URI: 
       # taz.de -- Gesetz gegen Missbrauch: Was schützt die Kinder?
       
       > Mit einem neuen Gesetz soll Kindesmissbrauch härter bestraft werden.
       > Viele fordern das. Trotzdem wird der Entwurf scharf kritisiert.
       
       Es ist ein normaler Nachmittag im Hort einer Grundschule in Berlin. Die
       Kinder der Jahrgangsstufen 5 und 6 zeigen sich gegenseitig etwas auf dem
       Smartphone. Nachdem ein Junge, nennen wir ihn Ben, sein Handy gezückt hat,
       wirken die Kinder nervös. Am Ende des Nachmittags vertraut sich ein Schüler
       im Flüsterton der Erzieherin an. Ben habe eklige Videos auf dem Handy, die
       habe ihm der Lebensgefährte seiner Mutter geschickt. Die Erzieherin, die
       sich auch in anderer Hinsicht Sorgen um Ben macht, ist geschult im Umgang
       mit Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Sie ruft bei einer Fachberatung an,
       die mit der Schule kooperiert.
       
       Auf deren Rat hin dokumentiert sie die Situation und das Gespräch mit dem
       Mitschüler, zunächst ohne Namen zu nennen, und kontaktiert das Jugendamt.
       Dieses kontaktiert Bens Mutter. Sie erstattet Anzeige gegen ihren
       Lebensgefährten, weil er ihrem Sohn Pornos gezeigt hat.
       
       Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen stellt sich heraus, dass der Mann
       schon mehrfach wegen des Besitzes von Kinderpornografie vor Gericht stand,
       aber immer mit Geldstrafen davon kam. Auch hatte er mehrfach Kinder in
       ähnlicher Weise missbraucht, wie er es mit Ben machte, das kam aber erst im
       Zuge des Gerichtsverfahrens heraus. Dass er in diesem Fall endlich gestellt
       wurde, ist einer Mischung aus Zufall und der Aufmerksamkeit der
       PädagogInnen in Bens Schule zu verdanken. Und der konsequenten Haltung von
       Bens Mutter, die ihren Lebensgefährten angezeigt hat.
       
       Der Lebensgefährte von Bens Mutter ist geständig, er bekommt per Post einen
       Strafbefehl zugestellt, er muss für ein paar Monate ins Gefängnis und eine
       Geldstrafe zahlen. Einige Zeit später werden wieder ähnliche Bilder bei ihm
       gefunden – diesmal ist auch Ben darauf zu sehen.
       
       „Mit leichter bis mittelschwerer Kinderpornografie können Täter zehn- bis
       zwölfmal vor Gericht landen, ohne dass sie auch nur einen Eintrag ins
       Führungszeugnis davontragen – oder persönlich vor Gericht erscheinen
       müssen“, sagt Angelika Oetken, die den Fall von Ben gerade am Telefon
       geschildert hat. „Typen wie der Lebensgefährte von Bens Mutter kamen in der
       Vergangenheit zu billig davon – ich bin froh, dass sich das bald ändert.“
       
       Ben und den Mann, der ihn missbrauchte, gibt es wirklich, nur heißen sie
       anders. Oetken hat den Fall auch etwas verfremdet, um keine Rückschlüsse
       auf echte Personen zuzulassen. Die 56-Jährige, die als Ergotherapeutin
       arbeitet, engagiert sich ehrenamtlich als Betroffene beim [1][Fonds
       Sexueller Missbrauch]. Dort berät sie als Mitglied des Betroffenenbeirates
       das Familienministerium und die Geschäftsstelle. Als Mitglied eines
       Gremiums Clearingstelle berät sie über komplexe und schwierig zu
       entscheidende Anträge. Außerdem ist sie aktiv in einem Netzwerk von
       Betroffenen, die sich dafür einsetzen, dass sexuelle Gewalt gegen
       Minderjährige nicht länger als Bagatelldelikt angesehen wird. Als Vergehen,
       also eine minderschwere Straftat, die strafrechtlich auf der gleichen Stufe
       rangiert wie Diebstahl oder Unterschlagung.
       
