörung vorbereiteten und so fort.
       Trotzdem wird uns vom LAF (dem Landesamt für Flüchtlingsfragen, Anm. d.
       Red.) gesagt, danke, ihr könnt gehen, wir schicken die Leute jetzt nach
       Chemnitz oder sonst wo hin. Kurz: Die vollmundigen Versprechungen der
       Politik passen nicht mit dem Handeln der Verwaltung zusammen.
       
       Toelke: Volle Zustimmung. Wir gehen regelmäßig mit Geflüchteten, die wir
       seit Griechenland begleiten, zur Registrierung beim LAF. Wir haben ein
       anwaltliches Schreiben über ihre Rechtsvertretung dabei plus einem
       Schreiben, dass wir als Organisation ihr humanitärer und soziales
       Anknüpfungspunkt sind. Diese Schreiben werden einfach ignoriert! Und
       freitagabends – merkwürdigerweise passiert das wirklich oft dann, wenn man
       niemanden mehr beim Amt erreicht – kommt die Polizei in die Unterkunft und
       drückt den Leuten Tickets nach irgendwo in die Hand.
       
       Kann denn das LAF einfach das bundesweite Verteilsystem von Asylbewerbern
       aussetzen? 
       
       Henniges: Natürlich könnte es sagen, wir möchten diesen Einzelfall in
       Berlin behalten. Im Koalitionsvertrag steht, dass man in Einzelfällen
       zugunsten des Geflüchteten entscheiden will.
       
       Sehen Sie dahinter eine Absicht? Dass man gerade Ihre „Schützlinge“
       kritisch anschaut? 
       
       Henniges: Manchmal denken wir das. Aber wahrscheinlich ist es einfach
       russisches Roulette und kommt auf den Sachbearbeiter an. Der eine reißt
       sich fast ein Bein aus und kooperiert gut mit uns, der andere lässt uns
       nicht mal mit ins Büro, wenn er einen Klienten von uns zu sich bestellt.
       Manche Sachbearbeiter wollen für jedes neue Schreiben, das wir ihnen zu
       einem Fall schicken, immer wieder unsere schriftliche Vollmacht sehen. Als
       ich kürzlich einem Sachbearbeiter beim LAF sagte: Sie haben doch seit zwei
       Jahren meine Vollmacht für diesen Fall, sagte er zu mir, er könne solche
       Dokumente nicht in der Akte ablegen.
       
       Das klingt weniger nach Schikane als nach dem alten Lageso-Problem mit
       chaotischen Papierakten. 
       
       Toelke: Ist ja auch dasselbe Amt, nur umbenannt – aus Raider wurde Twix.
       
       Aber sind wenigstens die Bearbeitungszeiten beim LAF schneller geworden? 
       
       Henniges: Nicht wirklich. Teilweise ist man mit einem Fall Monate befasst,
       weil man immer wochenlang auf Antwort wartet. Und wir bekommen keine
       Termine – geht ja jetzt nicht wegen Corona, das ist auch immer eine gute
       Entschuldigung – und so passiert wochenlang nichts, und Menschen stehen
       völlig hilflos da.
       
       Toelke: Auch die Umgangsformen haben sich nicht verändert. Die Securitys
       beim LAF benehmen sich weiterhin katastrophal.
       
       Henniges: Ja, sie sind verbal wie physisch übergriffig. Wir reden zwar
       nicht von Schlägen, aber von Schreien, Schubsen, Am-Ärmel-Zerren – dass es
       das in einer deutschen Behörde immer noch gibt, ist unglaublich. Ich habe
       auch ein Jahr Hausverbot beim LAF in der Darwinstraße gehabt, nachdem mich
       ein Sicherheitsmann angeschrien und gestoßen hat.
       
