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       # taz.de -- Ehemaliger Fallmanager über Hartz IV: „Sanktionen sind destruktiv“
       
       > Herbert Sternitzke arbeitete 15 Jahre im Jobcenter Bielefeld, hat
       > Tausende Menschen beraten. Er plädiert für eine Abschaffung der
       > Sanktionen.
       
   IMG Bild: „Auf Dauer sollte es keine Sanktionen mehr geben.“ Wartezimmer im Jobcenter Bielefeld
       
       taz: Herr Sternitzke, Sie waren 15 Jahre im Jobcenter Bielefeld als
       Fallmanager tätig, haben also Tausende von Hartz-IV-EmpfängerInnen beraten.
       [1][Sanktionen] sehen Sie kritisch. Warum? 
       
       Herbert Sternitzke: Auf Dauer sollte ganz auf Sanktionen verzichtet werden.
       Die Sanktionen waren ursprünglich bei der Einführung von Hartz IV im Jahre
       2005 im Konzept „Fördern und Fordern“ enthalten. Man hatte die Idee, man
       muss fordern, damit die Leistungsempfängerinnen und -empfänger einen
       gewissen Druck verspüren, damit sie sich für den Arbeitsmarkt zur Verfügung
       stellen. Das funktioniert in gewisser Weise schon, nur kommen dadurch
       Entwicklungen zustande, die nicht von Vorteil sind.
       
       Welche Entwicklungen? 
       
       Die Leute nehmen irgendwelche Arbeitsstellen an, die sie gar nicht gut
       finden, nur um dem Sanktionsdruck zu entgehen. Das kann zum Beispiel
       irgendeine Hilfstätigkeit in der Leiharbeit sein. Das führt aber eben nicht
       zu nachhaltigen Integrationen.
       
       Wieso nicht? 
       
       Die Menschen verlassen den Job nach relativ kurzer Zeit wieder. Die machen
       die Arbeit dann nur für drei Monate oder sogar für eine noch kürzere Zeit.
       Manchmal kommt es dann auch aufgrund von Überforderungen zu
       Krankheitssituationen. Die Neigung, die Interessen der Leute, die
       Motivation passt nicht zu dem, was sie an Arbeitsstellen vorfinden. Dadurch
       beziehen sie dann immer wieder aufs Neue Arbeitslosengeld II.
       
       Ist der Verdienst, das Geld, nicht genug Motivation, um länger im Job zu
       bleiben? 
       
       Die Motivation über das Geld ist nicht groß genug, auch wenn man mit Arbeit
       immer mehr Geld zur Verfügung hat, als wenn man nur die Leistung bezieht.
       Aber die Löhne, gerade für Hilfstätigkeiten in der Dienstleistung zum
       Beispiel, sind so niedrig, dass man dann vielleicht 200, 300 Euro mehr hat.
       Der Arbeitsmarkt ist hart in diesen Bereichen, in der Produktion, der
       Gastronomie oder bei den Lieferdiensten. Dann haben die Leute vielleicht
       eine Schuldenproblematik, sie müssen vom Lohn Schulden abzahlen. Das alles
       drückt auf die Motivation.
       
       Was soll besser werden ohne Sanktionen? 
       
       Sanktionen sind eine destruktive Form der Motivationserzeugung, wir
       brauchen aber eine konstruktive Form der Motivationsentwicklung. Viele der
       Leute haben keine Berufsqualifikation. Eine Arbeitsaufnahme ist viel
       nachhaltiger, wenn man eine Qualifikation hat, und sei es nur eine
       Teilqualifikation, auf der man dann aufbauen kann, mit einer
       qualifizierteren Arbeit und besserer Bezahlung. Das ist dann eine Arbeit,
       wo die Leute eher dabei bleiben. Daran müssen wir arbeiten, diese
       Selbstwirksamkeit, auch dieses Selbstvertrauen zu schaffen. Dem steht ein
       Drohpotenzial durch Sanktionen aber entgegen.
       
       Können Sie dazu ein Beispiel nennen? 
       
       Da fällt mir ein Mann ein, der keine Berufsausbildung hatte, der immer
       wieder über Zeitarbeitsfirmen im Gartenlandschaftsbau gearbeitet hatte,
       aber nach kurzer Zeit wieder die Arbeit verlor und wieder im vollen
       Leistungsbezug landete. Da muss man mit ihm überlegen, welche Qualifikation
       der Mann erwerben könnte, die seinen Neigungen entspricht, um vielleicht in
       einen Umweltbetrieb hineinzurutschen. Das kann ein Kurs in der Nutzung von
       Motorsägen sein oder eine Weiterbildung über die Tätigkeit in Baumschulen.
       Mit einer solchen Teilqualifikation wäre bei seiner nächsten Tätigkeit der
       Lohn höher und damit auch die Motivation höher, in der Arbeit auf Dauer zu
       bleiben.
       
       Haben Frauen mit Kindern besondere Probleme, in den ersten Arbeitsmarkt zu
       kommen? 
       