       Wenn der Diebstahl eines Autos härter bestraft wird als der Missbrauch an
       einem Kind, dann läuft etwas gewaltig schief in unserer Gesellschaft,
       findet Angelika Oetken. Und damit ist sie nicht allein.
       
       ## Sexuelle Gewalt ächten
       
       In den letzten Jahren wurden die Gesetze gegen Kindesmissbrauch mehrfach
       verschärft: 2015 dehnte der damalige Justizminister Heiko Maas (SPD) die
       Strafbarkeit auf FKK-Bilder von Kindern aus und stellte den Versuch der
       Kontaktanbahnung im Internet unter Strafe. Seine Amtsnachfolgerin Christine
       Lambrecht (SPD) hat nun ein neues Gesetzespaket auf den Weg gebracht. Der
       Entwurf sieht vor, dass künftig in Gesetzestexten nicht mehr von sexuellem
       Missbrauch die Rede sein soll, sondern [2][von sexualisierter Gewalt].
       Damit soll signalisiert werden, dass der Gesetzgeber alle sexuellen
       Handlungen an Kindern als Gewalt ächtet.
       
       Außerdem soll der Strafrahmen bei Missbrauch (§ 176 StGB) und
       Kinderpornografie (§ 184b StGB) deutlich erhöht werden – alle unter diesen
       Paragrafen gefassten Taten gelten künftig als Verbrechen und werden mit
       nicht unter einem Jahr Freiheitsstrafe geahndet. Für sexuellen Missbrauch
       können bislang bis zu 10 Jahre verhängt werden, in Zukunft wären es dann
       bis zu 15 Jahre. Für Besitz und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen
       erhöht sich der Strafrahmen auf bis zu 5 Jahre. Wenn jemand gewerbsmäßig
       und in großem Stil mit Missbrauchsdarstellungen handelt, sind sogar bis zu
       15 Jahre Gefängnis vorgesehen.
       
       Nach dem neuen Gesetz würde der Lebensgefährte von Bens Mutter zu
       mindestens einem Jahr verurteilt und wäre vorbestraft – auch schon beim
       ersten Mal. Der Grund für die Verurteilung wäre in seinem Führungszeugnis
       vermerkt, er dürfte dann nicht mehr beruflich oder ehrenamtlich mit Kindern
       zu tun haben. „Wer einmal erwischt wird, wird auch verurteilt“, fasst
       Angelika Oetken die neue Lage zusammen. Sie begrüßt deshalb die
       Gesetzesverschärfung – „es wird Zeit, dass sich das Strafrecht an unsere
       Realität anpasst“, sagt sie.
       
       Als kleines Mädchen wurde Angelika Oetken selbst von einem Freund der
       Eltern missbraucht. Bis ins Erwachsenenleben schwieg sie darüber. Gut so,
       wie sie heute findet. Damals, ist sie überzeugt, hätte eine Anzeige ihr
       Leben zerstört. „Man hätte mich in ein Kinderheim gesteckt – als
       beschädigtes, ‚nymphomanisches Mädchen‘ stigmatisiert wäre ich als Gefahr
       für andere angesehen worden. So war damals die Realität.“
       
       Das ist heute anders. Vor Gericht, im Jugendamt oder bei der Polizei bringt
       man Kindern, die von sexueller Gewalt betroffen sind, mehr Sensibilität
       entgegen. In den vergangenen Jahrzehnten ist auch das Hilfesystem gewachsen
       – je früher die Taten entdeckt und geahndet werden, desto besser kann einem
       Kind geholfen werden.
       
       Die Realität heute, das sind aber auch: Mehr als 13.000 Fälle von sexuellem
       Kindesmissbrauch, die 2019 den Ermittlungsbehörden gemeldet wurden –
       durchschnittlich mehr als 35 Fälle pro Tag. Dazu mehr als 1.000 Fälle
       sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen und Jugendlichen und mehr als
       12.000 angezeigte Fälle von Abbildungen sexueller Gewalt an Kindern,
       sogenannte Kinderpornografie. Und das sind nur die bekannten Zahlen. Das
       Dunkelfeld schätzen Fachleute um ein Vielfaches größer.
       
