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       # taz.de -- Jüdisches Leben in Köln: Acht Meter tief Geschichte
       
       > In Köln schaufeln derzeit Archäologen das alte Judenviertel aus. Ein
       > Besuch in der wohl spannendsten Grube der Republik.
       
   IMG Bild: Im Vorraum der alten Mikwe: Das jüdische Tauchbad soll später zu besichtigen sein
       
       Ein ockerfarbenes Stück Stein befindet sich in einem Klarsichtbeutel, es
       ist vielleicht zwei Zentimeter groß. „Wandputz“ steht auf dem Etikett der
       Tüte, darunter Angaben zum Fundort im Nordwesten des Grabungsgeländes.
       Hunderte solcher Plastikbeutel lagern in einer Kunststoffwanne, Hunderte
       solcher Kunststoffwannen stehen in hohen Regalen. Größere Fundstücke wie
       ein Säulenkapitell sind einzeln verpackt. Wie viele Objekte hier lagern?
       „Vielleicht 300.000“, schätzt Grabungsleiter Michael Wiehen.
       
       Der junge Archäologe hebt eine der Wannen aus einem Regal und packt eines
       seiner „Lieblingsobjekte“ aus, wie er sagt. Zum Vorschein kommt ein etwa 30
       Zentimeter langer zylinderförmiger Stein, der einer Säule ähnelt. Er ist
       das Ergebnis eines natürlichen Prozesses, erklärt Wiehen. Es handelt sich
       um Kalkablagerungen aus einer römischen Wasserleitung, die einst die Stadt
       mit Frischwasser aus der Eifel versorgte. Aquäduktenmarmor wird das
       ausgesprochen harte Material genannt, das auch selbst verbaut wurde.
       
       Wir befinden uns im Kellergeschoss des [1][Kölner Rathauses]; über uns eine
       Betondecke, darüber ein profaner Neubau aus der Nachkriegszeit. Wiehen
       sperrt die Tür des Magazins auf. Dahinter verbirgt sich ein Gewölbe aus dem
       12. Jahrhundert, in der Mitte abgestützt durch eine romanische Säule. Über
       diesem Keller stand einst ein von Juden bewohntes Haus, das im späten
       Mittelalter der Erweiterung des Rathauses zum Opfer fiel. Teile des
       Rathauses wiederum wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Der Keller ist
       geblieben.
       
       Es dürfte derzeit in Deutschland keine spannendere Baustelle geben: Mitten
       in der Kölner Altstadt an der Judengasse gräbt ein Team von Archäologinnen
       und Archäologen seit bald 14 Jahren ein ganzes Stadtviertel aus – an dem
       Ort, an dem im Mittelalter die Juden von Köln lebten. In einigen Jahren
       werden Besucher durch die historischen Keller und Gebäude laufen können.
       Sie werden die Synagoge aus dem frühen 11. Jahrhundert entdecken können, in
       die Mikwe, das rituelle jüdische Tauchbad, hinuntersteigen, aber auch auf
       die Überbleibsel des römischen Statthalterpalastes stoßen.
       
       ## Alles begann in Köln
       
       Über ihnen werden sich die Räume des Jüdischen Museums von Köln erheben,
       das dem jüdischen Leben in der Stadtgeschichte gewidmet sein soll. „MiQua“,
       so soll das [2][Museum über dem Ausgrabungsfeld] heißen. Die Bezeichnung
       leitet sich aus der Abkürzung von „Museum im archäologischen Quartier“ ab.
       Sie erinnert aber auch an die Mikwe – kein Zufall, zählt das Tauchbad doch
       zu den herausragenden Ausstellungsobjekten.
       
       Die Eröffnung des Museums ist für 2025 geplant. Doch schon in diesem Jahr
       wird ein Jubiläum groß gefeiert: Seit mindestens 1.700 Jahren gibt es
       jüdisches Leben in Deutschland. Es begann hier in Köln.
       
       Das belegt ein Dekret des römischen Kaisers Konstantin. In dem Schreiben
       vom 11. Dezember 321 antwortet er auf eine Nachricht aus Köln: „Durch
       reichsweit gültiges Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den
       Stadtrat berufen werden. Damit ihnen [den Juden] selbst aber etwas an Trost
       verbleibe für die bisherige Regelung, so gestatten wir, dass je zwei oder
       drei […] aufgrund dauernder Privilegierung mit keinen [solchen] Berufungen
       belastet werden.“ Es ist der Beweis, dass Juden damals in Köln lebten.
       
