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       # taz.de -- #MeToo in der griechischen Theaterszene: „Wir haben ein Gewicht“
       
       > Einem Intendanten wird Vergewaltigung vorgeworfen. Schauspielerin
       > Antriana Andreovits und Regisseur Prodromos Tsinikoris über #MeToo in
       > Griechenland.
       
   IMG Bild: Schauspieler:innen während einer Probe im Nationaltheater in Athen, November 2019
       
       Im Januar löste die olympische [1][Seglerin Sofia Bekatorou eine
       griechische #MeToo-Debatte] aus. Mehrere Sportlerinnen berichteten
       daraufhin von ihren Erfahrungen mit Funktionären und Sportärzten. Im
       Februar ergriff die Debatte auch die Theaterszene. Unter den Opfern sind
       vor allem Frauen und homosexuell orientierte Künstler:innen. 
       
       Im Zentrum des öffentlichen Interesses steht Dimitris Lignadis, der
       ehemalige Intendant des Nationaltheaters in Athen. Er wurde im Rahmen der
       Regierungsübernahme der liberal-konservativen Nea Dimokratia 2019 berufen
       und befindet sich derzeit aufgrund von Vorwürfen der Vergewaltigung von
       männlichen Jugendlichen in Untersuchungshaft. 
       
       taz: [2][Prodromos Tsinikoris], Sie haben, wenn auch kurz, unter dem stark
       von Vorwürfen betroffenen Athener Ex-Intendanten Dimitris Lignadis
       gearbeitet. Was ist ihr Eindruck? 
       
       Prodromos Tsinikoris: Ich habe zusammen mit meinem Kollegen Anestis Azas
       vier Jahre lang die Experimentalbühne des Nationaltheaters geleitet.
       Bereits vor der Berufung von Lignadis beschlossen wir, unsere Verträge
       auslaufen zu lassen – aus Struktur- und Budgetgründen hauptsächlich. Daher
       überschnitt sich unsere Anstellung nur um eineinhalb Monate. Ich wollte mit
       ihm über die Spielzeit, die wir noch geplant hatten, und deren Umsetzung
       sprechen, aber er reagierte nicht. Ich saß mehr oder weniger allein im Büro
       und wurde komplett ignoriert. Erst nach dem Ende meines Vertrags hat er
       sich gemeldet. Viel mehr kann ich aus persönlicher Sicht nicht sagen.
       Darüber hinaus: Aus der Experimentalbühne wurde inzwischen eine Bühne für
       antikes Theater.
       
       Antriana Andreovits, Sie sind im Vorstand der griechischen
       Schauspieler:innen-Union, die von Lignadis und seinem Anwalt beschuldigt
       wird, die Vorwürfe gegen den Intendanten als Reaktion auf dessen Kritik an
       der finanziellen Intransparenz der Union gestreut zu haben. So zitiert
       unter anderen die regierungsnahe Tageszeitung eKathimerini. 
       
       Antriana Andreovits: Alexis Kougias, Lignadis’ Anwalt, ist in Griechenland
       sehr bekannt, allerdings nicht im guten Sinn, sondern für seine
       Aggressivität Opfern gegenüber, seinen Rassismus, seine Homophobie. Nun
       versucht er die Diskussion auf Boulevardniveau runterzubrechen und die
       Union zum Feindbild zu machen. Sehen Sie, das letzte Jahr hat uns
       Künstler:innen so viel Zeit gegeben, wie es uns genommen hat. Die
       Theater sind jetzt seit einem Jahr dicht. In dieser Periode wurde die Union
       wieder zum Leben erweckt, um für unsere Rechte, Würde, gegen Armut,
       ungerechte Bedingungen und natürlich auch sexuelle und sexualisierte Gewalt
       zu kämpfen. Aktuell wächst sie von Tag zu Tag um gut 25 Mitglieder. Wir
       sind jetzt über 7.000. Wir haben also ein Gewicht!
       
       Die Kulturministerin, die für die Berufung Lignadis’ verantwortlich ist,
       hat ihn erst protegiert, nun wirft sie ihm vor, die Wahrheit durch
       Schauspielern zu verschleiern. Wie kommt das an? 
       
       Tsinikoris: Sie entwertet damit die Kunstform des Schauspiels. Weiterhin
       nannte sie Lignadis auf einer Pressekonferenz „einen gefährlichen
       Menschen“. Wobei über Wahrheit und Gefährlichkeit das Gericht entscheiden
       sollte. Schon allein dies macht ihren Rücktritt notwendig.
       
