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       # taz.de -- Kommunalwahlen in Niedersachsen: Lokale Politik braucht Schutz
       
       > Bedrohungen und Aggressionen nehmen zu. Deshalb sollen Privatadressen auf
       > Wahllisten nicht mehr auftauchen, fordern die Grünen.
       
   IMG Bild: In diesem Fall ist der Leipziger Oberbürgermeister gemeint: beschmierter Container im Jahr 2015
       
       Hannover taz | Niedergeschlagen wurde [1][Joachim Kebschul, Bürgermeister
       von Oersdorf] im Kreis Segeberg in Schleswig-Holstein, im September 2016
       nach einer Bauausschusssitzung – weil er sich für eine
       Flüchtlingsunterkunft eingesetzt hatte.
       
       [2][Arnd Focke (SPD), ehrenamtlicher Bürgermeister von Estorf im Kreis
       Nienburg in Niedersachsen], trat 2019 zurück, nachdem sein Auto mit
       Hakenkreuzen beschmiert worden war und in seinem Briefkasten Botschaften
       gelegen hatten, in denen von „vergasen“ die Rede war.
       
       Kurz vor Weihnachten 2019 explodierte das Auto von Helma Spöring,
       parteilose Bürgermeisterin von Walsrode, auf deren Grundstück. [3][Belit
       Onay (Grüne) erhält seit seiner Wahl] zum Oberbürgermeister der Stadt
       Hannover im November 2019 Drohbriefe und Hassmails, in denen er und seine
       Familie bedroht werden. Und auf das Haus des Oberbürgermeisters Oliver Junk
       (CDU) in Goslar flogen im Februar 2020 Farbbeutel.
       
       Das sind nur einige Beispiele für Angriffe auf Lokalpolitiker*innen
       aus Norddeutschland. Erst seit September 2019 werden solche Vorfälle
       systematisch erfasst, aktuelle Zahlen sind noch in der Auswertung. Die
       aktuellsten Zahlen stammen aus dem April 2020, als das Justizministerium –
       [4][ausgerechnet auf Anfrage der AfD] – eine erste Auswertung
       veröffentlichte: 684 Ermittlungsverfahren waren es allein im ersten halben
       Jahr der Erfassung. Und die Staatsangehörigkeit der Tatverdächtigen, die
       die AfD ganz besonders interessierte: Zu fast 80 Prozent deutsch.
       
       ## Nicht immer politische Motive
       
       Vor dem Eindruck der Mordanschläge auf Henriette Reker in Köln und Walter
       Lübcke in Hessen hatten nicht wenige die eskalierenden Debatten in den
       sozialen Netzwerken, vor allem rund ums Flüchtlingsthema, verantwortlich
       gemacht.
       
       Aber es stecken nicht immer politische Motive dahinter. Umfragen in
       verschiedenen Bundesländern zeigen immer wieder, dass auch persönliche
       Motive eine Rolle spielen – dass Konflikte um Bußgelder, Gebührenbescheide
       oder Baugenehmigungen eskalieren.
       
       Auch hier gibt es ein frühes Beispiel aus Niedersachsen: 2013 wurde in
       Hameln der Landrat und Ex-LKA-Chef Rüdiger Butte erschossen – Auslöser
       waren der drohende Führerschein- und Wohnungsverlust bei dem Täter, der
       sich anschließend selbst erschoss.
       
       Die Statistik des niedersächsischen Justizministeriums umfasst daneben
       weitere, ähnlich gelagerte Delikte: Auseinandersetzungen mit
       Sanitäter*innen, Feuerwehrleuten, aber auch Polizist*innen
       beispielsweise. Bei diesen Gruppen gibt es allerdings im Hintergrund
       Arbeitgeber und/oder Institutionen, die darauf reagieren und ihre Leute
       entsprechend schulen und schützen können.
       
       Daran mangelt es häufig bei ehrenamtlichen Lokalpolitiker*innen, hat eine
       im Januar erschienene Studie der grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung
       festgestellt ([5][„Beleidigt und bedroht. Arbeitsbedingungen und
       Gewalterfahrungen von Ratsmitgliedern in Deutschland“]). Die Grünen in
       Niedersachsen wollen nun die bevorstehende Änderung des
       Kommunalwahlgesetzes nutzen, um zumindest einmal den Zwang abzuschaffen,
       mit einer Kandidatur auch die Privatadresse offenzulegen.
       
       „Unser gesellschaftliches Gefüge basiert besonders in den Kommunen auf dem
       Einsatz von Menschen im Ehrenamt. Wer aber Angst um körperliche und
       seelische Unversehrtheit haben muss, wird sich nicht engagieren. Das dürfen
       wir nicht zulassen“, sagt Landesvorsitzende Anne Kura.
       
       Auch der Niedersächsische Städtetag hat sich diese Forderung schon länger
       zu eigen gemacht. „Vorbild könnte die Wahlordnung für die Gemeinde- und
       Landkreiswahlen in Bayern sein, in der steht: ‚Die Anschrift wird nicht in
       die Bekanntmachung aufgenommen‘“, schreibt Pressesprecher Stefan Wittkop
       auf taz-Anfrage.
       
       Die Zeit drängt allerdings: Im Sommer müssen die Parteien ihre Wahllisten
       aufstellen. Im Landtag wollen die Grünen darüber hinaus darauf drängen,
       dass sich Niedersachsen im Bundesrat für Änderungen des Melderechts
       einsetzt – Daten sollen nicht mehr so leicht abgefragt werden dürfen und
       Verstöße entschiedener geahndet.
       
       10 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Angriff-auf-Buergermeister-von-Oersdorf/!5341778
   DIR [2] /Kommunalpolitiker-ueber-rechte-Hetze/!5655077
   DIR [3] /NSU-20-Skandal-weitet-sich-aus/!5700668
   DIR [4] /Angriffe-auf-Amtstraeger-in-Niedersachsen/!5678011
   DIR [5] https://www.boell.de/de/2021/01/28/beleidigt-und-bedroht
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nadine Conti
       
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