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       # taz.de -- Die Grünen im Wahlkampfjahr: Volle Deckung
       
       > Der konservative Aufschrei gegen das imaginierte Einfamilienhaus-Verbot
       > erschreckt die Grünen. Welche Schlüsse ziehen sie für den Wahlkampf?
       
   IMG Bild: Haben kein Interesse an Kulturkämpfen: Das Grünen-Spitzenduo Annalena Baerbock und Robert Habeck
       
       Berlin taz | Der Mann, der den Deutschen angeblich das Einfamilienhaus
       verbieten wollte, klingt am Telefon etwas ernüchtert. „Das war ein
       Vorgeschmack, wie hart der Wahlkampf gegen eine realistische Klima- und
       Umweltpolitik wird“, sagt Anton Hofreiter.
       
       Einige hätten versucht, eine sachliche Auseinandersetzung zu verhindern.
       Sie hätten Leute in die Irre geführt, Unterstellungen lanciert und das
       Thema identitätspolitisch aufgeladen, um die Leute auf die Bäume zu
       treiben. Hofreiter schnauft. „Wenn wir so miteinander diskutieren,
       verunmöglicht das jeden ernsthaften Diskurs.“
       
       Das Problem ist nur: Was tun, wenn die Gegenseite überhaupt kein Interesse
       am ernsthaften Diskurs hat?
       
       Diese Frage stellt sich für die Grünen gerade sehr konkret. Sie haben eine
       beinharte Woche hinter sich. Politiker von CDU, CSU, FDP und SPD
       bezeichneten sie mal wieder als Verbotspartei, als erbitterte Moralapostel,
       die den Deutschen den Traum vom eigenen Häuschen madig machen.
       
       ## Kämpfen oder Wegducken?
       
       Welche Schlüsse ziehen die Grünen daraus? Es gibt, grob gesagt, zwei
       Möglichkeiten: Man kann die eigenen Argumente detailliert ausbreiten und
       hoffen, dass sie den Menschen einleuchten. Oder man duckt sich weg und sagt
       lieber nicht die ganze Wahrheit. Es sieht so aus, als entschiede sich
       Hofreiters Partei für die zweite, einfachere Strategie – aus
       nachvollziehbaren Gründen.
       
       Aber von vorn. Eigentlich fing alles ganz harmlos an. [1][Der
       Bezirksamtschef von Hamburg-Nord, Michael Werner-Boelz, hat entschieden, in
       neuen Baugebieten keine Einfamilienhäuser mehr auszuweisen.] Ein Kurs, den
       auch Kommunalpolitiker anderer Parteien anderswo verfolgen: Die Städte
       verzeichnen Zuzüge, sie brauchen bezahlbaren Wohnraum, die Flächen sind
       knapp.
       
       [2][Hofreiter verteidigte in einem Spiegel-Interview die
       Entscheidungsfreiheit der Kommunen.] Über das Einfamilienhaus sagte er ein
       paar banale Sätze, die jeder Stadtplaner unterschreiben würde.
       „Einparteienhäuser verbrauchen viel Fläche, viele Baustoffe, viel Energie,
       sie sorgen für Zersiedelung und damit auch für noch mehr Verkehr.“
       Gleichzeitig betonte er, dass die Grünen niemandem die eigenen vier Wände
       verbieten wollten.
       
       Es half ihm nicht viel. Ein Aufschrei folgte. Die politische Konkurrenz
       warf den Grünen einen ideologisch motivierten Feldzug gegen das
       Einfamilienhaus vor. Markus Söder, Olaf Scholz, der FDPler Volker Wissing –
       alle bliesen ins selbe Horn. Grünen-Chef Robert Habeck ruderte öffentlich
       zurück und beteuerte, dass von Verboten keine Rede sein könne. Das
       Einfamilienhaus „ist für viele Menschen Teil ihres Lebens, ihrer
       Lebenspläne und ihrer Wünsche und wird es auch in Zukunft bleiben“.
       