       Angesichts der vielen Fälle ist es nur folgerichtig, dass der Gesetzgeber
       aktiv wird, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen. Dennoch gibt es
       JuristInnen, die vor dem neuen Gesetz warnen, und TherapeutInnen, die ihre
       Arbeit dadurch bedroht sehen. Selbst BetroffenenvertreterInnen äußern
       Kritik. Woher kommt dieser Widerstand gegen die Gesetzesverschärfungen,
       wenn doch die Zahlen der Polizei so alarmierend sind?
       
       Dass sexuelle Übergriffe gegen Kinder ein Massenphänomen sind, das in
       sämtlichen Gesellschaftsbereichen vorkommt, ist spätestens seit dem Jahr
       2010 bekannt. Damals erschütterten zahlreiche Fälle etwa am katholischen
       Canisius-Kolleg oder an der reformpädagogischen Odenwaldschule die
       Öffentlichkeit.
       
       ## Die Politik unter Zugzwang
       
       Die jüngste Strafrechtsverschärfung entstand auch unter dem Eindruck
       besonders drastischer Missbrauchsfälle der letzten Jahre. Auf einem
       Campingplatz im nordrhein-westfälischen [3][Lügde] wurden zwischen 2008 und
       2018 mehr als 40 Kinder von mehreren Männern missbraucht und dabei gefilmt.
       Einer der Haupttäter war der Pflegevater eines betroffenen Mädchens. 2019
       wurde in Bergisch-Gladbach das größte bisher bekannte
       Pädosexuellen-Netzwerk ausgehoben, mit mehreren Zehntausenden
       Tatverdächtigen, die Unmengen brutaler Missbrauchsabbildungen von
       Kleinkindern im Internet getauscht hatten. 2020 wurde in Münster knapp ein
       Dutzend Männer beschuldigt, schweren Missbrauch an eigenen und Stiefkindern
       begangen und die Taten gefilmt zu haben. Als Haupttatort gilt eine
       Gartenlaube, die der Mutter eines der Täter gehört.
       
       Die öffentliche Empörung über derlei Taten und der Eindruck, dass die
       Strafverfolgungsbehörden ihnen nur sehr ungenügend begegnen können, setzte
       die Politik unter Zugzwang. Etwas sollte, ja musste geschehen.
       Justizministerin Christine Lambrecht hatte sich noch nach dem Fall in
       Münster deutlich gegen Strafverschärfungen ausgesprochen, da sie den
       geltenden Strafrahmen für ausreichend hielt. Doch der konservative
       Koalitionspartner machte Druck: Besonders Nordrhein-Westfalens
       Innenminister Herbert Reul (CDU), in dessen Bundesland alle drei Skandale
       ihren Ursprung hatten, forderte ein härteres strafrechtliches Vorgehen, er
       wollte ein Signal senden, dass der Staat gegen Missbrauchstäter
       entschlossen auftritt.
       
       Lambrecht schwenkte um und arbeitete ein umfangreiches Gesetz zur
       „Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder“ aus, das im Oktober 2020
       vom Kabinett beschlossen wurde. Mit der Härte des Gesetzes gegen
       Kinderschänder, eine sichere Sache, sollte man meinen.
       
       Doch es kam anders: Bei der routinemäßigen Anhörung von Sachverständigen im
       Dezember im Bundestag zerpflückten die geladenen StrafrechtsexpertInnen den
       Gesetzentwurf gründlich: Der Begriff der „sexualisierten Gewalt“ sei nicht
       hilfreich, er verneble den Unterschied zwischen Handlungen mit und ohne
       Anwendung von körperlicher Gewalt – und relativiere so besonders brutale
       Taten. Die unterschiedslose Hochstufung zum Verbrechen sei bei
       minderschweren Fällen unverhältnismäßig – dabei sei die
       Abschreckungswirkung durch höhere Strafen nicht einmal bewiesen. Außerdem
       drohe eine Überlastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften. Sogar von
       einer „Kriminalpolitik nach den Vorgaben der Boulevardpresse“ war die Rede.
       
       So massiv war die Kritik, dass das Vorhaben seit Dezember auf Eis liegt.
       Seitdem streiten sich die Koalitionspartner darüber, die CDU will an den
       höheren Strafen festhalten, während der SPD viel an der Begriffsänderung
       liegt.
       