       Ich hatte jahrelang eine junge Frau mit Migrationsgeschichte beraten, die
       eine deutsche Staatsangehörigkeit hatte, sehr gut deutsch sprach und über
       das Fachabitur verfügte. Sie hatte aber den Weg eingeschlagen, keine
       Berufsausbildung zu machen, und arbeitete in der Gastronomie, im
       Lieferservice. Sie hatte Kinder, dann kam eine Trennung vom Partner. Sie
       hatte einfach keine Ressourcen mehr, sich um eine Qualifikation zu kümmern.
       Dann ist es doch gelungen, sie auf den Weg zu bringen, sie macht jetzt eine
       dreijährige Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation, mit fast 40
       Jahren. Wer Familie hat, im Niedriglohnbereich arbeitet und aufstockendes
       Arbeitslosengeld II bezieht, läuft Gefahr, aus dem Leistungsbezug gar nicht
       mehr herauszukommen.
       
       Sind die Anforderungen auf dem ersten Arbeitsmarkt gestiegen? 
       
       Ich denke, jeder Modernisierungsschub in der Wirtschaft löst
       gesellschaftlich einen gewissen Anteil an Modernisierungsverlierern aus.
       Das sind Leute, die den schulischen und beruflichen Anforderungen nicht
       mehr standhalten können. Mir sind in der Beratung junge Männer begegnet,
       die haben keine Ausbildung und keine Tagesstruktur, die sind
       computersüchtig geworden, haben sich zurückgezogen in eine eigene Welt. Die
       sind einfach nicht mehr realitätstauglich. Dieser Fluchtreflex, dieses
       Abschotten vor der Realität, die ja auch nicht einfach ist auf dem
       Arbeitsmarkt, das sind keine Einzelfälle, das werden immer mehr.
       
       Es heißt oft, Hartz IV sei auch ein Auffangsystem für psychisch Kranke. 
       
       60 Prozent oder mehr der Kunden im Fallmanagement der Jobcenter haben
       mittlerweile komplexe Problemlagen, darunter fehlende Ausbildungen, oft
       extrem fordernde familiäre Verpflichtungen, besonders behaftete
       Lebenssituationen und oft mittlerweile auch gravierende gesundheitliche
       Probleme.
       
       Es taucht in den Debatten über die Sanktionen aber auch immer wieder das
       [2][Gespenst vom Hartz-IV-Empfänger] auf, der sich mit der Sozialleistung
       und sogenannter Schwarzarbeit auf Dauer einrichtet. Wie sind Ihre
       Erfahrungen? 
       
       Ich würde nicht sagen, dass es das nicht gibt. Aber insgesamt, wenn man
       sich die Zahlen anschaut, ist das eher selten. Im Jahre 2018 hatten wir
       beispielsweise 144.000 Fälle mit Verdacht auf Leistungsmissbrauch, das sind
       bei 7 Millionen Empfängern von Arbeitslosengeld II nicht so viele. Nur in
       8.800 Fällen kam es zu einer Anklage wegen Leistungsmissbrauch. Das sind
       nur 0,1 Prozent.
       
       Aber 2019 gab es 800.000 Sanktionen. Das ist nicht so wenig. 
       
       Sanktionen und Leistungsmissbrauch sind nicht dasselbe. Sanktionen werden
       zumeist verhängt wegen Meldeversäumnissen oder, sehr viel seltener, weil
       eine Eingliederungsvereinbarung, die man abgeschlossen hat, nicht
       eingehalten oder eine Maßnahme abgebrochen wurde. Die Zahl der Sanktionen
       ist gesunken. Das ist auch gut so. Das Bundesverfassungsgericht hat 2019
       klare Vorgaben gemacht, wonach nicht mehr als 30 Prozent vom Regelsatz
       gekürzt werden darf. Da wurden im Jobcenter-System also über 14 Jahre
       Sanktionen verhängt, die offensichtlich nicht rechtmäßig waren. Der
       Verdacht auf Schwarzarbeit hingegen führt zum Verdacht auf
       Leistungsmissbrauch, das ist etwas anderes, und diese Verfolgung des
       Leistungsmissbrauchs bliebe auch bei einer Sanktionsfreiheit erhalten.
       
       Im [3][Gesetzentwurf von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil] wird Wert
       darauf gelegt, dass die LeistungsbezieherInnen eher eine Qualifikation
       erwerben, als einfach nur den nächsten Hilfsjob anzunehmen. Was halten Sie
       von dem Entwurf?
       
       Der Entwurf Heils geht in die richtige Richtung. Wobei ich das Konzept der
       Grünen favorisiere, die eine Garantiesicherung und Sanktionsfreiheit
       fordern. Es ist gut, dass man mit dem Entwurf von Heil tendenziell von dem
       Drohpotenzial des Hartz-IV-Systems wegkommt, dem die
       Arbeitslosengeld-II-Empfänger oft ausgesetzt sind. Wir müssen in den
       Jobcentern aber insgesamt auch mehr Kapazitäten haben, um differenzierter
       auf die Problemlagen der Arbeitslosen einzugehen. Mit den derzeitigen
       Fallzahlen von bis zu 1:250 im Fallmanagement und im Vermittlungsbereich
       kann nicht wirklich differenziert und produktiv gearbeitet werden.
       Fallzahlen von 1:75 standen ursprünglich mal als Empfehlung im Gesetz. Da
       müssten wir dringend nach 15 Jahren mal hinkommen.
       
       26 Feb 2021
       
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