       Um das Dekret zu verstehen, muss man wissen, dass das Amt des Stadtrats
       damals eine kostspielige und unbeliebte Angelegenheit war – für die Räte
       selbst. Denn sie mussten für die Steuereinnahmen der ihnen unterstellten
       Einwohner bürgen und Fehlbeträge aus ihrer Privatschatulle begleichen, so
       auch in der „Colonia Claudia Ara Agrippinensium“, wie Köln damals hieß.
       Das, was auf den ersten Blick wie eine Gleichstellung der Juden wirkt –
       deren Berufungsmöglichkeit in den Stadtrat –, markiert in Wahrheit also das
       Ende eines Privilegs.
       
       Von einer jüdischen Gemeinde ist in dem Dekret nicht die Rede. Allerdings
       argumentieren Historiker, aus dem Schreiben gehe hervor, dass es damals in
       Köln wohlhabende Juden gegeben haben muss, denn nur für sie kam eine
       Berufung in den Stadtrat überhaupt infrage. Dann dürfte es auch ärmere
       Angehörige der Minderheit gegeben haben. Vermutlich hat eine größere
       Gruppe, eine Gemeinde, dort gewohnt. Und diese Gemeinde lebte wohl schon
       länger in der römischen Stadt, wahrscheinlich schon seit dem ersten
       Jahrhundert nach Christus, als die aus Palästina vertriebenen Juden in das
       ganze römische Weltreich emigrieren mussten.
       
       Allerdings sagt der Archäologe Thomas Otten: „Eine Siedlungskontinuität von
       der Antike bis zum Mittelalter lässt sich nicht nachweisen.“ Zwar seien
       vereinzelt jüdische Objekte aus der Römerzeit in Deutschland gefunden
       worden, etwa in Augsburg eine Öllampe mit dem Bild einer Menora, des
       siebenarmigen Leuchters. Der Kölner Boden hat aber nichts dergleichen
       ausgespuckt. Es lasse sich auch nicht nachweisen, dass in der
       Merowingerzeit – in den sogenannten dunklen Jahrhunderten nach dem
       Zusammenbruch der römischen Herrschaft – Juden in Köln ansässig waren, sagt
       Otten, auch wenn das wahrscheinlich ist. Nur das Dekret von 321 belegt ihre
       Anwesenheit schon vor dem zweiten Jahrtausend.
       
       Der Platz vor dem Rathaus ist mit einem Bauzaun abgesperrt. Die Bodenplatte
       für das künftige Museum wurde schon in großen Teilen gegossen. Darunter
       sind immer noch Archäologen mit der Sicherung von Artefakten beschäftigt,
       ausgestattet mit gelben Warnwesten und roten Bauhelmen. Einer von ihnen ist
       Gary White, der stellvertretende Stabsleiter der archäologischen Zone. Der
       gebürtige Brite hat in Deutschland Archäologie studiert und ist geblieben.
       
       Er erklärt, dass an einigen Stellen noch gegraben wird, während anderswo
       die Vorbereitungen für den Neubau des Museums weitergehen. White weist auf
       einen der beiden Fahrstuhlschächte, die in den Himmel wachsen. Unmittelbar
       daneben sind die Überreste einer römischen Therme zu erkennen. „Das war
       Millimeterarbeit“, sagt er, „der Fahrstuhl durfte die Therme nicht
       beschädigen.“
       
       Es ist ziemlich einmalig, dass mitten in einer Stadt derart großflächige
       archäologische Grabungen stattfinden können. Nach den Bombennächten des
       Zweiten Weltkriegs, dem die Kölner Altstadt fast vollständig zum Opfer
       fiel, entschied die Stadt, das Gelände am Rathaus nicht mehr neu zu
       bebauen. Stattdessen entstand ein Parkplatz. Schon damals fanden Grabungen
       statt, die einen Teil des römischen Statthalterpalastes und die Mikwe, das
       Tauchbad, zum Vorschein brachten.
       