       Zu den Kritikern des neuen Entwurfs gehört, ausgerechnet, der Unabhängige
       Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
       „Die Reform hat viele gute Punkte, legt Ermittlern, Richtern und
       Staatsanwälten aber einige veritable Probleme auf den Tisch“, sagt
       Johannes-Wilhelm Rörig. Der Jurist begrüßt zwar, dass auch Taten wie das
       Befummeln von Geschlechtsteilen künftig ein Verbrechen sein sollen, warnt
       aber vor Unverhältnismäßigkeit. So gelte künftig auch der Zungenkuss eines
       21-Jährigen mit einer fast 14-Jährigen als Verbrechen.
       
       Für besonders problematisch hält Rörig, dass künftig alles vor Gericht
       verhandelt werden muss – die bisherige Lösung, einen geständigen
       Angeklagten in einem minderschweren Fall per Strafbefehl abzuurteilen,
       beschleunigt Verfahren und erspart dem Opfer eine Aussage vor Gericht. Bei
       Verbrechen ist der Einsatz von Strafbefehlen dagegen nicht möglich und die
       öffentliche Verhandlung zwingend. Rörig fürchtet, dass das gut gemeinte
       Gesetz gerade für die Betroffenen einen Rückschritt bringt, da ihnen nun
       lange, quälende Verfahren drohten – und Staatsanwälte unter der vermehrten
       Arbeitsbelastung wohl so manchen komplizierten Fall eher zu den Akten legen
       könnten.
       
       Gerhard Senf hat da noch eine entschiedenere Meinung. Er erklärt am Telefon
       ganz unverblümt, was er von dem Gesetzentwurf hält: „Das ist verlogener,
       populistischer Mist.“ Der 70-Jährige ist Sexualtherapeut und arbeitet in
       seiner Saarbrücker Praxis seit mehr als 30 Jahren mit Sexualstraftätern:
       Vergewaltigern, Inzesttätern, Pädophilen bis hin zu Serientätern mit
       sadistischer Gewaltneigung. Die meisten von ihnen sitzen noch im Gefängnis,
       wenn Senf zu ihnen Kontakt aufnimmt. Nach ihrer Entlassung bekommen sie bei
       ihm Psychotherapie im Rahmen ihrer Bewährungsauflagen.
       
       Schaden für die Gesellschaft und den Täter minimieren und beim Patienten
       eine moralische Entwicklung herbeiführen, so beschreibt der Therapeut, der
       sein Handwerk bei der Familienberatungsstelle pro familia gelernt hat,
       seinen Ansatz. Über viele Jahre begleitet Senf seine Patienten durch ihren
       Alltag. Senf will die Täter verstehen, er glaubt an ihre Resozialisierung.
       Und daran, dass auch Menschen, die Kinder missbrauchen, eine Würde und
       Rechte haben. Der Erfolg seines Ansatzes ist unbestritten, die
       Rückfallquote seiner Patienten liegt bei sensationellen 20 Prozent, im
       Bundesdurchschnitt werden 80 Prozent rückfällig.
       
       Doch Senf beklagt, dass seine Methode am Aussterben sei, es fehle an
       Nachwuchs. Zum einen, weil Einfühlung in die Psyche von Sexualstraftätern
       nicht gerade jeder oder jedem gegeben sei. Aber auch, weil die Arbeit immer
       mehr erschwert werde: Die therapeutische Betreuung in den Gefängnissen sei
       absolut ungenügend, es werde wenig Wert darauf gelegt. „Hauptsache im
       Knast“ beschreibt er die Einstellung vieler RichterInnen. Sexualstraftäter,
       die eigentlich eine engmaschige Betreuung bräuchten, würden schon mal im
       Maßregelvollzug „vergessen“. Ständig, so der Therapeut, müsse er sich um
       Erstattung seiner Fahrtkosten streiten und um die Finanzierung von
       Therapien, die der Staat zwar anordne, für die er aber nicht aufkomme.
       Dadurch seien er und seine Kollegen zu ehrenamtlicher Arbeit gezwungen –
       oder zur Abwälzung der Kosten auf die Krankenkassen durch eine
       zusammengeschusterte Krankheitsdiagnose.
       