       Toelke: Auch bei den Sachbearbeitern ist der Ton oft so, dass man ihnen am
       liebsten einen Knigge um die Ohren hauen würde. Da wird aus dem Stand
       geduzt, und es wird offenbar davon ausgegangen, dass das Gegenüber
       brezelblöd ist, wenn es keine perfekte deutsche Grammatik hat. Auch ich
       mache mich innerlich jedes Mal auf einen Kampf gefasst, wenn ich jemanden
       aufs Amt begleite. Eigentlich müsste immer ein „Deutscher“ mitgehen zu
       Terminen, das erhöht nach unserer Erfahrung deutlich die Chance, dass ein
       Geflüchteter seine Rechtsansprüche durchgesetzt bekommt.
       
       Das ist institutionalisierter Rassismus, oder? 
       
       Henniges: Ja, das ist systemischer Rassismus. Manche haben das auch
       verstanden und tun etwas dagegen. Die Jobcenter zum Beispiel sind viel
       besser geworden, die antworten schnell und fachlich gut. Auch die
       Ausländerbehörde möchte ich mal loben, nicht nur wegen ihres neuen
       Ombudsmanns für Beschwerden. Insgesamt erkenne ich beim Behördenchef
       Engelhard Mazanke ein Bemühen um verbesserte Kommunikation und Transparenz,
       mit ihm können wir auf Augenhöhe reden.
       
       Was hat Rassismus mit Kommunikation zu tun? 
       
       Henniges: Es geht um eine Behördenkultur, in der man Geflüchteten und
       Initiativen wie uns glaubt, dass dieser oder jener Sachbearbeiter schon
       öfter mit rassistischen Äußerungen auffällig geworden ist. Dass man das
       nicht kleinredet oder gar vertuscht. Langfristig kann dem Rassismus nur
       begegnet werden, wenn die Diversität in den Behörden vorankommt. Dazu wird
       ja hoffentlich auch das neue Partizipationsgesetz beitragen. Es müssen
       Mitarbeiter in Antirassismus geschult werden, es muss Beschwerdestellen in
       den Behörden direkt geben. Es darf nicht sein, dass alles nur über
       Untätigkeitsklagen oder Dienstaufsichtsbeschwerden geklärt werden kann.
       
       Die Beschwerdemöglichkeiten haben unter R2G enorm zugenommen. Es wird einen
       Polizei- und Bürgerbeauftragten geben, es gibt eine Beschwerdestelle im
       Rahmen des Landesantidiskriminierungsgesetzes (LAGD), an die man sich bei
       Diskriminierung durch Behörden wenden kann. Jetzt kommt die Berliner
       Unabhängige Beschwerdestelle (Bubs) für Menschen, die in Wohnheimen leben. 
       
       Henniges: Na ja. Bei der Bubs wurde der Bock zum Gärtner gemacht. Das LAF,
       die Heimbetreiber und landeseigene Vermieter wie die BIM, über die man sich
       dort beschweren kann, können ja selber entscheiden, wie sie auf die
       Beschwerden reagieren.
       
       Und das LADG? 
       
       Henniges: Ja, das kann schon seine Wirkung entfalten. Aber R2G hat ziemlich
       lange dafür gebraucht, diese Dinge auf den Weg zu bringen. Politik ist
       immer so furchtbar langsam.
       
       Toelke: Ich denke, oft ist gar nicht die Politik das Problem, sondern die
       Verwaltung, die die Dinge nicht umsetzt oder gar boykottiert.
       
       Henniges: Das Grundproblem ist für mich: Wir Initiativen werden von
       Behörden zumeist als lästige Bittsteller und Berufsmeckerer angesehen –
       entsprechend läuft meist die Kommunikation. Das müsste sich ändern. Denn
       eigentlich haben wir doch dasselbe Ziel: Dinge in dieser Stadt zu
       verbessern für die Menschen. Stattdessen flehen wir ähnlich wie vor fünf
       Jahren, als die Lageso-Krise losging, darum, unterstützen zu dürfen.
       
