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       # taz.de -- Vermissten-Zettel und roter Schnee: Feinstoffliche Verbindung
       
       > Die Menschen sind über Grenzen und Kontinente hinweg miteinander
       > verbunden. Deutlich wird das vor allem in Zeiten der Not.
       
   IMG Bild: Von Saharastaub orange eingefärbt: Himmel in Bramois in der Schweiz am 6. Februar
       
       Jetzt, da der Schnee getaut ist, hoffe ich, dass Bambam lebt. „Bambam ist
       zugeschneit worden“. In der Nacht, in der viel Schnee fiel, war er
       verschwunden. Ein Kater, ein bisschen getigert, etwas gefleckt. Bambam ist
       fort. Ein Zettel mit seinem Foto hing in der Straße, in der er fehlte, an
       jedem Laternenpfahl: „Wir glauben, dass er irgendwo eingeschneit wurde und
       nicht mehr raus kann. Bitte schauen Sie in Ihre Keller und Garagen. Bitte
       schaufeln Sie den Schnee unter ihren Autos frei. Er ist ein großer und
       scheuer Kater. Wir machen uns sehr viele Sorgen.“
       
       Ich schaute beklommen auf Bambams Bild und den Schnee. Wo war Bambam jetzt?
       War er eingesperrt und hatte Hunger? Was deckte der Schnee zu? Würde
       darunter ein erfrorener Kater auftauchen, wenn es taute?
       
       Ich dachte an die Familie, die ihn vermisste. Die wahrscheinlich jetzt die
       Straßen ablief und in Hinterhöfe schaute. Es ist schwer, zur Ruhe zu
       kommen, wenn etwas Grundsätzliches fehlt. Der Schnee hielt etwas verborgen.
       Und gleichzeitig machte er auch etwas sichtbar.
       
       In manchen Teilen des Landes war der Schnee rötlich gefärbt gewesen. Die
       Menschen hatten sich gewundert – roter Schnee – es hatte fast apokalyptisch
       angemutet. Bis die Nachricht kam, dass es Wüstensand aus der Sahara war,
       der sich mit den Schneeflocken verbunden hatte. Er war in der Wüste
       aufgewirbelt und durch Winde bis nach Mitteleuropa gebracht worden.
       Saharaschnee: Was für ein Bild dafür, dass alles miteinander verbunden ist.
       Der rote Schnee machte deutlich, was wir sonst nicht direkt wahrnehmen.
       Dass sich etwas Feinstoffliches über Länder und Kontinente hinweg zieht. So
       sehr man Grenzen schließen und sich gegen Viren und Kriege abschotten mag –
       es ist doch nicht möglich. Letztlich überträgt sich in der Atmosphäre immer
       etwas, was uns alle betrifft. Uns verbindet auf eine manchmal deutliche,
       manchmal unbestimmte Weise das Leid. In der Not besinnen wir uns darauf,
       rücken zusammen oder hoffen zumindest, dass uns die anderen helfen.
       
       Es rührte mich, wie überall um Bambams Revier an diesen schneeverwehten
       Tagen die Zettel hingen. Wie die Familie hoffte, dass andere mit ihnen für
       ihren Kater achtsam wären und unter ihren Autos gruben. Wenn Menschen etwas
       vermissen, hängen sie noch immer, wie seit Jahrhunderten schon, Zettel auf.
       Wenn sie nicht mehr weiterkommen, hoffen sie auf die Augen und Herzen ihrer
       Nächsten.
       
       Ich lese mir immer diese Vermissten-Zettel durch. Sie erzählen so viel von
       der Liebe der Menschen. Was ihnen wichtig ist und wie verletzlich sie
       dadurch sind. Ich hoffe dann, dass ich eine vermisste Katze einmal finde,
       dass mir etwas aufgefallen ist. Auch bei Bambam suchte ich innerlich die
       Straße mit meinen Augen ab. Doch nach ein paar Stunden hatte ich ihn wieder
       vergessen. Nur wer sich direkt sorgt, sucht lange.
       
       In diesen Februartagen denke ich auch an Liam. Vor drei Jahren im Februar
       war er an einem Junggesellenabschied auf dem Kiez verschwunden. Er kam aus
       Schottland und hatte mit seinem Bruder und anderen auf der Reeperbahn
       gefeiert. In der Nacht war er verschwunden.
       
       Seine Familie aus Schottland hatte Hunderttausende Zettel in Hamburg
       aufgehängt. Sein lächelndes Gesicht war einem überall vor Augen. Viele
       sprachen darüber. Die schottische Familie hoffte bis zuletzt, dass ihn
       jemand gesehen hatte, dass es Hinweise gab. Zehn Wochen später entdeckte
       ein Passant in der Hafencity einen leblosen Körper in der Elbe. Es war
       Liam. Sein Schicksal bewegte viele. Er war über Monate in der Stadt präsent
       gewesen.
       
       Auch seitdem denke ich, wie gut es ist, dass die Menschen Zettel aufhängen.
       Selbst wenn man nicht helfen kann, wird einem so die Situation der anderen
       bewusst: Wie wichtig es ist, auf andere Menschen und Tiere mit aufzupassen,
       auch schon, bevor sie verloren gehen.
       
       Wo ist Bambam? Ob er wohl wieder aus dem Schnee aufgetaucht ist? Noch nie
       habe ich einen Zettel gesehen, auf dem jemand, der gesucht hatte, davon
       schrieb, wie die Suche ausgegangen ist. Das würde mich freuen. Denn mit
       jedem Zettel werden wir stärker in das eingebunden, mit dem wir längst
       schon verbunden sind.
       
       21 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christa Pfafferott
       
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