       ## Im Zweifel für den Angeklagten?
       
       Besonders ärgert sich der Sexualtherapeut über die Strafverschärfungen bei
       Missbrauchsabbildungen im neuen Gesetz. Ein falsches Bild auf dem Computer
       – ein Jahr Knast? „Das ist, wie wenn Sie eine Mücke an der Wand mit einem
       Vorschlaghammer erschlagen – dann ist hinterher in der Wand ein
       Riesenloch“, schnaubt er. Fast alle Männer zwischen 14 und 80 Jahren
       guckten Pornos – und der Unterschied zwischen dem rasierten Geschlechtsteil
       einer 13-Jährigen und einer 18-Jährigen sei nicht offensichtlich.
       
       „Im Zweifel für den Angeklagten? Das gilt jetzt nicht mehr.“ Senf sieht
       eine Überflutung der Gerichte durch Bagatellfälle kommen. „Abertausende
       sogenannte Täter – und wir Therapeuten sollen dann die echten erwischen!“
       
       Während der Sexualtherapeut im Gesetzentwurf nur billige
       Law-and-rder-Symbolpolitik sieht, begrüßt Katja Ravat das deutliche Signal
       an die Täter. Die 44-jährige Strafrechtsanwältin vertritt in ihrer
       Freiburger Kanzlei seit 16 Jahren Betroffene von sexueller Gewalt – unter
       anderem den Jungen aus Staufen, der von seiner Mutter und deren
       Lebensgefährten gewerbsmäßig im Internet zur Vergewaltigung „angeboten“
       wurde. Nebenbei ist sie ehrenamtlich tätig in der Geschädigtenbetreuung des
       [4][Weißen Rings Breisgau].
       
       ## Das erzieherische Moment
       
       Ravat begrüßt die Heraufstufung zum Verbrechen. „In der Vergangenheit wurde
       der Strafrahmen oft eben nicht voll ausgeschöpft, viele Täter kamen zu
       billig davon. Wenn es künftig um Verbrechen geht, wird sich auch in der
       Justiz eine andere Sichtweise auf Missbrauchsdelikte durchsetzen“, hofft
       sie. Gerade bei Besitz und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen habe sie
       viele Bewährungsstrafen gesehen und viele Geldzahlungen – „diese führen
       aber nicht zu einer Verhaltensänderung, dieselben Täter kommen immer
       wieder“.
       
       Die Anwältin hofft auf das erzieherische Moment der Strafverschärfung; mit
       einer Verurteilung werde auch deutlich, dass der Täter sich Hilfe holen
       müsse. Das Bagatellargument hält sie für ungültig. „Ich glaube nicht an
       Ausrutscher. Jeder Täter fängt irgendwo an, besser man schreitet schon
       frühzeitig ein.“ Außerdem werde es auch nach dem neuen Gesetz die
       Möglichkeit geben, Kleinigkeiten milder zu beurteilen.
       
       Tatsächlich gibt es auch in den neuen Paragrafen 176a und 176b weiterhin
       Taten, die als Vergehen definiert werden. Wenn Kind und Täter in Alter und
       Entwicklungsstand ähnlich sind und die sexuelle Handlung einvernehmlich
       geschieht, kann von einer Strafe sogar ganz abgesehen werden. Der
       vielzitierte Zungenkuss mit einer 13-Jährigen kann also straffrei bleiben.
       
       Dass viele ihrer KollegInnen den Wegfall des Strafbefehls so schlimm
       finden, kann Katja Ravat nicht verstehen. „Von vielen Betroffenen wurde der
       Strafbefehl als lauwarme Lösung empfunden. Der Täter musste ja weder
       ausdrücklich noch öffentlich einräumen, was er getan hat. Er bekam
       lediglich Post nach Hause – und konnte seine Verurteilung so nach außen hin
       verbergen.“ Ravat glaubt, dass es den Betroffenen mehr Genugtuung bringe,
       wenn Tätern künftig die Hauptverhandlung nicht mehr erspart bleibe. Und
       Opfer müssten auch künftig nicht in jedem Fall aussagen – nur wenn der
       Täter nicht geständig sei. Allerdings, das räumt auch sie ein, werde das
       künftig wesentlich öfter passieren. In Ermangelung eines lohnenden „Deals“
       würden Anwälte den Beschuldigten eher raten zu schweigen und konfrontativer
       verhandeln, wodurch sich Verfahren erheblich in die Länge ziehen könnten.
       
