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       # taz.de -- Ein Abschied vom Rundfunk: Classic ist inzwischen alles
       
       > Vom Verlust einer langjährigen Gesellschafterin: Wie man bei rbbKultur
       > von nassforschen Moderationen und einlullender Musik vertrieben wird.
       
   IMG Bild: Und gleich heißt es „Holla, die Waldfee!“
       
       Mit R. verbringe ich seit Jahren jeden Tag, vom Aufwachen bis zum frühen
       Abend, manchmal länger, je nachdem. R. lebt sozusagen mit mir in meiner
       Wohnung, ist immer da, wenn ich am Schreibtisch sitze und schreibe, und
       einmal war R. mit mir sogar längere Zeit in Charlottesville, Virginia, wo
       ich ebenfalls eine Weile einen Schreibtisch hatte, wobei für R. dann
       bereits Nachmittag war, als ich morgens aufstand.
       
       R., das steht für Radio – aber auch für so etwas wie eine Gesellschafterin,
       jedenfalls fühle ich mich ohne R. ein wenig verloren. R. ist jederzeit: da.
       Als menschliche Stimme im Raum, als Geräusch, als Musik. Der Einfluss, den
       R. auf den Alltag hat, ist kaum geringer als der jeder anderen
       Mitbewohnerin.
       
       Da ich in Berlin lebe, war mein R. bisher die Rundfunkwelle rbbKultur,
       ehemals rbb-Kulturradio, ehemals SFB 3 – ich hänge ja schon seit über 30
       Jahren an der Antenne. Von meinen menschlichen Beziehungen waren nicht
       viele so stabil. So gut wie alles, was ich in dieser Zeit geschrieben habe,
       wurde von R. beschallt, ganz sicher schlug sich das bewusst oder unbewusst
       Gehörte auf geheimnisvolle Weise nieder in meinen Texten. Aufgeschnappte
       Wortfetzen, die die Gedanken in eine neue Richtung lenkten. Musik, die den
       Puls veränderte und den Rhythmus der Sätze und die immer wieder daran
       erinnerte, worum es auch beim Schreiben sogar der lustigsten Texte geht: um
       Kühnheit, Hingabe, darum, immer wieder etwas Neues zu finden und nie, nie,
       nie in Stereotype und Klischees zu verfallen. Ich spreche von klassischer
       Musik – womit mich mein R. den Tag über erfreute.
       
       ## Phrasen, Stereotypen
       
       Allerdings befand sich meine lange Beziehung zu R. schon eine ganze Weile
       auf dem absteigenden Ast. Denn während vor Urzeiten nur die ans Mikrofon
       durften, die etwas von dem verstanden, wovon sie sprachen, gibt es längst
       „Moderatoren“, die alles wegmoderieren, was anfällt, und ihre
       Ahnungslosigkeit gekonnt mit Phrasen, Stereotypen, Klischees unterfüttern.
       
       Da ist die nassforsche Person, die bis 10 Uhr vormittags alle 10 Minuten
       ein „Guten Morgen“ in den Äther schmettert und so Sätze sagt wie: „Halten
       Sie sich fest, jetzt kommen gleich zwölf Cellisten auf einmal, ist das
       nicht der Hammer?“, und einmal entfuhr ihr sogar ein „Holla, die Waldfee!“.
       Irgendjemand muss ihr auch gesagt haben, dass es gut sei, ab und zu
       persönlich zu werden, weshalb sie eines Tages verkündete, sie ginge jetzt
       nach Hause, um online an einem Kurs für Patchwork-Arbeiten teilzunehmen.
       
       Man hatte wohl vergessen, der Person den Unterschied zwischen persönlich
       und privat respektive peinlich zu erklären.
       