       Als die neuen Grabungen 2007 begannen, stießen die Archäologen in den
       aufgefüllten Kellergewölben der im Krieg zerstörten Häuser auf die erste
       Schicht Geschichte: die Trümmer aus der Kriegszeit. Einen ganzen Topf
       Soleier haben sie geborgen, erinnern sich Gary White und Michael Wiehen.
       Glühbirnen, zwei Zahnprothesen nebst Wassergläsern. Es fanden sich
       verkohlte Zeitungsreste, zertrümmerte Möbelstücke, Porzellan und ein
       wertloser „Münzschatz“, bestehend aus 2-Mark-Geldstücken aus der Nazizeit.
       
       Die Archäologen bargen aber auch einen Sederteller mit einem Davidstern.
       Einen solchen Ritualgegenstand benutzen Juden beim Pessachfest in
       Erinnerung an den Exodus. Wie er 1943 zwischen die Kriegstrümmer geraten
       ist, vermag niemand zu sagen. War er das Beutestück eines christlichen
       Kölners, erstanden auf einer der Versteigerungen von geraubtem Eigentum?
       Juden gab es damals in der Altstadt nicht mehr.
       
       Sie waren schon ab 1941 zusammengetrieben worden, zunächst in
       „Judenhäuser“, dann in das Sammellager im Vorort Müngersdorf, schließlich
       in die Messehallen, wo sie auf ihre Deportation in den Tod warten mussten,
       ab dem Bahnhof Deutz-Tief in Richtung Osten. In die Gettos und
       Vernichtungslager. Fast 6.000 jüdische Kölner sind damals verschleppt
       worden, nur wenige von ihnen haben überlebt.
       
       Auch die ab 1890 errichtete Synagoge der Jüdischen Gemeinde Köln in der
       Roonstraße außerhalb des Zentrums ist in der Pogromnacht vom 9. auf den 10.
       November 1938 von den Nationalsozialisten gebrandschatzt und verwüstet
       worden. Im April 1945 fanden in den Trümmern wieder erste Gottesdienste
       statt. Nur wenige Juden waren da zurückgekehrt, manche hatten die
       Verfolgungen im Versteck überlebt.
       
       Das Gotteshaus wurde wiederaufgebaut; gewaltig und in der Formensprache
       fast einer Kirche gleich. Der Innenraum ist schlicht gehalten, mit
       geweißten Wänden und Mosaiken in den Fenstern. Große Tafeln erinnern im
       Eingang zum Betsaal an die Opfer während der NS-Zeit.
       
       Über 20.000 Jüdinnen und Juden lebten um 1930 in der Rheinmetropole. Knapp
       ein Viertel davon sind es heute wieder, berichtet Abraham Lehrer, der im
       Vorstand der Gemeinde sitzt und auch als Vizepräsident des Zentralrats der
       Juden in Deutschland fungiert. „Ein bisschen stolz“ auf 1.700 Jahre
       jüdischer Geschichte in Köln sei er schon, sagt Lehrer am Telefon, aber das
       mache die Kölner Juden nicht zu einer besseren Gemeinde.
       
       Dem 66-Jährigen ist vor allem wichtig, dass die „mittelgroße Gemeinde“
       wieder über eine fast komplette Infrastruktur verfügt, mit
       Begegnungszentrum, Seniorenheim und Kindertagesstätte. Nur ein jüdisches
       Gymnasium fehle noch, aber „daran arbeiten wir“.
       
       Mit den Archäologen, die das einstige jüdische Viertel in der Altstadt
       ausgraben, ist die Gemeinde in engem Kontakt. Die Pläne für das Museum
       begrüße er, sagt Lehrer, „weil dort nicht ein Shoah-Museum entstehen soll,
       sondern ein Museum für jüdisches Leben, um Vorurteile abzubauen.“ Lehrer
       möchte im Jubiläumsjahr weniger an die Verfolgung erinnern, sondern eher
       das Positive betonen, er will auch das jüdische Leben von heute zeigen.
       
       Von guten Zeiten, als Juden und Christen miteinander kooperierten, haben
       die Archäologen bisher nicht viel gefunden, auch wenn es sie wohl gegeben
       hat. Im Gegenteil, in der Erde eingegraben entdecken sie immer wieder die
       Zeugnisse von Katastrophen.
       
