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       # taz.de -- Neuauflage der Kopenhagen-Trilogie: Wie ein herrenloser struppiger Hund
       
       > Tove Ditlevsen wehrte sich stets gegen die Festschreibungen durch ihre
       > Herkunft. Nun sind ihre schonungslosen Erinnerungen wiederentdeckt
       > worden.
       
   IMG Bild: Eine Frau, die dichtet? Das sei Sache der Männer, wurde ihr gesagt. Tove Ditlevsen starb 1976
       
       Tove Ditlevsen ist erst Mitte zwanzig, aber sie ist als
       [1][Schriftstellerin in Dänemark] schon berühmt. So berühmt, dass der Arzt,
       den sie wegen einer Abtreibung aufsucht, sie erkennt. Er hat ihren Roman
       gelesen, sagt er ihr, und findet ihn gut. Nur macht er, den sie nach einer
       längeren Odyssee endlich gefunden hat, jetzt keine Abtreibungen mehr. Es
       sind schwierige Zeiten, entschuldigt er sich.
       
       Dänemark ist von den Nazis besetzt. Er verweist sie an einen anderen Arzt,
       der in einer privaten Wohnung ganz klandestin mit einer langen Nadel in
       ihre Fruchtblase sticht. Wenn sie dann blutet, wenn Fieber kommt, dann kann
       sie ins Krankenhaus gehen, wo alle Bescheid wissen und alle so tun, als
       handle es sich um natürliche Schwangerschaftskomplikationen. So geschieht
       es.
       
       Ditlevsen erzählt davon im dritten Band ihrer Erinnerungen, „Abhängigkeit“.
       „Kindheit“ heißt, schlicht, der erste, „Jugend“, ebenso schlicht, der
       zweite, beide ursprünglich 1967 erschienen. Zusammen ergeben sie das
       Selbstporträt der Künstlerin als junge Frau. Wozu gehört, dass man ihr früh
       mitteilt, dass es das gar nicht geben kann: Eine dichtende Frau – denn
       Dichten ist eine Sache für Männer.
       
       ## Sie entdeckt Victor Hugo
       
       Ihr Vater sagt das, Arbeiter, Heizer, der mal einen Job hat, dann wieder
       nicht. Der Wohnraum, das Geld, jeder Spielraum, auch für die Fantasie:
       Alles ist knapp. Dabei hat der Vater, anders als die Mutter, einen Sinn für
       Literatur, liest viel, hat eine sozialistische Zeitung abonniert, lobt die
       Tochter, als sie in der Leihbücherei Victor Hugo entdeckt, nur selber
       Dichterin sein, das kann sie nicht.
       
       Die Mutter ist keine Hilfe, eine harte Frau, die der Tochter keine Wärme,
       keine Bestätigung gibt. Sie soll einen Mann finden mit verlässlichem Job,
       dann das Leben als Mutter und Hausfrau führen, das die Mutter auch führt.
       
       Die Familie, die Herkunft, der Blick der Gesellschaft auf die Frau: Das ist
       für Tove Ditlevsen ein einziger Entfaltungsverhinderungszusammenhang. Die
       Kindheit, so formuliert sie es: ein Sarg, dem man nicht aus eigenen Kräften
       entkommt.
       
       ## Gedichte als Ausweg
       
       Sie schreibt Gedichte, sie ist felsenfest überzeugt, dass darin ein Ausweg
       liegt, ein Ausgang heraus aus dieser Welt ihrer Herkunft, der kleinen
       Wohnung ohne eigenes Zimmer, mit dem Bruder, der ihre Gedichte liest und
       staunt und sich nur wundern kann, was sie da schreibt, denn das hat sie ja
       gar nicht erlebt, das ist für ihn alles Lüge.
       
       Das sind die Festschreibungen, gegen die Tove Ditlevsen anschreibt: Die
       Rolle als Frau ist festgeschrieben, die Rolle als Tochter ist es, die Rolle
       der Mutter, des Vaters als Arbeiter, festgeschrieben ist auch, dass es für
       jeden Versuch, dem allen etwas entgegenzusetzen, ihm zu entkommen, nur
       Tadel, Kopfschütteln, Zurechtweisung gibt.
       