       Andererseits wird auf Regierungsebene das [3][Thema sexuelle Gewalt], vor
       allem auch in der Theaterwelt, ernst genommen. 
       
       Tsinikoris: Bislang sind zwei Dinge passiert: [4][Oppositionsführer Alexis
       Tsipras [Syriza, A. d. R.]] hat sich mit Vertreter:innen der Theater-
       und Performanceszene zum Gespräch getroffen. Und die Regierung hat die
       Leiter:innen von Institutionen unter ihrem Dach zu einer Arbeit an
       Verhaltenskodizes eingeladen.
       
       Andreovits: Seltsamerweise gab es auch eine Unterstützungsaktion für die
       Kulturministerin Lina Mendoni: einen Brief, den mehrere regierungsbestellte
       Intendant:innen unterzeichnet haben. Und gleichzeitig findet eine
       zunehmende Zuordnung der Kunstszene als linkspolitisch orientiert statt.
       Wir werden also Zeugen des Versuchs der Regierung, unseren Kampf als Teil
       der alltäglichen Parteipolitik und -konflikte herabzustufen.
       
       Dabei hat sich Syriza, die linke Vorgängerregierung, weder viel für die
       Kunst eingesetzt noch gegen die sexuelle Gewalt, etwa in überfüllten
       Flüchtlingslagern. 
       
       Tsinikoris: Dennoch wird die Kunst nun für die politische Positionierung
       missbraucht. Mitglieder der Regierung haben konkret ausgesprochen, dass die
       Kunstwelt von der Linken dominiert würde. Während – wie Sie sagen –
       [5][Syriza, also die Linke], sich bislang kaum um die Kunst gekümmert hat.
       
       Die internationale Presse spricht von einer „späten griechischen
       #MeToo-Debatte“. Ist „spät“ das richtige Wort? 
       
       Andreovits: Wir sind ein kleines Land. In der Kunstszene kennen fast alle
       alle. Hinter einer Debatte wie #MeToo stecken Schicksale. So etwas sollte
       man daher nicht forcieren. Aber ich denke, das Thema wird hier noch eine
       große Dynamik entfalten. Wir befinden uns nun seit zehn Jahren in einer
       schweren gesellschaftlichen und politischen Krise. Wenn nun das Schweigen
       in Bezug auf sehr schmerzhafte Dinge gebrochen wird, müssen wir als
       Gesellschaft in der Lage sein, Verantwortung zu übernehmen. An diesem Punkt
       sind wir mit der Union.
       
       Ist die Performanceszene besonders betroffen? 
       
       Andreovits: Wir leben in einer pornografisch geprägten Gesellschaft.
       Berufe, für die der Körper eine wesentliche Rolle spielt, sind daher
       besonders verletzlich.
       
       Einerseits scheint es eine stark patriarchal geprägte Gesellschaft zu
       geben, andererseits gibt es seit Anfang der griechischen
       Geschichtsschreibung extrem starke Frauenfiguren, ein starkes feminines
       Selbstbewusstsein. Ein Widerspruch? 
       
       Andreovits: Stark sein heißt nicht gleiche Rechte haben. Frauen werden in
       patriarchalischen Gesellschaften „gezwungen“, Haushalt, Kinder, Karriere
       und soziales Leben zu vereinen. Das erzeugt gleichzeitig eine Illusion von
       Starksein wie eine beständige kontrollierende Unterdrückung. In diesem Sinn
       gibt es zum Beispiel eine Tendenz, #MeToo herunterzuspielen und so zu tun,
       als existiere das Problem jenseits von Lignadis nicht.
       
       Tsinikoris: Mehr noch, dass Lignadis eine Art Opfer eines
       Missverständnisses war. Im Fernsehsender Skai hielt eine Journalistin es
       für möglich, dass er einfach zu viele antike Stoffe gelesen habe und sich
       daher gern mit jungen Männern umgab. Auf Alpha TV wurde vom „Blick eines
       freien Mannes“ gesprochen. Beide Sender propagieren, wie fast die gesamte
       griechische Medienlandschaft, die Politik der rechten Regierung.
       
       Andreovits: Wichtig ist neben der politischen Debatte der
       Generationskonflikt. Wir erfahren in der Union täglich neue Fälle im
       Kontext von #MeToo. Das erste Problem, mit dem Opfer zu tun haben, ist die
       eigene Familie. Jungen Menschen wird es verboten, über Erfahrungen in
       dieser Hinsicht zu sprechen. Die Eltern sind die höchste Mauer, die sie
       überwinden müssen.
       
       10 Mar 2021
       
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