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       # taz.de -- Eine genderfluide Geschichte: Wir gendern uns dazu
       
       > Es ist ein Mädchen. Es ist kein Mädchen. Es ist kompliziert. Dabei ist es
       > so schön, das Laminat der Gewohnheit zu verlassen. Ein Einwurf.
       
   IMG Bild: Das Babyfoto von Else Buschheuer, bearbeitet von der Autor*in höchstselbst
       
       Hier ist das Foto, das nach meiner Geburt verschickt wurde. Ich liege auf
       einem Wickeltisch, auf dem Bauch, mein Gesicht ist nicht zu sehen. Jemand
       hat mir direkt zwischen die Beine fotografiert: Es ist ein Mädchen!
       
       So weit alles klar. Die Gesellschaft stellt Zopfhalter bereit,
       Feinstrumpfhosen, Monatsbinden, Reizwäsche, die Anti-Baby-Pille.
       
       Aus dem Mädchen wird eine Frau. Das heißt, erst ist sie ein Fräulein. Und
       wenn ein Mann das Fräulein heiratet, wird es zur Frau. Es. Jawohl. Das vom
       Manne unangetastete Fräulein hat ein neutrales Pronomen. Erst, wenn der
       Mann sein männliches Pronomen in es hineinsteckt, verweiblicht es sich. Die
       Frau tauscht den Namen des Vaters gegen den Namen des Ehemannes. Eine Frau
       kann kein Mann sein. Wie der Name schon sagt. Sie kann nicht aus dem
       Frausein austreten. Sie kommt nicht mal auf die Idee. Eine Frau kann einen
       Mann haben. Oder wie einer aussehen. Eine Frau kann sich verhalten wie ein
       Mann. Meist aber verhält sie sich in Relation zum Mann. Sie gehorcht ihm
       oder sie bekämpft ihn. Sie dient ihm oder beherrscht ihn.
       
       Sie soll nicht mit fremden Männern mitgehen. Aber genau die stehen ja
       überall herum. Im Mittelpunkt. Im Weg. Sie haben die Romane geschrieben,
       die Fachbücher. Sie sitzen auf Lehrstühlen, in Jurys. Sie finden sie
       hübsch oder hässlich, klug oder dumm. Sie bringen ihr Kunststücke bei,
       befördern sie, behindern sie, ignorieren sie, betatschen sie, begatten sie,
       sagen ihr, sie soll die Brille absetzen, ihr Haar öffnen, mal ’nen Rock
       anziehen, sich nicht so anstellen. Unsere schöne binäre Welt. Wer nicht
       reinpasst, kriegt einfach eins mit dem Konformhammer drauf. Bumm. Viele von
       uns waren unglücklich, fühlten sich nicht zugehörig, tieftraurig, falsch.
       Waren wir Ausschluss? Freaks? Mussten wir uns einfach zusammenreißen? Wir
       wussten ja nicht, dass wir nicht allein sind. Wir hatten kein Wort dafür.
       
       ## Queert sich jetzt alles von selber?
       
       Und als wir hinter vorgehaltener Hand die Wörter schwul, lesbisch hörten,
       war das wie eine Erlösung. Ja. Wir blieben Männer und Frauen, teilten uns
       aber jeweils in zwei Sorten: die Homos und die Heteros. Noch war es
       halbwegs übersichtlich. Nehmen wir einen hypothetischen Mann, Thomas, der
       ist schwul, er begehrt Männer. Wie wunderbar. Es wird eine Komponente in
       dem gesellschaftlich abgekarteten Spiel ausgetauscht. Heteronorm gegen
       Homonorm, Karin gegen Sven.
       
       Sonst bleibt alles gleich. Thomas und Sven wollen, was Thomas und Karin
       gewollt hätten: hochfahren auf der Beziehungsrolltreppe. Verliebt, verlobt,
       verheiratet.
       
       Thomas ist happy, Sven nicht. Er fühlt sich nicht angekommen. Sven ist gar
       kein Mann. Sie ist eine Frau. Sie ist in einem Dickicht falscher
       Behauptungen aufgewachsen, Opfer einer fatalen Verwechslung, gelandet in
       einer falschen Versuchsanordnung.
       
