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       # taz.de -- Neid während Corona: Nicht für jeden gleich geil
       
       > Gerechtigkeit bedeutet nicht immer Gleichbehandlung. Für manche ist es
       > schlimmer ist als für andere, gerade ihr Leben zu verpassen.
       
   IMG Bild: Sich für die Mitmenschen freuen? Fällt einigen schwerer als anderen
       
       Schockschwerenot! Als müsste man derzeit nicht eh schon mit mannigfachen
       Schreckensnachrichten fertigwerden, las ich diese Woche auch noch von jenem
       Fall, den der Bundesgerichtshof gerade verhandelt: [1][Ein 44-Jähriger
       hatte geklagt], weil er nicht aufs Isarrauschen vorgelassen wurde, ein
       Technofestival in München. (Keine Sorge, das war schon 2017, Sie haben also
       keine illegale Coronaparty verpasst.)
       
       Ob der Mann und seine Begleiter den Türstehern wirklich zu alt waren, wie
       sie vermuten, oder ob andere Gründe auch eine Rolle spielten, ist nicht
       ganz klar. Die Begründung des Veranstalters lautet aber, „… der Jurist
       passe nicht zur Zielgruppe der „Partygänger“ zwischen 18 und 28 Jahren. Man
       entscheide nach dem optischen Eindruck.“
       
       Mich hat die Meldung jedenfalls in Panik versetzt. Ich weiß nicht, wovon
       andere derzeit träumen, um nicht den Verstand zu verlieren, für mich sind
       es klar zwei Dinge: endlich wieder in einem Flugzeug nach irgendwo
       (möglichst weit weg) zu sitzen – und dieser Wunsch ist bizarr genug für
       jemanden mit absurder Flugangst wie mich, deshalb lasse ich die sozial
       erwünschte Flugscham jetzt mal lässig weg.
       
       Und: endlich wieder inmitten anderer schwitzender Menschen meinen Körper zu
       verlassen, mich aufzulösen, zu reiner Trance in Bewegung zu werden, sprich:
       in einen Klub zu gehen. Jetzt kann es aber gut sein, dass ich, wenn es
       endlich so weit ist, 44 Jahre alt bin. Und selbst wenn nicht – schon das
       letzte Mal, als ich in der Schlange vorm [2][Berghain] stand – vor ziemlich
       genau einem Jahr … ach, lassen wir das, Sie können es sich denken.
       
       Besser also, ich sehe schon jetzt meinem Luxusproblem ins Auge: „Heute
       leider nicht“ steht fett über meiner Zukunft. Tanzen kann ich fortan zu
       Hause. Und ich kann mir immerhin die Würde bewahren, dann, wenn die Klubs
       wieder öffnen, nicht gegen mein Draußenbleiben zu klagen. Klar, man soll
       gegen jede Art von Diskriminierung kämpfen, auch gegen
       Altersdiskriminierung. Aber zum Älterwerden gehört auch manchmal Einsicht.
       Etwa die, dass Gerechtigkeit nicht immer Gleichbehandlung bedeutet.
       
       ## Die Panik vor Privilegien kotzt mich an
       
       Ich bin ja nicht die Einzige mit Fomo, Fear of missing out, also der Angst,
       was zu verpassen. Alle verpassen gerade ihr Leben. Und mein
       Gerechtigkeitssinn sagt, dass das für manche schlimmer ist als für andere.
       Nämlich für die, die, rein statistisch, nicht mehr so viel Leben vor sich
       haben, das sie, statt es vor dem Fernseher oder sinnlosen Zoomkonferenzen
       zu verplempern, auskosten können. Lustigerweise sind das genau die, die
       jetzt, wenn auch läppernd, geimpft werden. Die Panik wegen irgendwelcher
       „Privilegien“ für diese Menschen kotzt mich deshalb an.
       
       Ich sage: Rollt die Alten samt ihren Pfleger:innen in die Theater, karrt
       sie in Reisebussen an die Côte d’Azur oder wo auch immer sie hinwollen, und
       verkneift euch den Neid. Der war noch nicht mal niedlich, als man noch um
       acht Uhr ins Bett musste und der ältere Bruder noch „Wetten, dass..?“
       gucken durfte.
       
       Mit Neid auf andere versaut man nur sich selbst das Leben, und das kann man
       sich beim derzeitigen Stand des Spaßbarometers eigentlich nicht leisten.
       Sich für andere freuen kann die eigene Laune hingegen erstaunlicherweise
       auch heben, auch wenn’s, ehrlich gesagt, sauschwer ist. Ich konnte sie
       jedenfalls nicht finden, diese Freude, damals vor einem Jahr in der
       Schlange vorm Berghain.
       
       Aber man braucht ja was zu tun für die nächsten Jahre, die wir hier
       vermutlich noch auf unsere Impfung warten, da lässt sich neben Bizeps und
       Brain sicher auch das Mitfreuen trainieren.
       
       ## Locker durch die Hose atmen
       
       Wenn’s ganz schwerfällt, mit dem Neid fertigzuwerden, hilft es mir immer,
       an die heftigsten Formen zu denken, die er annehmen kann: die hässlichen,
       verkniffenen und absurden Annahmen wie: „Die Juden, Einwandernden,
       Flüchtenden haben mehr Einfluss, Macht, Handys, Sozialhilfe als ich.“ Oder,
       in abgewandelter Form: „Die Eliten denken, nur weil sie jahrelang studiert
       haben, sind sie schlauer als ich.“ Bevor ich mich auf Gefühlspfade begebe,
       die von Rassist:innen und Faschist:innen ausgelatscht sind, klammere
       ich mich lieber ganz schnell an jedes Fitzelchen Großzügigkeit, das ich in
       mir finden kann.
       
       Wem das zu drastisch ist, der kann sich auch einfach ab und zu ins
       Gedächtnis rufen, dass das Gleiche nicht für jeden gleich geil ist. Auch
       das hilft, mal wieder locker durch die Hose zu atmen. Nur weil der Andere
       was hat, was ich unbedingt zu brauchen glaube (Kind, Karriere, Impfung –
       suchen Sie sich was aus), muss er oder sie nicht besser dran sein. Güter
       allein machen noch kein glückliches Leben.
       
       Perfekt drauf hat diese neidlose Haltung mein Freund. Gut, er macht sich
       nichts aus Klubs und Tanzen, geimpft ist er auch längst. Trotzdem gibt es
       genug Essenzielles, was ihm gerade fehlt. Missgunst habe ich bei ihm
       dennoch nie erlebt. Manchmal bin ich richtig neidisch auf seine
       Gelassenheit.
       
       28 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gerichtsverhandlung-zu-Einlasskontrolle/!5750637
   DIR [2] https://www.youtube.com/watch?v=EXO3rc5XTT4
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ariane Lemme
       
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