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       # taz.de -- Buch über Regisseurin Chantal Akerman: Lebenslange Wunde
       
       > In ihrem Buch „Chantal Akermans Verschwinden“ folgt Tine Rahel Völcker
       > einigen Spuren der jüdischen Identität der Filmemacherin. Sie führen bis
       > nach Polen.
       
   IMG Bild: Die Regisseurin Chantal Akerman 2011 beim Filmfestival Venedig​
       
       Die Filme von [1][Chantal Akerman] sind Inspiration und Herausforderung für
       die Berliner [2][Bühnen- und Hörspielautorin Tine Rahel Völcker]. Sie kennt
       das Werk der 1950 in Brüssel geborenen Regisseurin, mehr als vierzig Spiel-
       und Dokumentarfilme sowie filmische Rauminstallationen, in denen Akerman
       in unverwechselbarer Handschrift von Frauenleben, Fluchten aus dem Alltag,
       existenzieller Heimatlosigkeit, Fremdheit und Verlorenheit erzählt.
       
       Die Hommage „Chantal Akermans Verschwinden. Les Rendez-vous de Tarnów“, ein
       schmales, gut lesbares Taschenbuch, konzentriert sich auf sechs frühe
       exemplarische Filme, vom ersten Kurzfilm, „Saute ma ville“ (1968), in dem
       sich Akerman vom Haushaltseinerlei freisetzt, indem sie ihre Küche sprengt,
       bis zu „De l’autre côté“ (2002), einer dokumentarischen Erkundung der
       Migration an der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze.
       
       Filmografische Vollständigkeit oder die Frage, welche Werke im Kanon
       feministischer Filmklassiker ganz oben stehen, interessieren Völcker nur am
       Rande. Ihre Essays beschreiben eine unmittelbar persönliche Annäherung, ein
       eigenwilliges, zum Scheitern verurteiltes Experiment, mit dem sie sich als
       Deutsche Chantal Akermans Suche nach ihrer jüdischen Identität stellt, die
       Wurzeln ihrer Familie in Polen aufspürt und gegen das „Verschwinden“ ihrer
       Geschichte anzugehen versucht.
       
       Völckers Experiment begann, nachdem die charismatische [3][Regisseurin im
       Oktober 2015 ihrem Leben ein Ende gesetzt] hatte. Das Buch folgt dabei der
       Idee, öffentliche Aufführungen ihrer Filme zu initiieren, dort, wo das
       Familienschicksal der Akermans seinen Ausgang nahm: in Tarnów, einer
       polnischen Kleinstadt östlich von Krakau.
       
       Mit den ausgewählten Filmen im Laptop reist die Autorin zweimal in die
       Geburtsstadt von Chantal Akermans Mutter Natalia. Doch ein „Rendez-vous“
       findet nicht statt. Tine Rahel Völcker findet keine Spuren jüdischen
       Lebens, überall stößt ihr Ansinnen auf Unverständnis und Gleichgültigkeit.
       Ihre Erfahrung kann sie nur mit ein paar jungen Polen und zwei Besuchern
       teilen, vielleicht fiktiven Zeitgenossen auf derselben Wellenlänge, die
       sich als Nachfahren einstiger Tarnówer Juden zu erkennen geben.
       
       ## Überprüfung der eigenen Haltung
       
       So bleibt nur der Rückzug ins Bett, wie ihn Chantal Akerman oft
       inszenierte, eine einsame Filmsichtung unter den klammen Bettdecken einer
       billigen Pension. Mit solch situativen Schilderungen verschränken die Texte
       reale Erfahrungen und das Close Reading der Filme und schaffen ein eigenes
       Genre zwischen Tagebuchnotizen, Städteporträt, biografischer Annäherung und
       Überprüfung der eigenen Haltung gegen das „Verschwinden“ und Überschreiben
       der Shoah.
       
