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       # taz.de -- Die These: Euer Bild von Schule ist verkitscht
       
       > Erwachsene, die „Schule“ sagen, denken oft an die eigene Schulzeit. So
       > bekommen sie vor allem eines: ein verklärtes Bild. Corona verzerrt es
       > noch mehr.
       
   IMG Bild: Manches ändert sich nie im Schulalltag: Ein Lehrerpult in Bonn, 2002
       
       Eine neue Formel geisterte durch den zweiten Schul-Lockdown. Es war die
       Rede von einer „abgehängten“, gar „verlorenen Generation“. Gemeint sind
       Schüler:innen, die zu Hause am Bildschirm arbeiten mussten, denen die
       schulische Interaktion fehlte und die Schulstoff verpasst haben – auch weil
       einige nicht über die private digitale Infrastruktur verfügen. Nun sollen
       sie sukzessive wieder die Schule besuchen.
       
       Doch überschätzt die pathetische Formel der „Lost Generation“ die Bedeutung
       von Schule als Bildungsinstitution nicht maßlos? Und was wäre die
       Alternative zur Schulschließung gewesen? [1][Diese Karikatur von
       Präsenzunterricht etwa,] die im Spätherbst stattfand? In kalten
       Klassenräumen, mit Maske und möglichst viel Abstand. Keine Gruppenarbeiten,
       Lehrer:innen, die meist nur frontal unterrichten konnten. Und dann noch die
       Angst, sich trotzdem anzustecken.
       
       Dass Schule kein Ort ist, um den das Coronavirus einen Bogen macht, müsste
       aufgrund der englischen und österreichischen Studien allmählich klar sein.
       Die Angst wird jetzt auch die Öffnungen begleiten – bis regelmäßige
       Schnelltests da sind und Lehrpersonal und Eltern geimpft sind.
       
       Stichwort „Lost Generation“: Die aktuelle Ausgabe des Satire-Magazins
       Titanic titelt „Generation Corona: Lockdown wirft Jugend um Jahre zurück“.
       Zu sehen sind heitere Jugendliche der Nullerjahre mit Zigaretten und alten
       Mobiltelefonen. Das Editorial empfiehlt, „die Kiddies einfach mal in Ruhe
       zu lassen“ – anstatt einer ganzen Generation den Opferstempel aufzudrücken.
       
       ## Schule wird umstrukturiert
       
       Es ist schon merkwürdig: Eine Institution wie die Schule, die zu
       kritisieren zum guten Ton gehörte, wird plötzlich für so wichtig erachtet.
       Wichtig ist Schule sicherlich – als Aufbewahrungsort, damit die Erwachsenen
       ihren Berufsalltag bewältigen, sowie als Begegnungsstätte für
       Heranwachsende.
       
       Wer jedoch die Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehbeiträge sowie die
       Debatten in sozialen Medien genauer verfolgt, der wird das Gefühl nicht
       los, dass die Debattierenden den gegenwärtigen Schulalltag gar nicht
       kennen, dass sie überhaupt nicht mitbekommen haben, wie Schule in den
       letzten 20 Jahren in ökonomistischer Manier umstrukturiert wurde.
       
       Denn Kompetenz- und Output-Orientierung einerseits und fortschreitende
       Digitalisierung andererseits – die im Übrigen viel fortgeschrittener ist,
       als kolportiert wird – haben die Unterrichtssettings sehr verändert. Der
       alte Witz vom „Leerplan“ ist längst Realität geworden, seit man Kompetenzen
       trainiert und Inhalte vernachlässigt. Dazwischen Evaluationen und Rankings.
       Schüler:innen werden als Humankapital bezeichnet; sie lernen
       Zeitmanagement, Selbstoptimierung und Resilienz – und nehmen diese
       Plastikwörter in ihren Wortschatz auf.
       
       Der Mathelehrer im karierten Hemd vor der grünen Kreidetafel ist ein ebenso
       antiquiertes Bild wie die Reihen gestaffelter Einzeltische, die wir aus
       „Fack ju Göhte“ kennen. „Pauker“ und „Pennäler“ bilden den
       Unterrichtsalltag schon lange nicht mehr ab. Stattdessen werden Lehrkräfte
       schon in ihrer Ausbildung als „Lernbegleiter:innen“ bezeichnet, die
       mehr auf Coaching hin trainiert werden, als dass sie Verantwortung für
       einen selbstständigen Unterrichtsstil übernehmen.
       
       ## Die Pauker, denen man Streiche spielt
       
       Und doch flottieren die überholten Klischees noch immer durch die Medien.
       Wilhelm Buschs „Lehrer Lämpel“ lässt grüßen.
       
       Aber auch neue gendersensible Vokabeln wie „Lehrende“ und „Lernende“
       verkleistern die schulische Wirklichkeit, weil Lehrende eben immer weniger
       lehren, sondern „begleiten“ sollen, und Lernende eben nicht permanent
       lernen und nicht immer lernwillig sind. Die Rollenbezeichnung „Schüler“ gab
       ihnen wenigstens noch die Möglichkeit zu opponieren.
       
