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       # taz.de -- Energiepolitik nach Fukushima: Die letzten Kurven der Talfahrt
       
       > Angela Merkel wird als Ausstiegskanzlerin in die Geschichtsbücher
       > eingehen. Die energiepolitische Zukunft aber ist hart umkämpft.
       
   IMG Bild: Guter Knalleffekt: Das Ende des Kühlturms des RWE-Atomkraftwerks Mülheim-Kärlich im Sommer 2019
       
       Die Erinnerung funktioniert noch. Fukushima! Sofort hat jeder seine eigenen
       Bilder im Kopf: die milchig-schemenhaften Silhouetten der havarierten
       Meiler; die erste Wasserstoffexplosion, die das Dach des Reaktorblocks in
       den japanischen Himmel katapultiert; die hilflosen Helfer, die den
       strahlenden Trümmerhaufen aus Wasserschläuchen bespritzen, wie der Nachbar
       seinen Zierrasen; die Straßenszenen in Tokio mit verhuschten Menschen
       zwischen Ohnmacht und Scham.
       
       Fukushima war nach Majak, Windscale, Church Rock, Harrisburg und
       Tschernobyl die sechste atomare Großkatastrophe. Sie alle hätten nach den
       Vorhersagen einschlägiger Risikostudien nur einmal in hunderttausend Jahren
       geschehen dürfen. „Kinder, wie die Zeit vergeht!“, höhnten die AKW-Gegner.
       Und der Klimaökonom Ottmar Edenhofer warnte, man solle sich jetzt bloß
       nicht als Rechthaber oder Sieger der Geschichte aufspielen.
       
       [1][Fukushima war der erste sichtbare Super-GAU], er passierte vor den
       Augen der Weltöffentlichkeit, begleitet vom neuen Nachrichtenkosmos des
       Internets. Fukushima war die endgültige Bestätigung, dass diese Technologie
       des Schreckens auf den Komposthaufen der Geschichte gehört. 1979, nach
       Harrisburg, konnte die Branche noch die Beherrschbarkeit selbst des
       schlimmsten denkbaren Unfalls behaupten, weil die Kernschmelze weitgehend
       im Reaktorgebäude stecken geblieben war. 1986, nach Tschernobyl, waren die
       „kommunistischen“ Reaktoren schuld, die der westlichen Sicherheitstechnik
       weit unterlegen waren. 2011, nach Fukushima, waren die Ausreden
       aufgebraucht, das Entsetzen nicht mehr zu kanalisieren. Nur der gnädige
       Westwind, der die radioaktiven Wolken auf den Pazifik trieb, hatte die
       30-Millionen-Metropole Tokio vor der Evakuierung bewahrt.
       
       Kein anderes Land stellte nach Fukushima die energiepolitischen Antennen
       stärker auf Empfang als die Bundesrepublik. Die energiepolitische Lage war
       plötzlich sonnenklar: „Die Dinger müssen weg“, schrieb der 11-jährige
       Schüler Enno Ebersbach in einem Gastbeitrag für die Fukushima-Sonderausgabe
       des Umweltmagazins zeozwei (heute taz FUTURZWEI), „ich finde es wichtig,
       dass jetzt jeder weiß, dass Atomkraftwerke keine Lösung sind!“
       
       ## Der politische Instinkt der Kanzlerin
       
       Fukushima hieß schnell Stuttgart. Die Landtagswahl in Baden-Württemberg
       folgte nur zwei Wochen nach der dreifachen Kernschmelze. Die Grünen surften
       auf der 13 Meter hohen Flutwelle, die am 11. März mit Tempo 160 auf die
       japanische Küste zugerast war, in die Regierungsverantwortung, ein
       unmissverständlicher Hieb für die alten Atomparteien. Mit Fukushima war die
       grüne Partei endgültig in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Ihr
       Kernthema Energiepolitik hätte nicht eindrucksvoller bestätigt werden
       können. Gleichzeitig setzte der japanische Fallout die Südwest-CDU nach 58
       Jahren ununterbrochener Regentschaft auf die Oppositionsbank.
       
       Dabei hatte Merkel eigentlich schnell reagiert. Während die EU noch
       „Stresstests“ für alle Reaktoren forderte, sendete der politische Instinkt
       der Kanzlerin sofort die richtigen Signale. Schneller, als man AKW
       buchstabieren konnte, vollzog sie – nach Krisentelefonaten mit dem
       baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus – eine diametrale
       Kehrtwende ihres energiepolitischen Kurses und verkündete ein
       Atom-Moratorium und die Abschaltung von sieben, später acht Reaktoren.
       
       Merkel, die Kanzlerin der schwarz-gelben Laufzeitverlängerung, wird als
       Kanzlerin des Atomausstiegs in die Geschichtsbücher eingehen. Dabei hatte
       sie nie verstanden, wie fundamental der Atomkonflikt die westdeutsche
       Gesellschaft über Jahrzehnte vergiftet hatte. Die blutigen Schlachten an
       den Bauzäunen Ende der 70er Jahre, die Massenproteste der 80er Jahre, die
       jahrzehntelangen Kämpfe unzähliger Bürgerinitiativen, die die Grünen erst
       möglich machten: Merkel kannte die relevanteste Protestbewegung der alten
       Bundesrepublik nur aus den Kurzmeldungen im Neuen Deutschland.
       
