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       # taz.de -- Opposition in Russland: Vom Heldensockel gestoßen
       
       > Amnesty International sieht Alexei Nawalny nicht länger als „Prisoner of
       > Conscience“. Die deutsche Sektion reagiert überrascht.
       
   IMG Bild: Nawalny wird bei der Rückkehr aus Deutschland am Moskauer Flughafen festgenommen
       
       Berlin taz | Die Nachricht vom Mittwoch hatte es in sich: Die
       Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) entzieht [1][dem
       inhaftierten Kremlkritiker Alexei Nawalny] den Status des „Prisoner of
       Conscience“. Zur Begründung sagte der Sprecher des Amnesty-Büros in Moskau,
       Alexander Artjomow, es habe eine Flut von Anfragen „besorgter Bürger“ zu
       xenophoben Kommentaren Nawalnys gegeben, die dieser in der Vergangenheit
       gemacht, aber nie zurückgenommen habe.
       
       Dabei geht es AI unter anderem um ein 15 Jahre altes Video, in dem Nawalny
       Migranten als „Kakerlaken“ verunglimpft. In einem anderen Video aus den
       frühen nuller Jahren ist Nawalny in die Arbeitskluft eines Zahnarztes
       geschlüpft, der, flankiert von Fotos mit ausländischen Arbeitskräften, dazu
       aufruft, „alles, was uns lästig ist, wie verrottete Zähne zu entfernen“.
       
       „Nawalny kann kein Prisoner of Conscience sein. Denn das ist jemand, der
       niemals Hass oder Gewalt befürwortet oder Hasssprache verwendet“, zitiert
       die BBC Alexander Artjomow. Auch Nelson Mandela sei dieser Status in den
       60er Jahren entzogen worden, nachdem er sich für die Anwendung von Gewalt
       gegen das Apartheid-Regime ausgesprochen habe.
       
       Absolute Gewaltfreiheit ist es also, die AI als Kriterium für die
       Einstufung von Repressierten als Prisoner of Conscience – was mit
       „gewaltloser politischer Gefangener“ nur unzureichend ins Deutsche
       übersetzt ist – heranzieht. In einer Definition von Amnesty heißt es dazu,
       als gewaltlose politische Gefangene (PoC – prisoner of conscience)
       bezeichne Amnesty International Personen, die weder Gewalt angewendet noch
       dazu aufgerufen hätten und aufgrund ihrer friedlichen Aktivitäten
       inhaftiert seien.
       
       ## Eine Frage der Definition
       
       AI setze sich – unabhängig von der Bezeichnung – für politische und alle
       anderen Gefangenen ein, die aus politischen Gründen im Gefängnis säßen und
       deren Behandlung menschenrechtlichen Standards widerspreche, wie zum
       Beispiel durch unfaire Verfahren, Folter oder die Todesstrafe.
       
       Offensichtlich scheint diese Charakterisierung Nawalnys als gewaltlosem
       politischen Gefangenen jetzt nicht mehr zuzutreffen. Der 44-Jährige war
       nach einem monatelangen Aufenthalt in Deutschland infolge einer Vergiftung
       mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok am 17. Januar nach Russland
       zurückgekehrt und unmittelbar [2][nach seiner Ankunft festgenommen und
       inhaftiert] worden.
       
       Der Vorwurf lautete auf Verstoß gegen Bewährungsauflagen, die sich auf eine
       Verurteilung im Jahre 2014 wegen Betrugs des französischen
       Kosmetikherstellers Yves Rocher beziehen. Der Europäische Gerichtshof für
       Menschenrechte (EGMR) hatte das Urteil 2019 als politisch motiviert
       eingestuft.
       
       Am 2. Februar verurteilte ein Moskauer Gericht Nawalny zu drei Jahren und
       fünf Monaten Lagerhaft abzüglich bereits früher abgesessener Arrest- und
       Haftstrafen. Am vergangenen Samstag scheiterte ein Berufungsantrag Nawalnys
       vor Gericht. Zudem wurde er wegen Verleumdung eines Kriegsveteranen zu
       einer Geldstrafe von umgerechnet knapp 10.000 Euro verurteilt.
       
