URI: 
       # taz.de -- Umgang mit Femiziden in Hamburg: Es ist noch viel zu tun
       
       > Die Hamburger Linken wollen eine Monitoringstelle für Femizide. Eine
       > Forderung, die sie auch auf einer Solidaritätskundgebung für Meryem S.
       > erheben.
       
   IMG Bild: Opfer eines Femizids kann jede Frau werden: Protest gegen Gewalt an Frauen
       
       Hamburg taz | Worte können verräterisch sein. Ehedrama, heißt es oft, wenn
       ein Mann eine Frau tötet, weil sie eine Frau ist, Familientragödie,
       Partnerschaftsstreit. Es gibt einen Begriff dafür, der nichts verschleiert,
       nichts relativiert: Femizid. Aber er wird selten verwendet. Viel zu selten.
       
       Cansu Özdemir, die frauenpolitische Sprecherin der Linken in der
       Hamburgischen Bürgerschaft, tritt an, das zu ändern. Auch am 10. Februar
       wieder, auf einer Kundgebung vor dem Strafjustizgebäude am Hamburger
       Sievekingplatz. Es ist eine Solidaritätskundgebung für Meryem S., die dort
       aussagt – zum versuchten Mord an ihr und ihren Kindern, Anfang Mai 2020, in
       Hamburg-Lurup. Der Tatverdächtige: ihr Ex-Mann. Es kam zu Stich- und
       Schnittwunden, zu schwersten Brandverletzungen.
       
       Özdemir beobachtet den Prozess schon lange. Und ihr sind nicht nur klare
       Benennungen wichtig, sondern auch das Exemplarische, das hier zutage tritt.
       Deshalb ficht die Kundgebung zugleich für begriffliche Eindeutigkeit.
       Deshalb weist sie zugleich über Meryem S. hinaus, denn Meryem S. ist nur
       eine von vielen. Sechs Frauen sind in Stadt und Region Hamburg 2021 bereits
       getötet worden. „Es ist wichtig, das klar zu kategorisieren“, sagt Cansu
       Özdemir. „Und dazu gehört eben auch ein Begriff, der unmissverständlich
       zeigt, was hier geschehen ist: Femizid.“
       
       Özdemir geht es um gesellschaftliche Veränderungen. Noch immer sei die
       Benachteiligung, die Frauen erfahren, groß, auch materiell. „Das führt oft
       zu Abhängigkeiten, die es ihnen erschweren, Partnerschaften zu verlassen,
       in denen sie Gewalt ausgesetzt sind“, sagt sie. Polizei und Justiz seien
       noch stärker zu sensibilisieren. „Oft haben Frauen das Gefühl, schutzlos zu
       sein.“ Beginnen müsse die Bewusstmachung bereits in Kita und Schule: „Ganz
       früh sollte da das Thema Geschlechterrollen hinterfragt werden.“
       
       Das ist auch ein Kampf gegen Vorurteile. „Oft ist die Diskussion ja stark
       rassistisch besetzt“, sagt Özdemir. „Klar, heißt es dann, so was passiert
       in muslimischen Ländern! Aber das ist falsch. Das passiert überall. Auch
       hier bei uns.“ Aus Vorurteilen lasse sich zudem politisches Kapital
       schlagen. „Problematisch ist vor allem der antifeministische Rollback, den
       wir nicht zuletzt durch die AfD erleben“, warnt Özdemir.
       
       Die Hamburger Linken haben deshalb Ende Dezember 2020 die Einrichtung einer
       unabhängigen Monitoringstelle für Femizide gefordert, die alle versuchten
       und vollzogenen Tötungen, alle tödlichen Unfälle und vermeintlichen Suizide
       von Frauen in Hamburg erfasst. „Sichtbarkeit und das Benennen der hinter
       den Tötungen liegenden Strukturen von Machtungleichheit zwischen den
       Geschlechtern sind der grundlegendste Schritt hin zu einer Gesellschaft, in
       der es solche Tötungen von Frauen nicht mehr gibt“, sagt Özdemir. Auch die
       Fälle aus der Vergangenheit sollen erforscht werden, bis auf fünf Jahre
       zurück.
       