       Tine Rahel Völcker gelingt es, die disparaten Teile zu einem Bild
       zusammenzufügen, das die tiefe Zerrissenheit der Regisseurin als Tochter
       von Holocaust-Überlebenden anschaulich macht.
       
       Natalia, Chantal Akermans 1927 geborene Mutter, verließ Tarnów als Kind mit
       ihren Eltern, war jedoch auch in Belgien nicht sicher. In Brüssel wurde sie
       mit ihrer Mutter und Großmutter verhaftet und nach Auschwitz deportiert.
       Als einzige ihrer Familie überlebte sie die Shoah, konnte jedoch ihr Leben
       lang nicht über diese Erfahrung sprechen.
       
       ## Das Trauma ihrer Familie
       
       Die Unmöglichkeit, ihr Schicksal mit anderen zu teilen, und dass Natalia
       stattdessen an der symbiotischen Beziehung zu ihrer Tochter festhielt,
       belasteten Chantal Akerman schwer. Verstrickt in Phasen sprühender
       Schaffensenergie und verzweifelter Depression, schwankend zwischen ihrer
       Liebe zur Mutter und der Rebellion gegen die bedrückende Enge, ging sie in
       öffentlichen Statements immer wieder offen auf das Trauma ihrer Familie
       ein, bearbeitete es indirekt in den Narrativen ihrer Filme und entwickelte
       eigene Formsprachen, die heute als Neuerfindung des Kinos gelten.
       
       Völcker führt die mehr oder weniger deutlichen Spuren zusammen, wenn sie
       etwa den hierzulande wenig bekannten autobiografischen Theatertext „Une
       famille à Bruxelles“ einbezieht, dessen enervierender Plauderton die
       Sprachlosigkeit offensichtlich macht, oder wenn sie den Dokumentarfilm
       „News from home“ (1976) beschreibt, ein Beispiel für Chantal Akermans
       Fasziniertsein von New-York, das sich in ihren Stadtimpressionen zeigt.
       Über den Bildern liegt jedoch der Sound der Briefe ihrer Mutter, ein
       Kontrapunkt, der die Unmöglichkeit eines Exils aus den unaussprechlichen
       Erinnerungen reflektiert.
       
       Anders als eine Psychoanalyse seziert das Buch nicht die intime Geschichte
       des Mutter-Tochter-Verhältnisses. Tine Rahel Völcker begibt sich auf die
       Suche nach den Lebenswelten der jüdischen Tarnówer in den 1930er Jahren,
       bevor sie in ein Getto gezwungen wurden und fast vollständig dem Naziterror
       zum Opfer fielen.
       
       ## Aus respektvoller Distanz beobachtet
       
       Zu dem produktiven Umweg, den die Autorin bevorzugt, gehört auch, dass
       Chantal Akerman selbst den Geburtsort ihrer Mutter nie besuchte, auch nicht
       anlässlich ihres im Buch beschriebenen Dokumentarfilms „D’Est“ (1993), der
       eine Winterreise von Berlin nach Moskau schildert. Völcker beschreibt die
       an dem Philosophen Emmanuel Levinas geschulte Haltung der Regisseurin, mit
       der sie die Menschen vor der Kamera aus respektvoller Distanz beobachtet
       und ihren Alltag in Zeiten des radikalen Umbruchs in langsamen
       Kamerafahrten festhält.
       
       Die Arbeit, konstatierte Chantal Akerman damals, empfand sie als intuitive
       Rückkehr in den „Osten“, in ein unbewusstes Fluidum der Sprachlaute,
       Klänge und Musiken ihrer Vorfahren.
       
       Die filmischen Zeugnisse von Chantal Akermans lebenslanger Wunde als
       Tochter einer KZ-Überlebenden lohnen die Auseinandersetzung ebenso wie die
       um Abstand von anbiedernder Einfühlung ringenden Texte von Tine Rahel
       Völcker.
       
       11 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Claudia Lenssen
       
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