       Oder die Person, die stets „toooolle Rätsel“ ankündigt und sich im Sommer
       rührend um die Insassen einer Art Gesamt-Altenheim daheim an den Empfängern
       sorgt: „Bitte denken Sie daran: trinken, trinken, trinken!“ Ansonsten regt
       die Person sich auch gerne im feinsten künstlichen Ranschmeißerberlinerisch
       über das Regietheater auf, wo bekanntlich stets alle nackt auf der Bühne
       sind – „ja muuuuss dit denn sein?!“
       
       Oder die Person, die stets eineinhalb Oktaven über der natürlichen
       Stimmlage flötet und am Ende einer Sprechphrase noch einmal weiter
       hochgeht, weil das so optimistisch klingt, und ab und zu betont das
       Stimmchen auch, dass wir jetzt „positiv denken“ müssen.
       
       Schließlich, erst neulich, die Person, die einen Beitrag zum 90. Geburtstag
       von Thomas Bernhard folgendermaßen anmoderierte: „Es war für viele ein
       Schock, als Thomas Bernhard 1989 starb. Auch für mich, denn ich war frisch
       verliebt in seine Theaterstücke.“ Nicht auszuschließen, dass die übrigens
       männliche Person Thomas Bernhard mit Lady Di und die Theaterstücke mit
       einer Herrenhandtasche von Gucci verwechselt hat, in jedem Fall hätte
       Bernhard ihr wegen solcher Frauenzeitschriftssätze ein lebenslanges
       Kontaktverbot zu seinen Werken erteilt.
       
       ## Nicht klüger, nicht sensibler
       
       Das alles zeigt einmal mehr, dass manche Leute, selbst wenn sie durch ihren
       Job halbwegs anspruchsvoller künstlerischer Produktion ausgesetzt werden,
       nicht klüger, nicht sensibler und auch nicht geschmackssicherer werden.
       
       Aber so wie man eben auch unerträgliche Verwandte in Kauf nimmt, hing ich
       trotzdem noch eine ganze Weile an meinem R., und auch in Charlottesville
       war ich froh über das bisschen gestreamte Berlin. Überdies gibt es auf
       rbbKultur nach wie vor auch ein paar interessante Wortbeiträge und
       angenehmere und klügere Stimmen.
       
       Nutzt jetzt aber auch nichts mehr. Denn mit R. und mir ist es endgültig
       aus.
       
       Da war zuerst die Programmreform im vergangenen September, die, wie
       behauptet wurde, „mehr Vielfalt“ in die Musik bringen sollte – dazu gleich
       mehr. Und soeben folgte, in einer zweiten Stufe der Eskalation, ein „neues
       Sound Design für urbaneren, moderneren Gesamtklang“. Letzteres bedeutet,
       dass mehrmals in der Stunde Jingles aus der Produktion des
       Ewigejugend-Senders radioeins rausgehauen werden: die – angebliche – Stimme
       des verdienten Künstlers Alexander Scheer, getrimmt auf etwas zwischen
       markig und einschmeichelnd und bis zur völligen Absurdität plastiniert,
       eingefasst von einer Reihe von Handy-Klingeltönen.
       
       „Urban“ daran ist, dass sie an den irren Sound in den einstigen
       Schlecker-Filialen erinnern, der seinen Beitrag zu deren Untergang
       geleistet haben mag. Dieses neue „Sound Design“ wäre also schon
       Trennungsgrund genug gewesen.
       