       ## Nur die halbe Wahrheit
       
       Das allerdings ist eine unvollständige Version der Wahrheit. Die Grünen
       stehen dieser Wohnform aus ökologischen Gründen nämlich sehr wohl skeptisch
       gegenüber. Für ein Einfamilienhaus seien im Schnitt 200 Tonnen Kies und
       Sand nötig, heißt es in einem Parteitagsbeschluss aus dem Jahr 2019. Und:
       Nötig sei ein Programm für flächensparendes Wohnen und Arbeiten, um
       bestehende Flächen besser auszunutzen.
       
       Richtig ist deshalb: Grüne Politik würde das Einfamilienhaus nicht
       verbieten, aber sie würde das Angebot von neu gebauten Häusern auf der
       grünen Wiese durch andere Planung wohl verknappen. Das muss kein Problem
       sein. Wenn Dorf- und Stadtkerne wiederbelebt und verdichtet würden, wäre
       genug Wohnraum für alle da. Fußgängerzonen würden lebendiger. Außerdem
       würde Flächenfraß verlangsamt, die Natur könnte sich erholen.
       
       Eigentlich eine Win-win-Situation. Machen zu viel Versiegelung,
       Artensterben und sinkende Grundwasserpegel eine andere Baupolitik
       notwendig? Dieses Niveau erreichte die öffentliche Debatte erst gar nicht,
       leider. Ob es ums Fleischessen, ums Autofahren oder ums Fliegen geht, es
       ist immer dasselbe: Konservative, Liberale und ihnen geneigte Medien
       unterstellen den Grünen Verbotswahn, jene wiederum beteuern das Gegenteil.
       Die eine Seite schreit „Verbotspartei!“, die andere geht in Deckung.
       
       Die Wahrheit und der Streit um die beste Lösung bleiben so auf der Strecke.
       Denn um die ökologische Wende wirklich zu schaffen, müssten die Deutschen
       weniger Fleisch essen und auch mal aufs Auto und Flüge verzichten. Nur
       trauen sich die Grünen nicht, das offen zu sagen.
       
       ## „Das fragen Sie mal Ihre KollegInnen“
       
       Natürlich ist ihnen dieses Dilemma bewusst. Fragt man die Vorsitzende
       Annalena Baerbock, ob bestimmte ökologische Themen nicht diskutierbar
       seien, weil sie sofort diffamiert würden, antwortet sie wie aus der Pistole
       geschossen: „Das fragen Sie mal Ihre KollegInnen.“ Sie lacht dabei, aber im
       Kern enthält der Satz eine Medienkritik. Bei den Grünen ist ein offenes
       Geheimnis: Die Bild-Zeitung nutzt jede Chance, um eine Kampagne gegen sie
       zu fahren – besonders gerne in Wahlkämpfen.
       
       Die Bild war es auch, die 2013 den Veggieday entdeckte. Der eigentlich
       harmlose Vorschlag im Grünen-Programm, einen fleischfreien Tag in Kantinen
       einzurichten, hatte auch in vorherigen Wahlprogrammen gestanden – und nie
       jemanden gestört. Nun wurde er zu dem Vorwurf hochgejazzt, die Grünen
       wollten den Deutschen das Fleisch verbieten. Das Ergebnis: 8,4 Prozent.
       Dieses Veggieday-Trauma sitzt tief.
       