       Ihre späte Kehrtwende zum Atomausstieg war aber nicht nur Opportunismus.
       Sonst hätte Merkel nach dem langsamen Abklingen der Fukushima-Welle wieder
       gewackelt. In der schwarz-gelben Regierungskoalition gab es genug
       Atomfreunde, die nach Verstreichen einer Schamfrist die Neutronen wieder
       flitzen lassen wollten. Doch die Physikerin Angela Merkel hatte womöglich
       begriffen, dass diese Technik tatsächlich unverantwortbar ist, die Wucht
       des Tsunamis hatte auch das Bundeskanzleramt erwischt. Die Autorität der
       Katastrophe ließ das Gerede von der „Brückentechnologie Atomkraft“
       verstummen. Nicht nur die Brücke, das ganze Lügengebäude deutscher
       Energiepolitik war eingestürzt.
       
       ## Beißkrampf um den Ausbau der erneuerbaren Energien
       
       Nach Fukushima war die neue Allparteienkoalition des Ausstiegs – von
       Greenpeace bis Seehofer – auch eine Chance für die Gesellschaft. Das war
       sie leider nur kurze Zeit. Der alte Grabenkrieg des Atomkonflikts mündete
       umstandslos in den verschärften Beißkrampf um den weiteren Ausbau der
       erneuerbaren Energien – bis heute. Heute wird das Irrsinnsprojekt
       Nordstream 2 gebaut, ebenso das Flüssiggasterminal für US-Frackinggas. Die
       Stilllegung der Kohlekraftwerke und das Ende des steinzeitlichen
       Braunkohletagebaus werden trotz Klimakrise verzögert, der Ausbau von Solar-
       und Windanlagen wird permanent gedeckelt, bekämpft, ausgebremst.
       
       Aber warum konnte die Atomenergie als Kind der 1950er Jahre überhaupt so
       lange überleben? Warum taucht selbst heute immer wieder die Fata Morgana
       eines nuklearen Comebacks auf? Die Politik, das zeigt sich an vielen
       Zukunftsvorhaben, war leider immer schon anfällig für den großen Wurf. Und
       die Kräfte des gespaltenen Urans sind tatsächlich ungeheuer, die
       Erlöserfantasien des aufziehenden Atomzeitalters Ende der 50er und Anfang
       der 60er Jahre waren grandios. Keine Stromzähler mehr, die Begrünung der
       Wüsten und der Polkappen, dazu Atomlokomotiven, -autos, -flugzeuge, das
       Füllhorn für alle. Die „friedliche“ Nutzung der Atomkraft, die jetzt
       Kernenergie hieß, sollte zudem Wiedergutmachung sein für die Leichenberge
       von Hiroshima und Nagasaki.
       
       In Deutschland bekam der Ausbau der Erlösertechnologie Atomkraft schnell
       religiöse Züge. Politik, Energiewirtschaft, Teile der Wissenschaft und der
       Polizeiapparat vereinten sich zur verschworenen Atomgemeinde, die im
       Stellungskrieg mit den Atomgegnern rationalen Argumenten bald nicht mehr
       zugänglich war. Am Ende ging es vor allem darum, dass die grünen
       Latzhosenbrigaden und der verhasste Umweltzirkus nicht gewinnen durften.
       Dann kamen die Katastrophen. Dann kam Fukushima. Warum Urankerne spalten,
       um Kaffee zu kochen, wenn ich sogar aus Hühnerscheiße Strom machen kann,
       schrieb der 11-jährige Enno. Der Junge hatte recht.
       
       2022 geht bei uns der letzte Atommeiler vom Netz. Aber auch bei globaler
       Betrachtung wird klar: Die Atomindustrie fährt ihre letzte Etappe, der
       Besenwagen wartet schon. Ihr Anteil an der weltweiten Stromversorgung hat
       sich gegenüber den Boomjahren glatt halbiert. Nur noch wenige Länder, meist
       keine demokratischen, bauen neue Meiler. Und die laufenden Altkraftwerke
       der in Zahl und Leistung stagnierenden weltweiten Reaktorflotte nähern sich
       langsam der 40-Jahres-Grenze. Isch over! Atomkraft ist nicht nur
       lebensgefährlich und atombombentauglich, sie hat nicht nur
       Akzeptanzprobleme und hinterlässt strahlenden Müll für Millionen Jahre. Sie
       ist inzwischen auch doppelt so teuer in den Stromgestehungskosten wie Wind
       und Sonne an guten Standorten. Es gibt in vielen Ländern auch keinen
       Nachwuchs mehr. Kein vernünftiger Mensch will in einem Atomkraftwerk
       arbeiten.
       
       ## Ein Albtraum, der nicht enden will
       
       Dass es trotz allem immer noch eifrige Diskussionsrunden gibt zu den ewigen
       „Chancen und Risiken“ der Atomkraft und dass jetzt der seriell produzierte
       niedliche Minireaktor erneut als atomarer Hoffnungsträger auftaucht, das
       sind die letzten Kurven einer langen Talfahrt. Sie hatte schon Ende der
       1970er Jahre begonnen, als nach dem atomaren Höhepunkt immer weniger neue
       Atommeiler projektiert wurden. Tschernobyl beschleunigte diesen
       Negativtrend. Fukushima setzte zwar nicht den Schlusspunkt, beseitigte in
       den meisten Ländern aber letzte Zweifel.
       
       Der 11-jährige Enno schrieb im März 2011, er wolle einen Teil seines
       Taschengelds für den Wiederaufbau in Japan spenden. Enno, das wird nicht
       reichen. Die Kosten der nuklearen Katastrophe summieren sich inzwischen auf
       21,5 Billionen Yen (180 Milliarden Euro) und schon jetzt ist absehbar, dass
       auch diese Summe längst nicht reichen wird. Fukushima – das ist auch ein
       Albtraum, der nicht enden will.
       
       9 Mar 2021
       
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