       Ein Zimmer für sich ist das, was sie braucht, schreibt Tove Ditlevsen, wie
       es schon Virginia Woolf schrieb. Und sie ist beharrlich, sie bekommt das
       Zimmer, erst zu Hause, dann zur Miete. Sie stellt eine Schreibmaschine
       hinein, sie legt Tücher darunter, wegen des Lärms, sie tippt in der Nacht,
       wenn die Vermieterin schläft.
       
       ## Ambivalente Erinnerungen
       
       Daneben arbeitet sie, Hilfsdienste, hier, da, eine rasche Abfolge von Jobs,
       ein Chef, der sie belästigt, was für sie eine ambivalente Sache ist, denn
       wenn sie ehrlich ist, und furchterregend ehrlich ist sie in diesen
       Erinnerungen, muss sie zugeben: Es ist das auch etwas, das ihr gefehlt hat,
       dass sie einer begehrt.
       
       Sie geht viel aus, sie hat eine Freundin, Nina, sie haben sich in einer
       Amateurschauspielgruppe kennengelernt. Nina ist blond, attraktiv, mit ihr
       wollen die Männer tanzen, mit Tove nicht, der man, die Familie, immer
       eingeredet hat, dass sie nicht begehrenswert sei. Ihre Selbstwahrnehmung,
       so schreibt sie in „Jugend“: „An einen herrenlosen Hund erinnere ich,
       struppig, verwirrt und allein.“
       
       Mit vierzehn ist sie zum Redakteur einer kleinen Zeitschrift gegangen. Er
       hat ihre Gedichte gelesen, einige, die erotischen, findet er gut, aber
       drucken will er sie nicht, sie solle ihn ein paar Jahren wiederkommen. Bald
       darauf stirbt der Redakteur. Ditlevsen lernt einen älteren Mann kennen, der
       ihre Gedichte schätzt, der ihre Liebe zur Literatur teilt, aber eines Tages
       ist das Haus abgerissen, der Mann ist für immer verschwunden.
       
       Männer sind die obligatorischen Passagepunkte auf dem Weg in die Literatur,
       keine bösartigen Männer, nur privilegienblind medioker, Männer, die sich
       genommen haben, was ihnen die Welt freiwillig gab. Dann der Hinweis auf
       Viggo F. Møller, Herausgeber einer kleinen, aber angesehenen
       Literaturzeitschrift namens Wilder Weizen.
       
       ## „Dich niemals sehen und berühren“
       
       Sie zeigt ihre Gedichte, eines davon findet er gut, will es drucken, es
       geht darin um ein totgeborenes Kind: „Nie durfte ich deine Stimme hören, /
       Dich niemals sehen und berühren. / Doch das Strampeln winzigkleiner Füße /
       Werd’ ich für immer in mir spüren.“
       
       Das Gedicht erscheint, wird in anderen Zeitschriften gelobt, auf einen
       Schlag ist sie wer im kleinen dänischen Literaturbetrieb. So erzählt sie
       es. In Wahrheit ist kurz zuvor schon ein anderes Gedicht von ihr in der
       Zeitschrift erschienen.
       
       Tove Ditlevsens Erinnerungen sind stets ungeheuer präzise. Satz für Satz
       knapp, scharf, kein Wort zu viel, vollkommen unsentimental im Blick auf die
       Mitwelt und vor allem auch im Blick auf sich selbst. Was nicht heißen muss,
       dass alles genau so war, wie sie es mehr als zwanzig Jahre später
       beschreibt. Man muss darum noch nicht Autofiktion dazu sagen. Die
       Erinnerung schreibt auch ohne Zutun der Erinnernden die Wirklichkeit um.
       