       Es ist nicht so, dass sich die Geschichte im früheren jüdischen Viertel
       einer Torte gleich in Schichten abtragen ließe. Die Hinterlassenschaften
       der Epochen überlappen sich, manche sind breit und dick, andere nur wenige
       Millimeter dünn, sagt Gary White. Immer wieder seien die alten Grundmauern
       als Basis für neue Gebäude genutzt worden. Auch die nach dem Zweiten
       Weltkrieg erbauten schmalen Giebelhäuser stehen auf Kellergewölben aus dem
       Mittelalter.
       
       Acht Meter tief reichen die Grabungen. Zwischen mit Trümmern aufgefüllten
       Mauern und in ehemaligen Kloaken stießen die Experten schließlich auf
       Schichten aus dem Mittelalter und der Römerzeit. Sie fanden dort die
       Überreste eines Pogroms: der Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August
       des Jahres 1349.
       
       In einer alten Chronik der Stadt ist von einem „Auflauf, darin die Juden
       mit Ungeschichte erschlagen worden“ die Rede. Offenbar kam eine große
       Gruppe aufgehetzter Christen in das jüdische Viertel, tötete die Einwohner,
       steckte die Häuser in Brand und nahm alles an Verwertbarem an sich. Nach
       jüdischer Überlieferung waren es die Juden selbst, die, vom wütendem Mob
       bedroht, ihre Häuser anzündeten. Die Judengemeinde habe sich, so heißt es,
       „selbst mit Weibern und Kindern zum Brandopfer gebracht, um der gezwungenen
       Taufe zu entgehen“.
       
       Das Pogrom von Köln war kein Einzelfall. In Europa wütete in diesen Jahren
       die Pest, die etwa ein Drittel der Bevölkerung auslöschte. Den Juden wurde
       angedichtet, sie hätten die Brunnen vergiftet, um die Christen zu ermorden.
       Überall, in Bern, Basel, Freiburg, Speyer, Oppenheim, Mainz und Frankfurt
       am Main, schlugen die Judenhasser zu. Sie raubten Geld und Wertgegenstände
       und entledigten sich so auch der Schulden, die sie bei den ermordeten
       jüdischen Geldverleihern hatten.
       
       Bei ihren Grabungen stießen die Archäologen auf eine große Schicht
       Brandschutt. Sie fanden über 2.000 Fragmente, darunter kunstvoll
       bearbeitete Teile der Bima, der Lesekanzel aus der Synagoge. Dazu gehörten
       der steinerne Kopf eines Fantasietieres, die Skulptur eines Hundes und ein
       Vogelkopf mit Weinbeere. „Die Bearbeitung legt nahe, dass am Bau dieser
       Stücke die Bauhütte des Doms beteiligt war“, sagt Thomas Otten, der Leiter
       des künftigen Museums. Das lässt auf enge Beziehungen zwischen Christen und
       Juden schließen, immerhin.
       
       Umgekehrt kann freilich ein jüdischer Anteil am Bau des Kölner Doms
       ausgeschlossen werden, denn Steinmetzarbeiten waren Juden damals verboten.
       Etwa zur gleichen Zeit, als die Lesekanzel in der Synagoge entstand,
       schufen christliche Holzschnitzer eine antisemitische „Judensau“, die noch
       heute im Dom besichtigt werden kann. Im Chorgestühl sind drei Juden
       abgebildet, zu erkennen an den Hüten, die sie tragen mussten. Einer hält
       ein Schwein an den Vorderbeinen, einer füttert das Tier, und der Dritte
       saugt an einer Zitze. Dieses Motiv, gestaltet, um Juden verächtlich zu
       machen, ist nicht die einzige antisemitische Abbildung im Dom.
       
       Im mittelalterlichen Schutt des Kölner Judenviertels stießen die
       Archäologen auch auf den alten Fußboden der Synagoge. Sie gruben Reste des
       jüdischen Hospitals aus, des Gemeindehauses, des Badehauses. Sie entdeckten
       die Überbleibsel verbrannter Bücher – eiserne Beschläge – und, in einem
       Nachbarhaus der Synagoge, eine monumentale Inschrift über einem
       zugemauerten Ausgang: „Das ist das Fenster, durch das die Fäkalien
       hinausgeworfen werden“, steht dort in hebräischer Schrift, ein Zeugnis der
       dürftigen hygienischen Zustände im Mittelalter, als der Unrat in Kloaken
       nahe der Häuser abgeladen wurde.
       
