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       # taz.de -- Kunstspaziergang durch Schöneberg: Kunst für Mit-Esser und Anrufer
       
       > Hinter Glas: Pia Fischer frisiert Masken und Alexander Iskin performt auf
       > Anruf. Im Netz: Russischer Impressionismus genial aufbereitet.
       
   IMG Bild: Der rettende Strohhalm: Einer von Pia Fischers bezaubernden Beiträgen zur GEDOK-Ausstellung „Masken“
       
       BERLIN taz | So sehr hat sich das Schaufenster als letzter verbliebener
       Ausstellungsort durchgesetzt, dass Index Berlin jetzt in seiner
       Ankündigungsrubrik „Sunday Open“ mit [1][„Lights ON!“] eine ganze Reihe
       besonderer Galerieschaufenster auflistet. Sie sind alle sehenswert. Aber,
       wie könnte es anders sein, nicht alle sehenswerten Schaufenster sind bei
       Index gelistet, das zeigt ein Spaziergang durchs heimische Viertel.
       
       Die GEDOK, 1926 als „Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer
       Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen“ von der Mäzenin Ida Dehmel
       (1870-1942) in Hamburg gegründet, ist das älteste und europaweit größte
       Netzwerk von Künstlerinnen. Die Mitglieder der Berliner Sektion haben
       derzeit das Schaufenster von [2][Pia Fischer] zum Ausstellungsraum erkoren.
       
       Pia Fischer ist die Frau, die aus den Etiketten und Labelaufnähern großer
       und nicht ganz so großer Marken die wunderbarsten Kleider näht, dazu
       Rucksäcke und Portemonnaies, die auch für Normalverdiener erschwinglich
       sind. Ihr Schaufenster ist also immer voller Überraschungen. Dass es jetzt
       aber noch einmal ganz besonders knallt, liegt an den 12 Künstlerinnen, die
       sich dem GEDOK-Jahresthema „Soziale Plastik 2021“ gewidmet und ihre Werke
       ins Fenster gestellt haben.
       
       Natürlich ist die Maske die soziale Plastik des Jahres 2021. Da hätte auch
       Beuys nicht widersprochen. Die persönlichen und gesellschaftlichen
       Auseinandersetzungen um dieses Ding beeinflussen unsere Wahrnehmung der
       Maske erheblich und umgekehrt liefert ihre Ästhetik und Materialität
       reichlich Grund für Probleme und Fragen.
       
       Und deshalb ist dieses GEDOK-Schaufenster so lustig und tröstlich, mit all
       den tollen Konfetti-Viren, die auf den Masken sitzen oder den super
       glamourösen Perlenstacheln, die die Coronavirus-Varianten und -Mutanten
       ausstrecken. Andere sind aus Wegwerfpapptellern und –plastiklöffeln gebaut
       („Für Mit-esser“), aus Geschenkschleifen („Für Geburtstagskinder“), einem
       Putzschwamm („Für Saubermacher“) oder sie sind mit fragilen Drahtfiguren
       bestückt („Traumtänzer“).
       
       ## Die interrealistische Plastik und der Telefonjoker
       
       Vor dem Schaufenster von Grisebach steht ein sympathisch wirkendes Paar und
       hinter dem Glas, im Schaufester, ein nicht minder sympathisch agierender
       Künstler. Alexander Iskin ist mit seinem „Fenster von hinten“ und seinen
       „interrealistischen“ Formationen der erste Akt des [3][„Grisebach
       Schaufenster Projekts“], das seit dem 1. Februar im Zweiwochenrhythmus von
       verschiedenen Künstlern bespielt wird.
       
       Es ist tatsächlich ein Spiel, mit dem der Künstler und das Paar sich
       vergnügen. Vor [4][Iskin] auf dem Boden liegen weiche, bemalte Stoffformen.
       Sie haben Magneten, wie sich herausstellt, als der Künstler beginnt, nach
       Anweisung des Paares – mit dem er über Handy verbunden ist – aus diesen
       Formen eine Plastik zu bauen. Und weil die Balance nicht immer ganz
       gelungen scheint, nimmt man da was weg und tut es dort hinzu.
       