       Nicht nur Hofreiter warnt seine Partei im Moment vor harten Monaten bis zum
       September. Bundesgeschäftsführer Michael Kellner, der den Wahlkampf
       verantwortet, sagt: „Der Bundestagswahlkampf wird brutal. Wir machen uns
       keine Illusionen. Wir stehen als Grüne im Zentrum der Aufmerksamkeit und
       werden auch im Zentrum der Angriffe stehen.“
       
       Wie nervös die Partei ist, ließ sich neulich bei einer Lappalie beobachten.
       Vor ein paar Wochen plädierten zwölf linke Mitglieder in einem offenen
       Brief dafür, auf eine Kanzlerkandidatur zu verzichten. Ihr Argument:
       „Personenkult tut uns nicht gut.“ Eine Zeitung griff das Thema auf.
       Eigentlich hätte man den Einwurf getrost ignorieren können, die Gruppe hat
       in der Partei nichts zu melden. [3][Doch Kellner wies die zwölf Basisleute
       via Spiegel in die Schranken.] Bundesvorstandsmitglied Jamila Schäfer warf
       ihnen auf Twitter vor, mit dem offenen Brief zu „trollen“. Selbstbewusst
       wirkte das nicht, sondern völlig überzogen.
       
       ## Keine Erfahrung mit Gegenwind
       
       Kellner weiß, dass die Erfahrung harten Gegenwinds für viele Grüne völlig
       neu ist. In den vergangenen Jahren sind jede Menge unerfahrene
       Neumitglieder dazugestoßen. Und die Medien gingen mit den Grünen in der
       Opposition vergleichsweise freundlich um. Dazu passt, dass Habeck und
       Baerbock der Partei das Freund-Feind-Denken weitgehend abgewöhnt haben. Es
       gibt keine politischen Lager mehr, lautet ihre Analyse – und die Konkurrenz
       müsse nett behandelt werden.
       
       Das klingt gut in Interviews, aber ein bisschen naiv ist es auch. Jetzt
       lernen viele Grüne auf die harte Tour, dass Lager sehr wohl noch
       existieren, zumindest dann, wenn es um etwas geht.
       
       Es gibt Stimmen an der Basis, die sich mehr Klartext von der Parteispitze
       wünschen. Mathis Weselmann, Geschäftsführer des Stadtverbandes Hannover,
       bezeichnet es auf Twitter als „nervig, wie defensiv meine Partei auf
       CSU-Angriffe reagiert“. Immer werde erklärt, dass man alles gar nicht so
       gemeint habe. „Statt zum Beispiel zu sagen: Wer das Einfamilienhaus zum
       Menschenrecht hochjazzt, befeuert die Mietenkrise in den Städten.“
       
       Hofreiters frommer Wunsch 
       
       Aber viele Grüne mahnen intern zur Vorsicht. Man dürfe sich eben nicht ohne
       Not angreifbar machen, die Gegenseite warte nur auf solche Gelegenheiten.
       Diese oder ähnliche Sätze hört man oft, wenn man Grüne mit ihrer diffusen
       Kommunikation konfrontiert. Ein führender Politiker sagt es so: Es sei doch
       bezeichnend, dass die Meute schon ein halbes Jahr vor der Wahl losfeuere,
       auch wenn es in der Sache um nichts Strittiges gehe – nämlich um
       Geschosswohnungsbau mitten in Hamburg.
       
       Hofreiter sagt am Telefon, dass die ökologisch-soziale Transformation eine
       sachliche Debatte verlange. „Sie darf kein Kulturkampf werden.“ Es gehe
       nicht um Lebensstile oder Moral, sondern um die Regeln, die sich die
       Gesellschaft gebe. „Politik muss den Rahmen setzen – wie die Leute in
       diesem Rahmen wohnen, essen oder fahren, entscheiden sie für sich.“
       
       Bitte keinen Kulturkampf? Das klingt nach dem Einfamilienhaus-Spektakel wie
       ein frommer, aber unrealistischer Wunsch.
       
       23 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debatte-um-Einfamilienhaeuser/!5747069
   DIR [2] https://www.gruene-bundestag.de/presse/pressemitteilungen/klarstellung-interview-anton-hofreiter
   DIR [3] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/kanzler-kandidatur-gruenen-spitze-reagiert-veraergert-auf-basis-brief-a-bfb1aeb4-5949-4646-9984-ee13ab61b117
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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