       Das Problem, dass es bis zu einer Prozesseröffnung ein dreiviertel Jahr und
       mehr dauert, kennt die Rechtsanwältin aus Freiburg aber auch schon jetzt.
       Das Problem sei nicht die Gesetzesreform, betont sie, sondern der eklatante
       Mangel an RichterInnen, StaatsanwältInnen, KriminalbeamtInnen und
       ausgebildeten TherapeutInnen. Wenn Ravat etwas an den Reformplänen aus dem
       Justizministerium zu kritisieren hat, dann dies: „Härtere Strafen allein
       bringen nichts, wenn nicht zugleich der Personalmangel behoben wird.“
       Selbst wenn ein Verurteilter die klare Aufforderung verstanden hat, sich
       Hilfe zu holen, dann findet er diese mangels qualifizierter Therapiestellen
       kaum.
       
       Auch Angelika Oetken, die Bens Fall geschildert hat, sagt: „Gesetze müssen
       sich in der Praxis bewähren, deshalb muss man die Kritik der Fachleute
       hören.“ Sie habe beim Opferstärkungsgesetz von 2016 schon einmal erlebt,
       dass gute gesetzgeberische Absichten an der Realität im Gerichtssaal
       scheitern können. „Was hilft der Anspruch, die Justiz opfergerecht zu
       gestalten, wenn da überlastete BehördenmitarbeiterInnen sitzen, die in
       ihrer Ausbildung nie mit den Spezifika von Kindesmissbrauch zu tun hatten
       und sich an überholte Klischees und Arbeitsmethoden klammern?“
       
       Als Beispiel nennt Oetken, dass viele RichterInnen nach wie vor mit der
       umstrittenen „Nullhypothese“ arbeiteten. Die geht grundsätzlich davon aus,
       dass BelastungszeugInnen die Unwahrheit sagen – bis zum Beweis des
       Gegenteils, der mit den Mitteln der Aussagepsychologie aus den ZeugInnen
       herausgeholt wird. Die Anwendung der Nullhypothese ist Standard und Vorgabe
       des Bundesgerichtshofs bei Sexualdelikten. Aber es bedarf dann eben
       geschulter Richter, die die sicherlich notwendigen kritischen Fragen in
       angemessener Weise stellen können, um Retraumatisierungen bei den
       Betroffenen zu vermeiden. Oetken teilt deshalb die Forderung des Deutschen
       Juristinnenbunds nach verpflichtender Fortbildung für RichterInnen und
       StaatsanwältInnen.
       
       Aber, und jetzt wird ihre Stimme am Telefon leise, das Problem gehe ja noch
       viel tiefer, Strafrecht sei nicht alles, es sei ja gewissermaßen nur das
       Ende der Kette. „Nehmen Sie den Fall aus Staufen.“ Die Mutter und ihr
       Lebensgefährte bekamen zwar am Ende hohe Haftstrafen, ebenso mehrere
       „Kunden“ des Paars. Aber dem Jungen wären zwei Jahre brutaler sexueller
       Ausbeutung erspart geblieben, wenn das Jugendamt, das den Lebensgefährten
       der Mutter als vorbestraften Pädophilen kannte, die Gefahr für das Kind
       ernst genommen hätte. Im Idealfall wäre der Lebensgefährte bereits während
       und nach seiner ersten Haft von einem erfahrenen Therapeuten wie Gerhard
       Senf betreut worden.
       
       Der Therapeut aus Saarbrücken sagt: „Geld in Tätertherapie zu pumpen,
       bringt politisch keine Punkte. Aber wenn der Staat die Keule gegen
       Kinderschänder rausholt, dann sind alle zufrieden. Auch wenn am Ende kein
       einziger Übergriff dadurch verhindert wird.“
       
       Die Balance zwischen politischer Signalwirkung und praktischem Kinderschutz
       ist auch für die Verantwortlichen im Bundestag schwer zu finden. Damit das
       neue Gesetz in Kraft treten kann, muss man sich nun im Rechtsausschuss
       einigen. Einfach wird das nicht.
       