       Da die Malerei auf den Formen Fragmente aus Iskins Arbeiten zitiert,
       entsteht mit der Plastik gleichzeitig ein dreidimensionales Gemälde. Iskin
       malt auch all-perspektivische Gemälde, die immer ein stimmiges Bild
       ergeben, egal ob sie auf dem Kopf stehen oder um 90 Grad bzw. mehr oder
       auch weniger gedreht werden. Eines hängt an der Rückwand des Schaufensters
       und ein Drehmechanismus erlaubt es, der Sache auf den Grund zu gehen. Für
       weitere Momente des Interrealismus ist es allerdings zu kalt und der
       Künstler experimentiert ohne Zuschauer*in weiter (bis 14. Februar,
       „Live-Performance“ täglich 17-18 Uhr, rufen Sie den Künstler an: 0163
       1901968. Das Projekt selbst geht bis 28. März).
       
       ## Der Weg der Avantgarde
       
       Alternativ zum Schaufenster lässt sich Kunst per Videobesuch erfahren. Zum
       Beispiel der „Impressionismus in Russland“, im Untertitel als „Aufbruch zur
       Avantgarde“ interpretiert. Wer Lust auf ein solides kunsthistorisches
       Seminar hat, dem sei der Onlinebesuch der Ausstellung im Museum Barberini
       in Potsdam unbedingt empfohlen. Da gibt es zum Bespiel den bekannten
       Bildvergleich. Ilja Repin malt seine Familie beim Ausflug in die freie
       Natur „Auf dem Feldrain“ (1879), und weil Hasso Plattner bekanntlich eine
       schöne [5][Impressionistensammlung] hat, die nur ein oder zwei Stockwerke
       unter der Sonderausstellung zu sehen ist, findet sich dort das Gemälde
       Claude Monets „Mohnfeld“ (1873) mit analogem Motiv.
       
       Repin könnte es vielleicht gekannt haben, denn er lebte dank eines
       Stipendiums von 1873 bis 1876 in Paris. Die Bekanntschaft mit dem
       Impressionismus, die er und noch einige andere russische Künstler*innen
       – etwa Nicolas Tarkhoff, wie seine „Straße im Pariser Vorort Saint-Martin“
       (1901) zeigt – dort machten, brachte neben der Farbe auch das gewöhnliche
       Alltagsmotiv in die russische Malerei. Olga Rosanowa, bekannt mit dem
       französischen Spätimpressionismus, malte etwa schlichte „Blumen auf der
       Fensterbank“ (1910). Doch weniger die Blumen als die Fensterbank und der
       Vorhang, der den Blick ins Zimmer verhindert, fallen in ihrem malerische
       Duktus auf: Der Weg der Avantgarde wird deutlich. 1917 bekennt sich
       Rosanowa zum Suprematismus Kasimir Malewitschs. 1918 wird sie Opfer der in
       Russland grassiereden Diphterie-Epidemie.
       
       Der [6][Onlinebesuch der Ausstellung], der es erlaubt, Fragen an
       Kurator*innen zu stellen und der die Diskussion ermutigt, muss gebucht
       werden. Gleichzeitig kann man aber auch über die Website anhand des
       Barberini Prologs zu einem [7][eigenständigen Rundgang] aufbrechen.
       Nirgendwo in Berlin und Umgebung, so scheint es, ist der virtuelle Besuch
       perfekter aufbereitet. Besonders schön ist aber die Nachricht, dass die
       Ausstellung nach Potsdam zurückkehrt und ab dem 28. August wieder zu sehen
       ist.
       
       9 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.indexberlin.com/lights_on/
   DIR [2] http://www.creationpiafischer.de/home/
   DIR [3] https://www.indexberlin.com/exhibitions/list/16088/fenster-von-hinten
   DIR [4] http://www.alexanderiskin.com/
   DIR [5] https://www.museum-barberini.de/de/ausstellungen/520/impressionismus
   DIR [6] https://www.museum-barberini.de/de/mediathek/1738/impressionismus-experten-im-gespraech
   DIR [7] https://www.museum-barberini.de/de/ausstellungen/591/impressionismus-in-russland-aufbruch-zur-avantgarde
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Brigitte Werneburg
       
       ## TAGS
       
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