       Sie war nie Sven, sie ist Svenja, trotzdem ist sie mit Thomas zusammen. Wie
       kann denn das sein? Sie ist kein schwuler Mann, sondern … tja, dann muss
       sie ja eine heterosexuelle Frau sein, die einen schwulen Mann begehrt. Kann
       er sie unter diesen Umständen zurückbegehren? Geht denn das? Vielleicht
       geht das einfach. Vielleicht müssen einfach nur mehr Wörter dafür her, was
       alles geht.
       
       Vielleicht geht es aber auch nicht, denn wenn Sven Svenja ist, dann hätte
       Thomas ja genauso gut Karin nehmen können. „Dafür bin ich doch nicht schwul
       geworden.“ Vielleicht ist Svenja immer noch homosexuell, vielleicht
       verliebt sie sich jetzt in Tamara, eine Lesbe, die sich nicht als Frau
       definiert. Sie sind ein Lesbenpaar. Obwohl es andere Lesben gibt, die laut
       sagen, sie seien keins.
       
       Jeder Schritt, den Menschen, die hypothetischen und die echten, ins
       Unbekannte, Undefinierte gehen, ist im allertiefsten Sinne wahr und
       wahrhaftig, schmerzhaft schön und gewaltig. Gleichzeitig wirkt er in der
       obligaten Mann-Frau-Kulisse deplatziert. Oder ist die Kulisse deplatziert?
       Queert sich jetzt alles von selber? Eine Frage zieht die nächste nach sich,
       Tamara und Svenja sind aus ihren Hüllen geplatzt, aus der Frau-Hülle, aus
       der Mann-Hülle und damit aus jeder Definitionsgewissheit. Es muss neu
       definiert werden. Es muss neu kalibriert werden. Liebe ist nicht mehr nur
       romantisch, sie wird politisch.
       
       Weg mit der Zweiteilung, weg mit der Zweisamkeit, weg damit, wie wir sein
       sollen. Nur so können wir rausfinden, wie wir eigentlich sind. Oder sein
       wollen. Wie wir heißen wollen. Wie wir lieben wollen. Wie wir leben wollen.
       
       Das ist queer. Das Heraustreten aus dem Käfig. Weg von denen, die uns
       verhöhnen, uns verlachen, uns bekämpfen. Draußen ist noch alles
       unbeschriftet. Wir erfinden eine neue Sprache. Wir denken uns Wörter aus
       für all die neuen Begriffe und Abstufungen und Empfindsamkeiten. Wir finden
       uns in Gruppen Gleichgesinnter zusammen, bauen eigene Geländer, an denen
       wir uns festhalten können. Wir halten uns aneinander fest, in
       Wahlfamilienstrukturen, wir trotzen dem Regenbogen immer neue Farben ab.
       
       Denn was ist die Frau, die aus dem Käfig des Frauseins austritt? Wird sie –
       pling – zum Mann? Ist sie beides? Ist sie weder noch? Ist ihr Pronomen sie,
       er, they, ganz weg? Will er noch den Frauentag feiern? Darf sie einen Penis
       haben oder einfach eine große Klitoris? Vielleicht irrlichtern they
       zwischen Frausein und Mannsein herum, sind gleichzeitig beides, heute das,
       morgen das, weder noch, gehören dem einen, dem einzigen Geschlecht an, dem
       Menschengeschlecht.
       
       Wenn wir die Unumstößlichkeit umstoßen, stimmt nichts mehr, was darauf
       aufbaut. Wir durchlaufen komplexe Prozesse permanenten Infragestellens,
       wagen es, dorthin zu gehen, wo kein Laminat der Gewohnheit ist, wo
       vielleicht überhaupt noch kein fester Boden ist.
       
       Natürlich machen wir Umstände. Wir müssen Umstände machen. Wir müssen uns
       euch zumuten, so wie ihr euch uns zugemutet habt. Aber wir beißen nicht.
       Wir wollen nicht mal an euch lecken. Lasst uns gehen. Lasst uns einfach
       weitergehen. Ihr müsst nicht mitkommen. Bleibt in der Sicherheit eures
       Käfigs. Winkt nicht ab. Winkt uns nach. Zieht die Hüte, werft Luftküsse,
       ruft unsere selbst gewählten Namen. Wir wollen euch nichts wegnehmen. Wir
       wollen euch nicht weggendern. Wir gendern uns dazu.
       
       28 Feb 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Else Buschheuer
       
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