       Wie steht es mit den Heimen? Das LAF hat viel gebaut, es gibt keine
       Notunterkünfte mehr, man achtet auf die Qualität, will einheitliche
       Standards für alle Wohnheime … 
       
       Toelke: Auf jeden Fall kann man der Integrationssenatorin einen Strauß
       Blumen vorbeibringen, weil sie das schreckliche Ankunftszentrum in den
       Hangars geschlossen hat. Andererseits hat sich die Lage mit den Heimen
       entspannt, weil es einfach weniger Flüchtlinge schaffen, hierherzukommen.
       Trotzdem haben wir das Problem, nicht nur in Berlin, sondern in allen
       Metropolen, dass es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt. Und dass
       Geflüchtete noch mal schlechtere Chancen haben, eine dieser raren Wohnungen
       zu ergattern, weshalb sie teils vier, fünf Jahre in den Heimen bleiben
       müssen, wo einfach kein „normales“ Leben möglich ist.
       
       Henniges: Was ich an der neuen Heimpolitik schwierig finde, ist zum einen
       diese Abstufung der Gemeinschaftsunterkünfte je nach „Betreuungsbedarf“ der
       BewohnerInnen. Dadurch gibt es in der 3. Stufe, der „GU 3“, gar keine
       Sozialarbeiter mehr, da steht nur eine Security vor der Tür. Dabei sind
       auch die Menschen dort längst noch nicht in der Lage, allein einen
       WBS-Antrag zu stellen oder ein Schreiben vom Jobcenter zu verstehen. Zudem
       haben die Securitys in den Heimen immer noch zu viel Macht. Da steht schon
       mal ein Sicherheitsmann ungefragt im Zimmer von BewohnerInnen und schnauzt
       rum. Auch Corona ist ein echtes Problem.
       
       Inwiefern? 
       
       Es werden oft ganze Etagen isoliert, wenn ein Bewohner positiv getestet
       wurde. Da werden dann zig Personen für zwei Wochen eingesperrt, die Leute
       bekommen Vollversorgung.
       
       Kommen die Infizierten nicht in Quarantäne-Unterkünfte? 
       
       Nicht unbedingt beziehungsweise nicht sofort. Und auch hier haben wir
       wieder das Problem, dass das LAF nicht gut kommuniziert. Wir bekommen zum
       Beispiel keine Belegungslisten mehr von den Heimen, um zu erfahren, wo es
       Coronafälle gibt – was für unsere Beratungsarbeit und unsere eigene
       Sicherheit wichtig wäre! Und es ist ja schön, dass das LAF auf seiner
       Website Corona-Infos in 13 Sprachen und auch noch als Podcast anbietet,
       aber das finden doch die Geflüchteten gar nicht! Dafür gibt es in den
       Heimen oft nur spärliche Infos, und wenn etwa eine Isolier-Etage
       eingerichtet wird, weiß manchmal niemand vor Ort Bescheid, höchstens die
       Security. Denn den Sozialarbeiter gibt es gar nicht mehr, oder er ist
       krank. Kurz: Wenn das LAF uns besser informieren würde, könnten wir die
       Infos an unsere Klienten weitergeben. Warum nutzt uns das Amt nicht als
       seine „Soldaten“? Stattdessen macht es eine Informationspolitik, die an
       Ludwig XIV. erinnert: Ich bringe euch einen Happen, wenn mir danach ist.
       
       Mal ganz konkret: Welche Infos bräuchten Sie vom LAF? 
       
       Henniges: Wie kommen wir an Termine? Wann antwortet ihr auf diese Anfrage
       oder jenen Antrag? An wen unter welcher Telefonnummer können wir uns in
       Notfällen wenden?
       
       Toelke: Und schließlich: Warum gibt es keinen Round Table mit Initiativen
       wie unseren, wo man sich über all dies austauschen und gegenseitig
       informieren kann?
       
       Henniges: Ich denke inzwischen, eine solche Öffnung und Transparenz ist von
       der neuen Behördenleitung um Alexander Straßmeir schlicht nicht gewollt.
       Sonst hätte sich da – siehe Ausländerbehörde – in den letzten vier Jahren
       deutlich mehr getan. Aber so ist alles beim Alten geblieben. Und das heißt:
       Wir haben weiterhin viele Klienten, die haben Angst vor dem LAF.
       
       4 Feb 2021
       
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