       Vor allem aber bargen die Archäologen einen einmaligen und doch zunächst
       unscheinbaren Schatz: Hunderttausende Bruchstücke von Schiefertafeln. Erst
       bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass etwa fünfhundert von ihnen
       mit Schrift versehen sind – Nachrichten aus dem Alltagsleben der Kölner
       Juden im Mittelalter.
       
       Die Judaistin Elisabeth Hollender ist mit der Erforschung dieser
       eingeritzten Schriften beauftragt. „Es sind die alltäglichen kleinen Dinge,
       die wir entzifferten, darunter fast 300 verschiedene Namen von Bewohnern“,
       sagt sie am Telefon. Hollender und ihre MitarbeiterInnen entdeckten zwei
       Abrechnungen, die offenbar von einer Bäckerei und einer Metzgerei stammen,
       versehen mit den Alltagsnamen von Personen, kleinen Geldsummen und der
       Angabe der Währung.
       
       Sie fanden Hinweise auf einen Synagogendiener und den Vorbeter und auf zwei
       Frauen, die für die Mikwe, das Tauchbad, zuständig waren. Und dann gibt es
       noch die vielen Schreibübungen, bei denen Schüler das Alphabet oder
       einzelne Buchstaben bisweilen in Schönschrift einzeichneten. Sie stammen
       offenbar aus einer jüdischen Schule.
       
       Die Schiefertafeln lassen Rückschlüsse auf das Leben der Kölner Juden im
       Mittelalter zu: Offenbar besaßen viele nicht nur Kenntnisse im Lesen,
       sondern auch im Schreiben, was damals höchst ungewöhnlich war. Ihre
       hebräischen Namen hatten viele Bewohner eingedeutscht. Ein Teil der Texte
       ist zwar in hebräischen Buchstaben geschrieben, die Sprache ist aber
       Mittelhochdeutsch mit einem rheinischen Einschlag. Nein, Kölsch im heutigen
       Sinne sei das nicht gewesen, bremst Hollender die Erwartungen von
       Lokalpatrioten.
       
       Andere Tafeln, etwa der Teil eines Talmudkommentars, sind in hebräischer
       Sprache verfasst. Die Bewohner sprachen also offenbar Deutsch miteinander,
       nutzten aber in der Regel hebräische Schriftzeichen.
       
       Elisabeth Hollender fand gar ein mittelhochdeutsches Ritterepos in
       hebräischen Buchstaben, bestehend aus drei Tafeln, die zueinanderpassen. Es
       gehe da um einen Ritter, der in der Burg eine Frau treffen will, erzählt
       sie. „Unglücklicherweise kennen wir nur die Hälfte der Zeilen, weil ein
       Stück fehlt. Ob der Ritter ins Schlafzimmer der Frau vordringt, werden wir
       deshalb niemals erfahren.“
       
       Manche der Bruchstücke sind nur wenige Zentimeter groß. Weil die
       Schiefertafeln so schwer entzifferbar sind, arbeitet Hollender nicht mit
       den Originalen. Eine Fotografin hat Bilder im Schräglicht angefertigt, die
       eine bessere Lesbarkeit ermöglichen. Je nach Zustand, so berichtet die
       Judaistin, kann die Entzifferung ganz rasch vor sich gehen oder zur
       stundenlangen Puzzlearbeit werden.
       
       Um herauszufinden, was die Menschen damals zu sich nahmen, schauten die
       Archäologen in die Kloaken. Dort fanden sie nicht nur Scherben,
       Kochgeschirr und Bauschutt, sondern auch Tierknochen. Hubert Berke hat die
       Knochen aus der Kloake unter der Synagoge akribisch untersucht – insgesamt
       fast 3.300. Das Ergebnis: Die Kölner Juden ernährten sich streng koscher.
       
       Lage und Größe des Kölner Judenviertels sind lange bekannt, denn das Kölner
       Judenschreinsbuch, das über die Besitzverhältnisse Auskunft gibt, hat sich
       über die Jahrhunderte erhalten. Der Bezirk, in dem nach der Berechnung von
       Thomas Otten wohl etwa 600 bis 1.000 Menschen lebten, war nicht
       abgeschlossen, an den Rändern wechselte christlicher mit jüdischem
       Hausbesitz. Es handelte sich also nicht um ein Getto.
       