       ## Eine schillernde Persönlichkeit als Kronzeugin
       
       Einige der „besorgten Bürger“ im Fall Nawalnys hatten sich bei ihren
       Anfragen unter anderem auf Tweets der freien Journalistin Katja Kazbek
       bezogen. Sie hatte die besagten Videos gepostet und Nawalny als
       „bekennenden Rassisten“ bezeichnet, dessen Anhänger ihn von seinen
       Nationalismus „reinwaschen wollten“. Kazbek, deren Beträge häufig auf dem
       Kreml-nahen Sender RT veröffentlicht werden, ist eine durchaus schillernde
       Persönlichkeit.
       
       Die selbsternannte Feministin und Sozialistin, die sich auch für die
       Belange von Angehörigen der LGBTQ-Community interessiert, lebt in den USA
       und das vor allem auf Kosten ihres millionenschweren Vaters Juri
       Dubowitzki, wie das russische Investigativportal Insider ru schreibt.
       
       In einem ihrer Tweets beschreibt sie Josef Stalin als jemanden, der mehr
       für die Menschheit getan habe als die Mehrheit bürgerlicher Politiker wie
       George Washington, Thomas Jefferson und John F. Kennedy. Alexei Nawalny sei
       von der US-Regierung kontrolliert, heißt es an anderer Stelle. Auch zu den
       [3][monatelangen Protesten in Belarus] hatte sie Eigentümliches
       beizutragen. Diese habe der Westen organisiert – mit dem Ziel, eine
       „farbige Revolution“ zu provozieren.
       
       Das alles ist die wortgetreue Wiederholung der Kremlpropaganda, die jetzt,
       wenngleich an ungewöhnlicher Stelle, offenbar endlich auf fruchtbaren Boden
       fällt. So jedenfalls sieht es die russische Fernsehjournalistin und
       Chefredakteurin der staatlichen Nachrichtenagentur Rossija Segodnja
       (Russland heute), Margarita Simonyan, die für ihre Lobeshymnen auf
       Präsident Wladimir Putin legendär ist. Auf Twitter feierte sie die
       Entscheidung von AI als „Erfolg unserer Kolumnistin Katja Kazbek“.
       
       ## Amnesty-Kampagne für Nawalny geht weiter
       
       Bei zahlreichen AI-Aktiven hingegen, die von dem jüngsten AI-Winkelzug
       völlig überrascht worden waren, machten sich Unverständnis und Unbehagen
       breit. Die deutsche Sektion bemühte sich am Mittwoch um Schadensbegrenzung.
       In einer Erklärung auf der Webseite hieß es, Nawalnys Verhaftung und
       Inhaftierung seien willkürlich und politisch motiviert. AI fordere seine
       sofortige und bedingungslose Freilassung. Und: „Die Amnesty-Kampage zur
       Beendigung des schweren Unrechts, das Nawalny und vielen anderen in
       Russland angetan wurde und wird, geht weiter – unabhängig davon, ob Nawalny
       für Amnesty den Status eines Prisoners of Conscience trägt.“
       
       Auch Peter Franck, Russland-Experte bei Amnesty Deutschland, wurde kalt
       erwischt und will jetzt erst einmal Ursachenforschung betreiben, wie es zu
       dieser Entscheidung gekommen ist. „Wir bedauern, wenn aufgrund dieser
       Entscheidung der Eindruck entstanden ist, dass sich an unserer Beurteilung
       des Falles etwas geändert hätte. Das ist nicht so: Alexei Nawalny wird
       politisch verfolgt, ist zu Unrecht in Haft“, sagte Franck dertaz.
       
       Er hoffe, dass nicht die Rechnung derjenigen aufgehe, die den Disput
       zulasten von Navalny und derer, die für seine Freilassung eingetreten
       seien, propagandistisch nutzten.
       
       Doch das dürfte wohl ein frommer Wunsch bleiben, genauso wie der Wunsch,
       Amnesty als Organisation werde keinen Schaden nehmen und könne schnell
       wieder zur Tagesordnung übergehen. Doch wie heißt das russische Sprichwort
       so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt.
       
       25 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Oertel
       
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