       „Unsere Gesellschaft ist noch immer von einem hierarchischen
       Geschlechterverhältnis geprägt“ heißt es im Antrag der Linken. Ein Ausdruck
       hiervon sei, „dass Frauen und Mädchen, die nach machtvollen Positionen,
       nach ökonomischer und körperlicher Unabhängigkeit und nach Selbstbestimmung
       streben, die sich den vermeintlichen Besitzansprüchen von Männern
       entziehen, die sich öffentlichen Raum nehmen, politisch agieren und für
       ihre Rechte eintreten, gewaltvoll unterdrückt und im äußersten Fall getötet
       werden“.
       
       In Hamburg gab es 2020 zwei Totschlagsdelikte an Frauen, zwei Mordversuche
       und einen Totschlagsversuch. 2019 waren es drei Morde und drei Totschläge,
       zwei Mord- und sieben Totschlagsversuche. 2021, erst zwei Monate alt,
       sticht mit seinen sechs Fällen heraus. Dass die Kundgebung vor dem
       Landgericht über Meryem S. hinausweist, findet Verena Roller-Lawrence vom
       4. Hamburger Frauenhaus sehr sinnvoll: „Schreckliche Zahlen zu hören, ist
       man ja gewohnt“, sagt sie, „also ist es wichtig, sich bewusst zu machen: Da
       steckt ein Mensch dahinter.“ Aber genauso wichtig sei es, die strukturellen
       Probleme zu zeigen – und begriffsklar zu benennen.
       
       Geschlechterungerechtigkeiten und Femizide gebe es „in allen Alters-,
       Bildungs- und Sozialschichten, in allen Kulturen“. Die Probleme, die sie in
       ihrer Frauenhaus-Praxis sieht, sind vielfältig. Als Beispiel nennt sie „das
       Sorge- und Umgangsrecht gewalttätiger Väter, das oft zu einer Kindes- und
       Mütterwohlgefährdung führt“.
       
       Özdemirs Forderung nach einer Monitoringstelle nimmt das 2014 in Kraft
       getretene Übereinkommen des Europarats zur „Verhütung und Bekämpfung von
       Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ beim Wort. Denn Worte sollten
       etwas bedeuten. Und es ist noch viel zu tun.
       
       10 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Femizide
   DIR Die Linke Hamburg
   DIR Hamburg
   DIR Frauenfeindlichkeit
   DIR Frauenmord
   DIR Gewalt gegen Frauen
   DIR Feminismus
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Schwerpunkt Femizide
   DIR Schwerpunkt Femizide
   DIR Schwerpunkt Femizide
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Juristische Eingruppierung von Femiziden: Verzerrte Darstellung
       
       Frauenfeindliche Motive für einen Femizid gelten nicht als „niederer
       Beweggrund“. Der Bremer Senat will das auch nicht ändern.
       
   DIR Trauerkundgebung am Sonntag in Berlin: Offene Fragen nach Femizid
       
       Ein Jahr nach einem Doppelmord an einer Mutter und ihrer Tochter in Marzahn
       gibt es Zweifel an der Schuld des Tatverdächtigen.
       
   DIR Femizide in Italien: Sieben Tage, sieben Frauenmorde
       
       Im Januar 2020 wurden in Italien an sieben Tagen sieben Frauen ermordet
       aufgefunden. Unsere Autorin hat sich auf Spurensuche begeben.
       
   DIR Hamburger Prozess wegen Frauenmordes: Affekttat oder Femizid?
       
       Juliet H. wurde von ihrem Ex-Mann mit 50 Messerstichen getötet. Anfangs war
       er nur wegen Totschlags angeklagt – sie hätte mit Gewalt rechnen müssen.
       
   DIR Morde an Frauen: Verbrechen mit System
       
       Viel zu oft werden Morde an Frauen in Deutschland verharmlost. Ausgerechnet
       von Mexiko könnte die deutsche Rechtsprechung einiges lernen.