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       # taz.de -- Diskussion um Joe Biden: Das Geheule muss ein Ende haben
       
       > Joe Biden war kaum im Amt, als schon wieder alles madig geredet wurde.
       > Politischer Fortschritt wird aber nur durch Zuversicht möglich.
       
   IMG Bild: Joe Biden: noch keinen Tag im Amt, da wussten die Fachleute schon, was schief gehen werde
       
       Es war der späte Nachmittag des 20. Januar, also neulich. Aus Washington,
       D.C. wurde auch von deutschen TV-Sendern die sogenannte „Inauguration“ des
       neuen US-Präsidenten Joe Biden übertragen. Manche werden sich noch
       erinnern: Joe Biden – bis zur Wahl des Demokraten nannte der damals noch
       amtierende Präsident ihn „Sleepy Joe“, also unfähige Schlaftablette –
       wurde vereidigt. Und um ihm herum, auf den Treppen des Kapitols, wurden er
       und seine Stellvertreterin Kamala Harris von einem extrem geschickt
       inszenierten Showprogramm wie in wärmende Wolldecken gehüllt: [1][Lady
       Gaga] war mit einer grandiosen Interpretation der Nationalhymne der USA zu
       hören, sie trug einen Fummel, der, den Facelook hinzugenommen, wie eine
       Verbeugung vor den Frauen in der Tradition Frida Kahlos erschien. Danach
       Jennifer Lopez, schließlich der Republikaner Garth Brooks, Countrystar,
       dessen Version von „Amazing Grace“ noch die letzten
       Tea-Party-Populist:innen und Capitol-Hill-Hooligans ins moralische Unrecht
       setzte.
       
       Und schließlich die Lyrikerin Amanda Gorman, eine Königin des Moments aus
       eigenem Vermögen und für den Festakt auserkoren durch einen Tipp von Joe
       Bidens Frau Jill – Gormans Look war so machtvoll glamourös wie die Feier
       selbst. All das war schon programmatisch zu jeder Sentimentalität und
       froher Unruhe anstiftend. Mehr noch: Das müssen für die Fellows von Donald
       Trump peinliche und peinigende Minuten gewesen sein: Ihr Mann, der
       angebliche Revolutionär gegen die liberalen Eliten des Landes, würde
       offenbar nichts als Trümmer hinterlassen, zumal Tage zuvor einer der
       Kernstaaten des Südens, die frühere Sklavereihochburg Georgia, in einem
       berauschenden Votum den Republikanern entrungen wurde, zugunsten eines
       schwarzen und eines jüdischen Politikers.
       
       Kaum aber waren die um Biden und Harris herumstehenden Gäste im Gebäude
       verschwunden, übertrug der Deutschlandfunk eine Nachbetrachtung mit
       Expert:innen. Eine zähe und, wie sich herausstellte, politisch
       prinzipiell verdummende Sendung – und das ist sehr wohl beleidigend
       gemeint, keine Missverständnisse, bitte. Was die auf höheres
       Grundbewusstsein und multiple Durchreflektiertheit haltende Radiowelle zu
       vertröten beliebte, war weitgehend dies: Man dürfe sich [2][von Biden
       nichts versprechen], sich keinen Illusionen hingeben. Vieles sei auch
       Blendwerk, die Krise sei ja nicht vorbei – welche auch immer, jedenfalls
       die Krise, wahrscheinlich die mit Corona? Was auch immer.
       
       Biden und seine Exekutive hatten noch keinen Tag wirklich regiert, da
       wussten die Fachleute schon von Krisen und falschem Schein und dass das
       sowieso wahrscheinlich schiefgehen werde. Und man durfte sich fragen, ja,
       musste es: Woher wussten die das alles? Hatten die ihre Tarotkarten gelegt
       oder ihre Horoskope befragt, womöglich andere Weissagungsinstrumente parat?
       Wäre Corona nicht jenseits der Ablösung Trumps durch Biden das drängendere
       Thema gewesen, hätte man garantiert – diese Spekulation kommt wohl ziemlich
       an den Grad von „höchstwahrscheinlich“ heran – einen Plasberg-Talk erwarten
       müssen, ein „Hart aber fair“ unter der Überschrift: „Fünf Tage nichts mit
       Biden – müssen wir uns Sorgen machen?“ Oder: „Sleepy Joe – hatte Trump doch
       recht?“ – dazu Parteipolitiker:innen aus hiesigen Breiten,
       vielleicht noch eine sozialpsychologisch orientierte Person. Und ein:e
       Schlafforscher:in.
       
       ## Nichts als Narrative der negativen Wahrsagelust
       
       Was das Publikum serviert bekommt, sind nichts als Narrative der negativen
       Wahrsagelust, der Meinungsfreudigkeit, der Spekulation übers Kommende. Das
       aber nie realitätsgetreu akkurat gefasst werden kann, denn das, was morgen
       sein wird, lässt sich nur in geringer Hinsicht vorhersagen: dass das Gesetz
       der Schwerkraft noch gilt – das schon. Aber vielleicht lässt sich das auch
       bald nicht mehr sagen, denn war Newton nicht ein heteronormativ
       orientierter Naturbeobachter, alt und grau obendrein?
       