       Sowohl das neue Vokabular von Schule als Ort „kollaborativen“ und
       „inklusiven“ Lernens als auch die alte Pennäler-Nostalgie produzieren
       Schulkitsch. Die Pauker, denen man Streiche spielt, gibt es genauso wenig
       wie die neuen Schulmanager, die Schule im Sinne gesellschaftlicher
       Emanzipation zu „Lernlandschaften“ umbauen, in denen jetzt alle gerne und
       erfolgreich lernen. Entweder ruft eine veraltete Bildsprache romantisierte
       Eltern-Erinnerungen auf oder die Wortwolken der neuen Lernkultur
       versprechen eine rosige Zukunft in „digitalen Lernumgebungen“. Kitschig
       sind diese Bildwelten auch deswegen, weil sie auf schemenhafte
       Gefühlseffekte setzen.
       
       ## Schule ist eine hybride Konstruktion
       
       Die Schule der Gegenwart dagegen ist eine sehr hybride Konstruktion: teils
       noch Disziplinarinstitution alten Typs mit Raum-, Fächer- und
       Stundeneinteilung und lehrerzentriertem Unterricht, teils [2][schon
       „offener Lernraum“ mit Tablet-Klassen und Lern-Coaches.]
       
       Dieses Hybride spiegelt sich auch in dem Durcheinander der Vokabulare
       wider, die den bildungspolitischen Diskurs beherrschen. Der pädagogische
       Wortschatz wird mit technizistischen und ökonomistischen Begriffen
       amalgamiert. Man spricht zwar noch von „Unterricht“ und „Bildung“,
       neuerdings gerne auch von „Bildung 4.0“, aber im Hintergrund wird
       gesteuert, finden Monitoring-Prozesse statt, und in endloser Gremienarbeit
       wird eifrig implementiert und operationalisiert.
       
       Währenddessen sitzen an Gymnasien in Berlin bis zu 34 Schüler:innen in
       einem Klassenraum, die alle „individuell“ gefördert und gleichzeitig auf
       Tests für die nächsten landesweiten Vergleichsstudien vorbereitet werden
       sollen. Jedes Schuljahr wartet mit organisatorischen und didaktischen
       Neuerungen auf, die alle auch „umgesetzt“ werden müssen, damit sie zu den
       Formularen der Schulinspektion passen.
       
       Diese Unruhe und Hektik im System überträgt sich auf die Schüler:innen;
       denn sie müssen das ja alles irgendwie erlernen: neue Aufgabentypen,
       Testungen, das Ausfüllen von Selbstkompetenz-Rasterbögen,
       Internetrecherche, foliengestützte Vorträge, Projektarbeiten,
       Lebenslaufplanung – [3][und jetzt noch das eigenständige Arbeiten via
       Lernplattformen].
       
       Gleichzeitig kämpfen viele Schüler:innen seit der Grundschule mit
       Handschrift und Orthografie, für deren Verbesserung sowohl Zeit fürs Üben
       als auch die nötige Konzentration fehlen. Mußestunden sind rar geworden für
       junge Menschen, die bis nach 15 Uhr in der Schule sitzen und dann noch
       Hausaufgaben machen müssen. Auf dem Schreibtisch liegt das Handy für die
       begleitende Social-Media-Kommunikation. Business as usual. Schon lange ist
       die Grenze zwischen Schulvormittag und nachmittäglicher Freizeit gefallen,
       spätestens seit Lernportale und Klassenchats den Alltag vieler Kinder und
       Jugendlicher bestimmen.
       
       Die Eltern spüren, dass Schule stressiger geworden ist. Der Stress hat aber
       für Lehrer:innen und Schüler:innen auch deswegen so zugenommen, weil
       die – systemisch betrachtet – berechtigten Ansprüche der Eltern an gute
       Noten gewachsen sind. Dass gute Noten mit Niveauabsenkungen der
       Abiturprüfungen einhergehen, wie zuletzt der Bildungsforscher Hans Peter
       Klein nachgewiesen hat, interessiert da weniger. Die meisten Eltern – und
       viele Journalist:innen sind Eltern – haben jedoch aufgrund ihrer
       beruflichen Belastungen gar keine Zeit, sich mit dem Umbau des
       Bildungssystems detailliert auseinanderzusetzen.
       
       In einer Hinsicht können sie beruhigt sein: Diese Generation an
       Schüler:innen wird sicherlich nicht abgehängt sein, weil einige Monate
       Präsenzunterricht, Prüfungen und „Teaching to the test“ in einem hektischen
       Betrieb ausgefallen sind – zumal viele Lehrer:innen sich engagiert
       bemühen, Unterricht digital zu simulieren, soweit das eben geht.
       Gravierender sind die sozialpsychologischen Effekte der Schulschließungen –
       vor allem für jüngere Schüler:innen. Das ist das zentrale Thema, nicht die
       „Lernlücken“ und der Fetisch „Vergleichbarkeit“. Es wird Lücken geben; aber
       was soll’s. Wir alle wissen doch selbst, wie episodisch unser
       „Schülergedächtnis“ war.
       
       Lebendige Bildungs- und Erfahrungsprozesse sind häufig gerade nicht
       schulisch bedingt. Schule kann dafür aber einen geeigneten Übungs- und
       Reflexionsrahmen bieten. Wie das ruhiger und unaufgeregter geschehen kann,
       das wäre eine mediale Debatte wert – jenseits von Kitschbildern und
       Alarmismus.
       
       15 Mar 2021
       
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