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       # taz.de -- Überwachung im Knast: Wenn die Maschine entscheidet
       
       > Die niedersächsischen Fraktionen der SPD und CDU wollen Inhaftierte in
       > ihren Zellen überwachen – basierend auf künstlicher Intelligenz.
       
   IMG Bild: Sollen zukünftig „intelligent“ überwachen: Kameras am Knast
       
       Hamburg taz | Wenn Inhaftierte live per Video überwacht werden, ohne dass
       ein*e Mitarbeiter*in der Justizvollzugsanstalt vor dem Bildschirm
       sitzen muss – da werden [1][Überwachungsträume] wahr. Jedenfalls träumen
       die niedersächsischen Landtagsfraktionen von SPD und CDU von auf
       künstlicher Intelligenz (KI) basierter Videoüberwachung in Knästen. Und
       arbeiten daran, diese Fantasien zur Realität werden zu lassen: In der
       Landtagssitzung am Mittwoch wollen die Fraktionen beantragen, die
       Gesetzesgrundlage für ein entsprechendes Modellprojekt zu schaffen.
       
       „Wir müssen endlich die vielfältigen Möglichkeiten der Digitalisierung,
       speziell [2][der künstlichen Intelligenz], in allen Bereichen der
       Sicherheitspolitik nutzen“, sagt der rechtspolitische Sprecher der
       CDU-Fraktion, Christian Calderone.
       
       Er argumentiert mit Suizidprävention und der allgemeinen Erhöhung der
       Sicherheit im Knast. „Intelligente“ Videoüberwachungsanlagen könnten etwa
       suizidgefährdete Personen in ihren Zellen beobachten und Alarm schlagen,
       sobald sie auffällige Verhaltensweisen erkennen. Bislang müssen echte
       Menschen in regelmäßigen Abständen die Zellentür aufschließen, um zu
       gucken, ob jemand noch lebt. Kameras in Zellen gibt es nur in
       Ausnahmefällen.
       
       Aber auch außerhalb der Zellen, bei sogenannten Freistunden, könnten die
       „intelligenten“ Kameras Bewegungen und Verhalten der Gefangenen analysieren
       und zum Beispiel die Übergabe von Schmuggelware oder sich anbahnende
       körperliche Auseinandersetzungen erkennen.
       
       ## Datenschutzrechtlich bedenklich
       
       Projekte, in denen eine solche „intelligente“ Überwachung erprobt wird,
       gibt es etwa am Berliner Bahnhof Südkreuz oder auf dem Mannheimer
       Bahnhofsvorplatz. „Die Entwicklungsfortschritte bei der künstlichen
       Intelligenz sind gigantisch“, schwärmt Calderone.
       
       Tatsächlich verliefen die Testphasen für die Gesichts- und
       Verhaltenserkennung am Südkreuz [3][gelinde gesagt eher mäßig]. Der Chaos
       Computer Club bezeichnete den Abschlussbericht der ersten Testphase als
       „unwissenschaftlich“ und als „Debakel“. Die Berliner Datenschutzbeauftragte
       kritisierte die extrem hohe Fehlerquote.
       
       Auch Michael Ebeling von der Nichtregierungsorganisation „Freiheitsfoo“
       findet solche als intelligent bezeichneten Überwachungstechnologien
       bedenklich. „Überall, wo im großen Stil biometrische Daten gesammelt und
       identitätsbezogen verarbeitet werden, besteht die Gefahr des Missbrauchs“,
       sagt er. Auch wenn die KI „lerne“, berge das Gefahren: Am Ende verstünden
       die Menschen, die sie benutzten, oft gar nicht, nach welchen Parametern sie
       reagiere.
       
       CDU und SPD hingegen sehen datenschutzrechtlich einen Fortschritt in dem
       Projekt. „Intelligente Überwachungssysteme zur frühzeitigen Erkennung von
       Gefahrenlagen greifen weniger stark in das Grundrecht auf informationelle
       Selbstbestimmung ein als herkömmliche Überwachungsanlagen“, schreiben sie
       [4][in dem Antrag.]
       
       ## Es geht auch um Entlastung der Justizbeamten
       
       Die SPD-Abgeordnete und rechtspolitische Sprecherin Wiebke Osigus erklärt,
       es gehe zunächst darum, überhaupt die Rechtsgrundlage für die Nutzung von
       KI-Überwachungstechnologien zu schaffen. Wie eine Nutzung dann aussehen
       würde, müsste man im nächsten Schritt aushandeln. Etwa, ob ein externes
       Unternehmen mit dem Betreiben der Software beauftragt und wo die Daten
       gespeichert würden. Das Ganze soll als ein Aspekt einer umfassenden Novelle
       in das Justizvollzugsgesetz einfließen und noch vor der Sommerpause im
       Landtag zur Diskussion gestellt werden.
       
       „Die Idee ist auch, die Vollzugsbeamt*innen zu entlasten und die
       Fehlerquote zu minimieren“, sagt Osigus. Wer viele Stunden lang auf einen
       Bildschirm starre, reagiere möglicherweise nicht so schnell auf
       ungewöhnliches Verhalten der überwachten Person wie eine KI-basierte
       Anlage, die innerhalb von Sekundenbruchteilen Alarm schlagen könnte.
       
       Aber was ist ungewöhnliches Verhalten? Dass eine Maschine das entscheiden
       soll, sieht Ebeling von Freiheitsfoo kritisch. „Gerade bei digitalisierter
       Verhaltenserkennung ist immer die Frage, von welcher Norm man ausgeht“,
       sagt er. „Personen, die nicht einem bestimmten Schema entsprechen, das oft
       relativ unseriös und unwissenschaftlich festgelegt wird, geraten schnell in
       den Fokus.“ Wer Menschen einsperre, müsse auch dafür sorgen, dass genug
       Ressourcen bereitstünden, sich um sie zu kümmern, das könne man nicht
       Maschinen überlassen.
       
       Ähnliche Bedenken äußert der sozialpolitische Sprecher der im Landtag
       oppositionellen Grünen, Volker Bajus. „Für Suizid-Prävention braucht es
       eine gute sozial-psychologische Betreuung. Das kann man nicht mit dem
       Verweis auf moderne Technik wegdiskutieren“, sagt er.
       
       Für Britta Rabe vom Grundrechtekomitee zeigt sich bei der Debatte ein
       grundsätzliches Problem. „Bei der kompletten Entrechtung, die Menschen im
       Knast erfahren, gibt es viel zu wenig psychologisches Personal.“ Es stelle
       sich zudem die Frage, ob suizidgefährdete Menschen überhaupt in Haft sein
       müssten. Wenn man sich schon dafür entscheide, würde es zumindest der
       bessere präventive Ansatz sein, statt weniger menschliche Begegnungen zu
       ermöglichen.
       
       15 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Katharina Schipkowski
       
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