       Sei’s drum: Das Publikum, wir, mögen Einschätzungen. Dauernd taxieren wir,
       urteilen über das, was kommen könnte. Ob es genau das sein wird, ist
       natürlich offen. Wahr ist aber: Linke, zumal in Deutschland, neigen dazu,
       ein zu 50 Prozent gefülltes Glas für halb leer zu halten. Tendenz: sinkend.
       Immer droht Verhängnis und Unglück, nur selten kommt es zum Aggregatzustand
       von Coolness im Sinne von: „Abwarten, mal sehen, wird schon.“
       
       Dabei hat die Regierung [3][Joe Bidens schon Tage nach dem Amtsbeginn
       Dekrete] in die US-amerikanische Wirklichkeitswelt gesetzt, die für das
       praktisch-politische Leben beachtlich waren und sind. Frackingverbot,
       Staatsbürgerschaftsrechte für Illegale, Wiederannäherung an die WHO und an
       das Pariser Klimaschutzabkommen, den Naturschutzgebietszerstörungen Einhalt
       gebieten, Grenzzaunbaustopps, lebenswichtige Maßnahmen in Sachen
       Coronapandemie etc. – bei manchen der auch linken Projekte, die Biden mit
       seiner Unterschrift ins Werk zu setzen begann, stehen Debatten an. Es wird
       mithin Enttäuschungen geben. Ja, aber: Na und? Dann geht’s weiter, nichts
       anderes.
       
       Politisches hängt immer am Moment und ist nur begrenzt einschätzbar.
       Niemand hätte Angela Merkel unterstellt, die Atomkraft wirklich zu
       verabschieden; keine:r hätte für möglich gehalten, dass ausgerechnet ein
       CSU-Minister die Wehrpflicht abschafft. Die Turning Points wurden aus dem
       Gewusel des politischen Geschehens heraus formuliert – und durchgesetzt:
       Und dieses Gewusel ist nicht abhängig von revolutionären Plänen, sondern
       von manifesten Stimmungen in der politisch-gesellschaftlichen Arena.
       
       Dieses [4][hartleibige Schlechtreden] von politischen Prozessen, ehe sie
       wirksam werden, das man im Mainstream der deutschen Medien in der Sekunde
       von Bidens Präsidentschaftsantritt verfolgen konnte, dieses
       Herbeifantasieren von Krisen und Verhängnissen, die da drohen und dräuen,
       macht auch den politischen Verstand madig. Ich möchte mir gar nicht
       ausmalen, was am Abend der nächsten Bundestagswahl an expertistischer
       Semiklugkeit in die Mikros geraunt wird, in der Pose größter Gewissheit:
       Schwarz-Grün ist möglich. Und dann setzen sie ein: „Ja, aber …“, „Nein, auf
       keinen Fall …“, „Das wird nichts …“; Dieser
       Ach-hör-mich-doch-auf-alles-gesehen-mir-kann-man-nichts-vormachen-Style.
       Ach was: Das muss abgewartet werden – Reformschrittchen für
       Reformschrittchen.
       
       Mediale Aufgeheiztheit und Aufgeregtheit, wie seit knapp einem Jahr in
       Sachen Coronapandemie auf Dauer gestellt, vernebeln im Übrigen die meisten
       echten Miseren: Nicht die stockende Organisation von Impfstoffen ist das
       Problem – als ob Angela Merkel nicht früh gesagt hätte, es würden lange
       Wintermonate –, nicht Kleinigkeiten wie die Sorgen in großzügig
       geschnittenen Mittelschichtswohnungen und -häusern sind das Problem, auch
       nicht Planungs- und echte Einschätzungsfehler in puncto Schulbesuch.
       
       Ein wirklicher Skandal ist es dagegen, dass jene Kinder, deren Familien
       über wenig und sehr wenig Geld verfügen, keine Tablets und Smartphones
       leihweise von ihren Schulen zur Verfügung gestellt bekommen. Ein Problem
       ist, dass Millionen Schüler:innen in Sachen Ausbildung (und oft auch:
       Alphabetisierung und Spracherwerb) von der öffentlichen Aufmerksamkeit
       faktisch übergangen werden, auch wegen vielfach überforderter, unwilliger
       und ehrgeizloser Lehrer:innen und Schulbehörden.
       
       Hierüber lohnt der echte Streit, und zwar so, dass das Publikum – wir! –
       nicht am Ende Revolutionsfantasien hegt, sondern sich konkret empört über
       die miese Versorgungslage gerade der Benachteiligsten – und das sind
       mitnichten nur Flüchtlingskinder. Nicht dauernd von Krise und Verhängnis
       und Illusionen reden. Nicht von dem, was wir nicht wissen können. Viel mehr
       von dem, was Sache ist.
       
       7 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=HezPdHTwdGA
   DIR [2] /Bidens-Schlappe-vor-Gericht/!5743394
   DIR [3] /Bidens-Politik-nach-Amtsantritt/!5742160
   DIR [4] /Das-Ende-des-Spektakels/!5743661
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jan Feddersen
       
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