       Etwa vom Jahr 1000 an lässt sich die Synagoge nachweisen. Die Archäologen
       entdeckten mehrere, teilweise kunstvoll aus Bodenfliesen erbaute Fußböden.
       Es gab wohl ruhige Zeiten, in denen die Juden, bei der Obrigkeit durch die
       Zahlung hoher Geldsummen abgesichert, unbehelligt ihrem Alltagsleben
       nachgehen konnten, etwa als Händler oder Handwerker.
       
       Aber viele Berufe blieben ihnen versperrt, weshalb man sich auf das
       Geldverleihen konzentrierte, das wiederum den Christen verboten war. So
       mancher Landesherr war bei den Kölner Juden hoch verschuldet.
       Antisemitische Legenden von jüdischen Ritualmorden an Christenkindern
       machten schon damals die Runde. Und so wurden Juden, allen
       Schutzprivilegien von weltlichen sowie geistigen Herrschern und der Stadt
       Köln zum Trotz, immer wieder gejagt und ermordet.
       
       „Es ist sinnlos, die Feinde des Christenglaubens in der Fremde zu
       bekämpfen, wenn doch die Christenmörder, nämlich die Juden, ungestraft in
       unseren Städten leben.“ So stachelte Abt Pierre de Cluny die wilden Haufen
       auf, die sich im Jahr 1096 zum ersten Kreuzzug aufmachten. Eine Serie von
       Pogromen war die Folge, ganz besonders im Rheinischen.
       
       Der Dichter Elieser ben Nathan schrieb: „Da erschrak den Kölner Juden das
       Herz zu Tode, und sie flüchteten sich ein jeder in das Haus eines
       christlichen Bekannten und blieben dort.“ Das spricht für eine gewisse
       Solidarität der Kölner. Der Kölner Erzbischof Hermann III. verweigerte den
       Verfolgten Obdach in seinen Räumen, stattdessen ließ er die Juden auf die
       umliegenden Landgemeinden verteilen. Doch auch dort fanden sie die
       Kreuzfahrer und ermordeten sie unter Mithilfe der Dörfler. Nur wenige Juden
       konnten nach Köln zurückkehren.
       
       ## Immer wieder von vorne
       
       „Die Barbaren! Sie schonten nicht die Schwangeren und ihrer Frucht, gruben
       die Unglücklichen lebens in Felshöhlen, warfen sie in siedende Kessel und
       flochten sie lebendig auf's Rad. – Alles dies ist über uns gekommen, doch
       fielen wir nicht ab von dir und murrten nicht gegen deinen Willen. Gerecht
       bist du, aber wir, wir fehlten gegen deine Gesetze, darum trafen uns diese
       Leiden. Und nun, o Gott, wie lange noch?“
       
       So betrauerte der Rabbiner Joel ben Isaac ha-Levi die Opfer eines Pogroms
       im Kölner Raum. Am 1. Februar 1197, so die Überlieferung, hatte ein
       geisteskranker Jude ein christliches Mädchen in Neuss getötet. Daraufhin
       ermordeten aufgehetzte Christen sechs Gemeindemitglieder und banden ihre
       Leichname aufs Rad. Sie plünderten die Häuser der Juden, begruben die
       Mutter des Geisteskranken bei lebendigem Leib, räderten die Brüder und
       stellten die Leichen zur Schau.
       
       Als Reaktion auf die Geschehnisse erhob der Kölner Erzbischof eine
       Geldstrafe von 150 Mark, damals eine enorme Summe. Nur musste die nicht von
       den Mördern bezahlt werden, sondern von der jüdischen Gemeinde – ein
       Verfahren, das verzweifelt an die Pogromnacht vom November 1938 unter den
       Nazis erinnert, als den Juden anschließend eine „Buße“ von einer Milliarde
       Reichsmark auferlegt wurde.
       