       20 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] http://Fonds%20Sexueller%20Missbrauch
   DIR [2] /Gewalt-gegen-Kinder/!5706395
   DIR [3] /Kinderschutz-nach-Luegde/!5733923
   DIR [4] https://freiburg-baden-wuerttemberg.weisser-ring.de/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Nina Apin
       
       ## TAGS
       
   DIR Kinderschutz
   DIR sexueller Missbrauch
   DIR Kinderpornografie
   DIR Christine Lambrecht
   DIR Bundesjustizministerium
   DIR IG
   DIR Porno
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Zeugen Jehovas
   DIR Datenschutz
   DIR sexueller Missbrauch
   DIR Katholische Kirche
   DIR sexueller Missbrauch
   DIR sexueller Missbrauch
   DIR sexueller Missbrauch
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Helmut Kentler
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Porno regulieren: Nicht zu ignorieren
       
       Eine von der Landesmedienanstalt NRW beauftragte Studie zeigt, dass
       Minderjährige oft unfreiwillig auf pornografische Inhalte im Netz stoßen.
       
   DIR Mahnmal für Opfer sexueller Gewalt: Vier Tonnen Zwietracht
       
       Ein Denkmal soll an die Verbrechen an der Odenwaldschule erinnern. Die
       Finanzierung steht, der Entwurf auch. Doch Betroffene stellen sich quer.
       
   DIR Sexualisierte Gewalt bei den Zeugen Jehovas: Kein Schutz für die Opfer
       
       Missbrauch bei den Zeugen Jehovas hat eine riesige Dimension. Aus der
       abgeschlossenen Welt der Gläubigen dringt nur wenig nach draußen.
       
   DIR Scannen von iPhones durch Apple: Alles ist durchleuchtet
       
       Apple will Fotos beim Hochladen in die Cloud künftig auf Abbildungen
       scannen, die sexualisierte Gewalt gegen Kinder zeigen. Das ruft Protest
       hervor.
       
   DIR Sexualisierte Gewalt an Schulen: Drastische Lücke beim Kinderschutz
       
       Im Kreis Lörrach konnte ein wegen Missbrauchs vorbestrafter Lehrer wieder
       an einer Schule arbeiten. Möglich wurde das durch zu lasche Regeln.
       
   DIR Maria 2.0 zu Kirche und Machtstrukturen: „Es wäre eine freundliche Kirche“
       
       Lisa Kötter von Maria 2.0 wünscht sich ein Ende des Machtmißbrauchs in der
       Katholischen Kirche. Ein Gespräch über Kardinal Woelki und das System Rom.
       
   DIR Sexueller Missbrauch: Nicht nur Gewalt
       
       Um Kinder besser vor sexuellen Übergriffen zu schützen, brauchen wir einen
       weiten Begriff von Missbrauch.
       
   DIR Gesetzentwurf der Bundesregierung: „Missbrauch“ bleibt „Missbrauch“
       
       Die Groko folgt Sachverständigen und lehnt die Bezeichnung „sexualisierte
       Gewalt gegen Kinder“ ab. Der Begriff könne ein falsches Signal senden.
       
   DIR Kinderschutz nach Lügde: Der Fehler liegt im System
       
       Der Abschlussbericht zum Missbrauchsskandal von Lügde gibt vernünftige
       Empfehlungen. Sie reichen aber nicht aus, um Behördenversagen zu
       verhindern.
       
   DIR Mein pädophiler Onkel: Bestraft und nicht geläutert
       
       Der Onkel unseres Autors ist ein verurteilter Pädophiler. Wie kann man mit
       ihm umgehen?, fragt der Autor. Und wie verhindern, dass er rückfällig wird?
       
   DIR Abschlussbericht zum Fall Kentler: Das Missbrauchs-Netzwerk
       
       Dass sich das Land Berlin sieben Jahre nach den ersten Medienberichten über
       misshandelte Pflegekinder seiner Verantwortung stellt, ist überfällig.