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       # taz.de -- Von Penllech nach Rio de Janeiro: Samba auf Walisisch
       
       > Carwyn Ellis veröffentlicht mit seiner Studio-Band Rio 18 zwei
       > Solo-Alben, die sich lateinamerikanischen Rhythmen verschrieben haben.
       
   IMG Bild: Ist eher Eiswetter gewöhnt: Carwyn Ellis am Strand in Rio
       
       „Rio de Penllech“? Noch nie gehört? Kein Wunder, ist diese Ortsbezeichnung
       doch nur eine Wortspielerei des britischen Musikers Carwyn Ellis. Eine
       Liebeserklärung, gleichsam an seine walisische Heimat, wie an Rio de
       Janeiro. Denn aufgewachsen ist der Gitarrist und Sänger in Penllech, einem
       verschlafenen Nest auf der Nordspitze der abgelegenen Lleyn-Halbinsel, weit
       im Westen von Wales. Und weil Penllech am Meer liege, habe er sich auch in
       Rio de Janeiro gleich pudelwohl gefühlt, sagt Ellis.
       
       Bisher hat sich Carwyn Ellis vor allem als Sänger und Gitarrist der
       Alternative-Rock-Band Colorama und als Begleitmusiker einen Namen gemacht.
       Er ist mit Chrissie Hynde und den Pretenters um die Welt getourt und hat
       mit der schottischen Twangpop-Legende Edwyn Collins gespielt. Nun legt
       Ellis seine ersten beiden Soloalben vor. Das Besondere daran: Er singt
       Bossa Nova, Samba und Tropicália auf Walisisch.
       
       Wer sich nur das komplizierte Schriftbild dieser archaischen keltischen
       Sprache anschaut, mag das für ein Ding der Unmöglichkeit halten. Doch Ellis
       schafft es, so warm und weich zu klingen, als ob Wales und Brasilien
       seelenverwandt wären und er sich am Strand von Ipanema (oder am Penllech
       Beach) jeden Tag zum Sonnenuntergang mit einer sanften Samba-Melodie auf
       seiner Gitarre verabschieden würde.
       
       2019 war Ellis nach Rio de Janeiro gereist, um ein Latin-Album aufzunehmen.
       „Ich hatte keine Songs, also musste ich sie vor Ort komponieren.“ Klar war
       nur, dass es ein Album mit so vielen lateinamerikanischen Einflüssen wie
       möglich werden sollte.
       
       ## Surf vom Amazonas
       
       Und tatsächlich hat sich Ellis mit einigen der interessantesten
       Musiker:innen aus Rios spannender Popszene zusammengetan: Im Studio des
       Grammy-nominierten Produzenten und Komponisten Alexandre Kassin
       unterfütterten Domenico Lancellotti und Andre Siqueira Ellis’ Kompositionen
       mit feinsinniger Percussion, während der mestre Manoel Cordeiro mit seinem
       guitarrada-Stil Surf vom Amazonas beisteuert.
       
       Im halbstündigen Dokumentarfilm [1][„Carwyn Ellis: Ar y Cei yn Rio“] kann
       man sehen, wie unaufgeregt und konzentriert es im Studio zugeht, wenn der
       Rotschopf Ellis walisischen Bossa ins Mikrofon haucht und Andre Siqueira
       einer cuíca, die für die eigentümlichen Quitsche-Laute beim Samba
       verantwortlich ist, ungeahnte Sound-und Rhythmus-Variationen entlockt.
       
       „Joia!“ – im Portugiesischen ein Ausruf der Freude, der im Walisischen
       „genießen“ bedeutet – heißt das Album, das Ellis mit seinen Gästen als
       Studio-Band Rio 18 aufgenommen hat. Begonnen in Rio, ging die Aufnahme im
       walisischen Caernarfon weiter, wo er im Studio die Songs um Backing-Vocals,
       Harfe und Flügelhorn ergänzte.
       
       Eröffnet wird das Werk mit dem Song „Unman“ („Nirgendwo“), einem
       schleppenden Cumbia über eine walisische Straße, die ins Nichts führt.
       Während sich Bossa Nova eigentlich um die Schönheit der „cidade
       maravilhosa“ am Zuckerhut dreht, besingt er in „Tywydd Hufen Iâ“
       („Eiswetter“) lieber die widrigen klimatischen Bedingungen auf der
       britischen Insel. Mit einem Cover des Instrumentals „Undiù“ verbeugt sich
       Ellis schließlich vor dem großen Gitarristen João Gilberto, einem seiner
       musikalischen Helden.
       
       Und weil Ellis infolge des Coronalockdowns auf einmal viel Zeit hatte, hat
       er mit dem vorhandenen Material gleich noch ein weiteres Latin-Album mit
       dem programmatischen Titel „Mas“ produziert: Auf Walisisch bedeutet das
       „Aus“, auf Spanisch „Mehr“ und auf Portugiesisch „Aber“, kann also ein
       Versprechen beschreiben, oder auch eine Warnung sein. Das passt zu dem
       politischeren Tenor des Albums, das den Klimawandel und das Anschwellen von
       Megastädten ebenso thematisiert wie die Liebe zur Natur („Ar Ôl Y Glaw“,
       „Nach dem Regen“).
       
       „Joia!“ und „Mas“ sind aber positive Alben, deren Musik bewusst das Leben,
       die Zusammengehörigkeit der Menschen feiert. Jair Bolsonaro, der
       populistische Präsident Brasiliens, dessen unsägliche Politik das Land an
       den Rand des Abgrunds geführt hat, wird jedenfalls mit keiner Silbe
       erwähnt. Was wiederum an eine walisische Lebensweisheit erinnert: „Dywed yn
       dda am dy gyfaill am dy elyn dywed dim“ – „Sprich Gutes von deinem Freund,
       sag nichts über deinen Feind.“
       
       26 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=OZPhTQ2QfOc
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ole Schulz
       
       ## TAGS
       
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