       ## Die neue Einfalt
       
       Vor allem aber war es die neue „Vielfalt“ in der Musik, die auf weiten
       Strecken des Tagesprogramms nur noch Reste von klassischer Musik im engeren
       Sinne übrig lässt. So sollen, sagt der rbb, vor allem „jüngere Zielgruppen“
       angelockt werden, warum auch immer, denn der Sender hat keinen Quotendruck.
       Die Lockstoffe sind: Bombast und Schwulst aus Filmen und Fernsehserien der
       Blockbuster-Kategorie („Gladiator“, „ET“, „Downton Abbey“ etc.).
       Internationale Folklore mit Fiedeln, Klarinetten und Bandoneon. Bach
       verjazzt, Mozart als Rumba – den Urgroßvätern der Millennials hat das in
       den 1960 Jahren gefallen. Minimal Music – ebenfalls vor einem halben
       Jahrhundert neu. Gesungenes von alten Haudegen wie Paul McCartney (78),
       Paul Simon (79), Joni Mitchell (77), denn Classic ist inzwischen ja alles,
       von den Hits der 70er, 80er und 90er Jahre bis zum Ford Fiesta von 1976.
       Schließlich die halbseidenen ultrakommerziellen Pop-Hit-Einspielungen
       eigentlich guter Ensembles: Stevie Wonder und Pharrell Williams gespielt
       von renommierten Streichquartetten, „La vie en rose“ von den Zwölf
       Cellisten, die Münchner Symphoniker mit dem Piaf-Hit „Sous le ciel de
       Paris“. Geglückter Anschluss an „Melodien für Millionen“.
       
       Beim rbb, so ließ ich mir sagen, hält man das für „Qualität“. Insgesamt ist
       das alles so frisch und so aufregend, wie wenn sich ein ausrangierter
       Verteidigungsminister beim Großen Zapfenstreich Musik von den Beatles
       wünscht.
       
       Schließlich die Abteilung der sogenannte Neoklassik mit Protagonisten wie
       Ludovico Einaudi oder Max Richter. Die Antwort der Popmusik auf
       Manufactum. Akustik-Sound, gerne Klavier oder Geige, anschmiegsame,
       perlende Tonfolgen, getragene Melodien – mit einem Wort: Kitsch. Oder wie
       Ólafur Arnalds, einer der Helden dieses Genres, es ausdrückte: „Man
       schreibt eine Melodie und einige Akkorde. Eigentlich ist es überall
       dasselbe, oder?“
       
       Kurz: Im Vergleich zu diesem einlullenden und einfältigen Musikprogramm ist
       ein Fahrstuhl ein Ort anspruchsvollen Hörgenusses. In solch öder Umgebung
       verlieren auch die wirklich klassischen Werke vollständig ihren Glanz.
       
       Wie kommt man eigentlich auf die Idee, dass die „jüngere Zielgruppe“ sich
       ausgerechnet mit schlechtem Geschmack und solch ranzigem Zeug ködern lassen
       würde? Nur mal als Gegenbeispiel: Der Pianist Igor Levit (33), gefeierter
       Beethoven-Interpret, hat auf Twitter 126.000 Follower.
       
       Sie hoffe, dass sich auch die bisherigen Hörerinnen für das, was jetzt neu
       bei rbbKultur ist, öffnen, sagte mir die Wellenchefin Verena Keysers. Aha.
       Sich nicht etwa dem Anspruchsvolleren, sondern dem Anspruchsloseren öffnen,
       also vom Komplexen zum Unterkomplexen, nicht umgekehrt! Merkwürdige
       Vorstellung davon, wie menschliche Entwicklung funktioniert. Gottlob läuft
       sie meist nicht rückwärts.
       
       Nachdem mein R. also gewissermaßen Selbstmord begangen hat, musste ich mir
       nun zwei neue R. suchen. Fernbeziehungen nach Köln zu WDR 3 und nach
       München zu BR-Klassik, deren Stimmen mir bisher noch sehr fremd sind.
       Immerhin weiß ich jetzt stets, wie das Wetter in Aachen und Duisburg ist
       und wie es auf der A 8 in Richtung Salzburg aussieht.
       
       Traurig, dieser Abschied nach 30 Jahren. Und kaum zu glauben, dass es für
       unsere Rundfunkgebühren in Berlin keinen Sender mehr gibt, der so Leute wie
       mich versorgt, die keine Lust auf all dieses Zeug haben, das ich nun
       geschildert habe.
       
       28 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gabriele Riedle
       
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