       Immer wieder aber entstand das Kölner Judenviertel im Mittelalter aufs
       Neue. Die Überlebenden begruben die Toten, räumten den Brandschutt weg,
       erneuerten ihre Synagoge und begannen von vorne. Schließlich war Köln mit
       seinen rund 50.000 Einwohnern eine der größten und prosperierendsten Städte
       der bekannten Welt, mit Handelsverbindungen bis in den Nahen Osten. Auch
       nach der Bartholomäusnacht von 1349 entstand wieder eine jüdische Gemeinde,
       deren Überreste die Archäologen identifizieren konnten.
       
       Doch im Jahre 1424 war Schluss. Der Kölner Rat verbannte die Juden „auf
       ewige Zeiten“ aus den Mauern der Stadt, denn die Stadtväter missgönnten dem
       Erzbischof, dass dieser durch seinen Schutzbrief hohe Geldsummen aus den
       Juden herauspressen konnte. Mit der Ausweisung der Minderheit hatten sie
       die Gelegenheit gefunden, es der Kirche heimzuzahlen – auf Kosten der
       Juden.
       
       ## Praktisch veranlagte Katholiken
       
       Selbst für einen Tagesbesuch benötigten sie fortan eine besondere
       Genehmigung. Die Menschen verließen die Stadt. Ihr Viertel ging in den
       Besitz von Christen über. Die Mikwe wurde zur Kloake. Auf den Grundmauern
       der Synagoge entstand 1426 die Ratskapelle St. Maria in Jerusalem. Den
       alten Grundriss übernahmen die praktisch veranlagten Kölner Katholiken. Die
       Kapelle versank erst in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs.
       
       Fast 400 Jahre lang durften in der katholischen Stadt keine Juden leben. So
       ganz stimmt die Geschichte von den 1.700 Jahre jüdischem Leben also nicht,
       jedenfalls was Köln angeht. Erst im Jahr 1794 änderten sich die
       Verhältnisse. Am 6. Oktober marschierten französische Truppen unter den
       Klängen der Marseillaise in Köln ein, die Revolution hatte den Rhein
       erreicht. „Alles, was nach Sklaverei schmecke“, so der französische
       Regierungskommissar, wurde abgeschafft. Und so fiel endlich auch der
       Judenbann.
       
       Die Aufklärung begann, das Bürgertum entstand, an beidem hatten gerade die
       Juden einen hohen Anteil. Doch auch in diesen besseren Zeiten des 19. und
       beginnenden 20. Jahrhunderts blieb die Gleichstellung ein Traum. Noch vor
       110 Jahren waren Juden manche Stellungen im Staatsdienst verwehrt.
       Stattdessen schlug die Geburtsstunde des Rasse-Antisemitismus, der
       Grundlage der NS-Ideologie. In der Weimarer Republik erfolgte endlich die
       Gleichstellung von Christen und Juden. Aber es waren nur 14 kurze Jahre bis
       zum Naziterror.
       
       So gesehen steht der Brandschutt der Kölner Bartholomäusnacht von 1349
       repräsentativer für die 1.700 Jahre jüdischer Geschichte in Deutschland als
       etwa die Beschwörung einer deutsch-jüdischen Symbiose in der Weimarer
       Republik. Dieser Brandschutt macht deutlich: Es geht hier nicht nur um
       Juden, sondern genauso um die Nichtjuden, nämlich diejenigen, die das
       Viertel damals zerstörten und die Menschen ermordeten, die, die zuschauten,
       und die, die daraus Profit schlugen. Und um ihre Nachkommen, denen im
       Bombenkrieg 1943 ein mutmaßlich geraubter Sederteller abhandenkam. Das
       Graben nach jahrhundertealten Artefakten in der Kölner Altstadt wird so zu
       einer sehr politischen Angelegenheit.
       
       Vor wenigen Jahren noch unkten Kölner Schwarzseher, es gebe für das neue
       jüdische Museum zu wenige Fundstücke, um eine Ausstellung füllen zu können.
       Heute sorgt sich der künftige Leiter Thomas Otten, wie all die Artefakte
       auf die 8.000 Quadratmeter passen sollen, die zur Verfügung stehen werden.
       
       1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – für Abraham Lehrer von der
       Synagogen-Gemeinde Köln bedeutet das trotz allem etwas Schönes. Er sagt:
       „Wir wollen nicht nur an die schlechten Zeiten erinnern, sondern auch an
       die guten.“ Auch wenn die verflucht selten vorgekommen sind.
       
       16 Feb 2021
       
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