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       # taz.de -- Die Wahrheit: Schleierhaft mit Geisteskraft
       
       > Wegen der Masken sind Spaziergänge ein Schleiertanz geworden. Übers
       > Herumtappen im städtischen Nahbereich.
       
       Der amerikanische Moralphilosoph John Rawls prägte den schönen Begriff des
       „veil of ignorance“, was zu Deutsch meist als „Schleier des Nichtwissens“
       übersetzt wird. Gemeint ist damit, dass moralische Entscheidungen nicht im
       Hinblick auf die persönliche Lebensgeschichte, sondern neutral getroffen
       werden sollten. Gerade bei wichtigen Urteilen darf sich der Ethiker also
       ein bisschen wie ein Dummerchen verhalten – ähnlich wie die blinde
       Justitia.
       
       So ein Dummerchen bin ich jetzt seit Monaten und in diesem Winter noch
       verstärkt. Denn Spazier- und Einkaufsgänge sind für mich als Brillenträger
       zu einem einzigen Schleiertanz geworden. Aber dafür bedarf es nicht wie bei
       Rawls einer künstlich gedachten Verhüllung – [1][womöglich durch einen
       Christo] –, sondern nur [2][des Aufsetzens der Maske]. Schon nach zwei
       Metern aus der Haustür bin ich blind. Und dann rutscht manchmal noch die
       Brille die Nase herunter und purzelt auf die Straße knapp vorbei am Gully.
       
       Genau deshalb ziehe ich sie erst gar nicht mehr auf. Ich stecke sie in die
       Jackentasche und stehe in gottgewollter Kurzsichtigkeit mitten in der Welt.
       In dem Moment erst merkt man, dass von allen medizinischen Errungenschaften
       die Erfindung der Brille wohl die wichtigste gewesen ist. Könnte eine Welt
       mit Millionen, wenn nicht Milliarden Kurzsichtigen überhaupt funktionieren?
       
       Uns trifft das aber noch viel, viel härter, werden jetzt zu Recht die
       Blinden einwerfen, aber sie kämen sicher nicht auf den Gedanken, am Lenkrad
       eines Autos zu sitzen. Da wäre ich mir bei den Kurzsichtigen nicht sicher.
       Denn Kurzsichtigkeit im Hinblick auf die moderne Lebensführung ist eh schon
       Standard.
       
       Spinoza, der Oberchecker 
       
       Doch zurück zum Herumtappen im städtischen Nahbereich. Bekannte sieht man
       nicht, Straßenschilder und Laternen sind latente Gefahren, und man ist sehr
       froh, dass man auch Ohren hat. Denn die früher so sichtbare Welt
       verschwindet, wie von Herrn Rawls gefordert, hinter einem Schleier. Wo aber
       in Sachen der Moral eigentlich ein Erkenntniszuwachs erfolgen soll, steht
       man mit den zusammengekniffenen Schweinsäuglein ziemlich bedröppelt in der
       Landschaft.
       
       Da fiel mir neulich, als auch noch Schneegestöber hinzukam, der tapfere
       Philosoph Spinoza ein, dessen Hauptwerk „Ethica“ sich schon rund 300 Jahre
       vor den Verschleierungsübungen des Herrn Rawls um den Durchblick in allen
       wichtigen Lebensfragen kümmerte. Und die entscheidende Antwort gab der
       geniale Mann schlicht durch seine Alltagsprofession: Er hat lieber Linsen
       und Brillengläser geschliffen, statt einem Ruf nach Heidelberg zu folgen.
       
       Da sage noch wer, Philosophen seien weltfremd! Ganz im Gegenteil: Spinoza
       war ein echter Checker! Sein Tod am kommenden Sonntag vor 344 Jahren hatte
       bei allem etwas sehr Hellsichtiges, denn am selben Tag vor 100 Jahren wurde
       auch John Rawls geboren, dessen Porträts ihn stets als kompromisslosen
       Träger einer Fastganzkörperbrille ausweisen.
       
       17 Feb 2021
       
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