       ## Zutritt in eine fremde Welt
       
       Durch den Erfolg erhält sie Zutritt zu einer ihr bis dahin fremden Welt.
       Man reicht sie herum, sie stellt fest, es gibt bereits eine erfolgreiche
       Lyrikerin, aber sie stellt auch fest, dass diese nicht daran denkt,
       solidarisch zu sein. Es folgt der erste Roman, aus der Bekanntheit wird
       Ruhm. Tove Ditlevsen könnte frei sein, sie ist es nicht. Sie entkommt dem
       Sarg ihrer Herkunft, aber es zeigt sich, dass die Unfreiheit nicht nur ihre
       Kindheit zerstört, sondern noch ihren unbändigen Freiheitsgeist dauerhaft
       deformiert hat.
       
       „Gift“ lautet der Originaltitel des dritten Bands der Trilogie, im
       Dänischen ein doppeldeutiges Wort: Es bedeutet, als Substantiv, Gift. Als
       Adjektiv aber: verheiratet. „Abhängigkeit“, der deutsche Titel, trifft es
       darum nicht schlecht. Zum einen die Männer: Ditlevsen heiratet Viggo F.
       Møller, fast dreißig Jahre älter als sie, nicht weil sie ihn sonderlich
       attraktiv oder charismatisch findet. Es ist noch der flehende Blick der
       jungen, der Beengung fliehenden Frau, der ihn, oder die Ehe mit ihm,
       begehrenswert macht. Aus Bewunderung für den Mann wird bald Desinteresse.
       
       Weitere folgen, jüngere, erst eine Affäre mit einem, für den sie nur eine
       unter vielen anderen ist, dann Ebbe, mit dem sie eine Tochter hat, mit dem
       sie aber kein zweites Kind will, darum die Abtreibung. Auf das Drama des
       begabten Kindes folgt das Drama der Frau, mit deren Erfolgen der Mann nicht
       klarkommt. Und dann folgt der fatale Carl, Medizinstudent, als solcher hat
       er Zugang zum Opioid Demerol, von dem Ditlevsen abhängig wird.
       
       ## Von Demerol zu Methadon
       
       Die erste Spritze: eine Glückserfahrung sondergleichen. Der Schleier, der
       sonst, wie sie schreibt, zwischen ihr und der Wirklichkeit liegt, ist
       verschwunden. Weil sie unter Demeroleinfluss nicht schreiben kann,
       wechselt sie später zu Methadon, macht eine Entziehungskur, wird wieder
       süchtig. Fünf Jahre nach Erscheinen von „Abhängigkeit“ nimmt sie sich mit
       Schlaftabletten das Leben.
       
       Sie dreht sich, so beschreibt sie es, nach jeder Spritze zur Seite. Eine
       Abwendung von der Welt, sie gleicht der ihres Vaters, der oft zu Hause auf
       der Couch lag, mit dem Rücken zu Frau und Kindern. Anders als für den Vater
       bleibt für Tove Ditlevsen eine Gegenbewegung, eine Zuwendung zur
       Wirklichkeit möglich, im Schreiben.
       
       ## Wahre Lügen
       
       Hier erlaubt sie sich keinen Eskapismus, hier blickt sie in einer Vielzahl
       von Gedichten, Kurzgeschichten, Romanen und auch in diesen Erinnerungen wie
       mit abgeschnittenen Lidern auf sich und die Welt. Hier sind auch Lügen
       möglich, solange sie wahr sind.
       
       Es ist kein Zufall, dass Ditlevsen gerade nicht nur in Deutschland, sondern
       auch in der englischsprachigen Welt wieder entdeckt wird. Man hat ihre
       sezierende Prosa mit der Annie Ernauxs verglichen, auch sie in Deutschland
       sehr verspätet entdeckt.
       
       Der Vergleich ist berechtigt, so singulär beide Autorinnen zugleich auch
       sind. Was sie verbindet, ist ihre Fähigkeit, einer widrigen Wirklichkeit
       standzuhalten. Im Leben, und wenn nicht im Leben, dann in der Literatur.
       
       20 Feb 2021
       
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