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       # taz.de -- Zoom-Gespräche über Nähe in Zürich: Plausch mit der Sexualtherapeutin
       
       > Im Schauspielhaus Zürich wird jetzt über Nähe gesprochen. Sibylle Berg
       > und Ruth Westheimer gelingt das bei der Premiere nur auf Umwegen.
       
   IMG Bild: Offen auch für Tender Talks: Plakat vorm Schauspielhaus in Zürich
       
       So richtig kommt das Gespräch zunächst nicht in Gang zwischen der
       Schriftstellerin Sibylle Berg und der berühmten [1][Sexualtherapeutin Ruth
       Westheimer]. Doch als Sex zum Thema wird, nehmen die „Tender Talks“, ein
       vom Schauspielhaus Zürich initiiertes Stream-Gesprächsformat, an Fahrt auf.
       
       Westheimer, die 92-jährig immer noch als Soziologin arbeitet, betont die
       Wichtigkeit der Klitoris fürs Liebesspiel und kann mit ihrer Meinung zur
       Verschärfung der Abtreibungsgesetze nicht hinterm Berg halten. Letzteres
       ist ungewöhnlich. Eigentlich äußert sich die Soziologin nämlich zu
       politischen Fragen nicht. „Jemand, der den ganzen Tag über Sex redet, muss
       sich aus der Politik heraushalten“, meint sie.
       
       Berg wird zwischendurch hingegen explizit politisch, wenn sie mangelnde
       politische Hilfsmaßnahmen in der Coronakrise kritisiert. Sie habe Angst um
       jene Menschen, die mit finanziellen Schwierigkeiten zu Hause säßen und von
       den Regierungen allein gelassen würden. „Reiche Staaten wie Deutschland und
       die Schweiz müssen Geld in die Hand nehmen und Schulden machen, um den
       Menschen zu helfen“, meint sie. Berg hält sich im Gespräch jedoch meistens
       zurück, beschränkt sich aufs Fragenstellen, denn auf eine Moderation wurde
       hier bewusst verzichtet.
       
       Die sonst eher pessimistische bis bittere Schweizerin zeigt sich ungewohnt
       lieb und warmherzig. Beinahe komisch steht diese Rolle ihrer sonstigen
       Attitüde entgegen, wenn Westheimer die kinderlose Berg dazu überreden will,
       doch ein Schweizer Waisenkind zu adoptieren, wie Westheimer selbst es einst
       war. Berg murmelt Unverfängliches, zum Hausputzen sei so ein Kind ja
       vielleicht doch gut, überlegt sie.
       
       Ansonsten mutet das Gespräch eher heimelig an. Beide Gesprächspartnerinnen
       komplementieren sich gegenseitig aus ihren neun Flugstunden voneinander
       entfernten Wohnzimmern heraus. Westheimer lädt die über 30 Jahre jüngere
       Berg wiederholt zu sich nach New York ein und schwärmt von Schweizer
       Schokolade.
       
       ## Murren im Zoom-Chat
       
       Die unsichtbare Masse an Zuschauern, derer Zahl wir am Ende auf etwa 700
       bestätigt wissen, murrt unterdessen im Zoom-Chat. Westheimers
       Selbstbezogenheit unterbinde jedes richtige Gespräch, schimpfen einige,
       trotzdem sei jedes Wort aus ihrem Mund spannend, finden andere. Und
       tatsächlich ist Westheimers Lebensgeschichte unbestreitbar beeindruckend.
       Von ihren jüdischen Eltern getrennt, durchlebte die gebürtige Frankfurterin
       ihre Jugend in der Nazizeit in einem Schweizer Kinderheim.
       
       Einige Doktortitel, Ehemänner und Umzüge später avanciert Westheimer, die
       sich selbst in Anspielung auf ihre Körpergröße als „1,40 Meter
       konzentrierter Sex“ bezeichnet, in den 80er Jahren zu Amerikas
       bedeutendster Sextherapeutin. „Grandma Freud“ spricht unerhört unverblümt
       mit deutschem Akzent über weibliche Orgasmen und Homosexualität.
       
       Gesprochen wird über Nähe zwar kaum, doch sie kommt schließlich bei den am
       Bildschirm sitzenden Zuschauer:innen dennoch auf. Berg und Westheimer
       bei ihrem freundlichen Plausch zu belauschen erinnert an all die
       ungeplanten Begegnungen, die vor der Pandemie noch selbstverständlich
       waren. In ihrer klaren Rollenverteilung wecken die beiden Frauen
       Erinnerungen an Familienfeste, bei denen man der unentwegt sprechenden
       Verwandten wohlwollend zuhört, die alle Fragen ignoriert und lieber zum
       wiederholten Male ihre Lebensgeschichte erzählt.
       
       ## Berg schreibt weiter
       
       Den Tender Talk bis zum Ende zu verfolgen lohnte sich jedoch zumindest für
       die Sibylle-Berg-Fans unter den Zuschauer:innen: Sie arbeite an einem neuen
       Buch, sagt die Autorin und verrät: Ihr letzter Roman [2][„GRM. Brainfuck“]
       sei Teil einer Trilogie, deren zweiten Band sie gerade verfasse.
       
       Westheimer lässt sich vom Schauspielhaus Zürich versprechen, ihr das Buch
       per Express in die USA zu schicken. Sie habe keine Zeit zu warten, meint
       die umtriebige New Yorkerin, die selbst über 40 Bücher veröffentlicht hat.
       In einem anderen Zoom-Fenster warten unterdessen bereits Studierende der
       Columbia University auf ihren Vortrag.
       
       14 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Amerikas-Sexberaterin-wird-90/!5507679
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       ## AUTOREN
       
   DIR Julia Hubernagel
       
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