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       # taz.de -- Stealthing-Entscheidung aus Schleswig-Holstein: Gummi abziehen doch strafbar
       
       > Es ist eine Straftat, wenn Männer das Kondom abstreifen, ohne es
       > Sexpartner:innen zu sagen. Zuvor hatte das Kieler Amtsgericht anders
       > entschieden.
       
   IMG Bild: Mit oder ohne? Darüber muss Konsens herrschen
       
       Rendsburg taz | Miteinander schlafen – gern, aber bitte nur mit Kondom:
       Ständig treffen Paare, ob hetero oder schwul, solche Absprachen. Doch ist
       es illegal, wenn sich der Kondomträger nicht daran hält und das Gummi
       einfach abzieht? In Deutschland gab es bisher kaum Urteile zu dem Thema.
       Zuletzt hatte das Amtsgericht Kiel einen beschuldigen Mann freigesprochen.
       Nun entschied das Oberlandesgericht in Schleswig: Das heimliche Abziehen
       des Kondoms ist als Straftat anzusehen.
       
       „Ein bahnbrechendes Urteil“, sagte Kerstin Bartsch, Anwältin der
       betroffenen Frau, die als Nebenklägerin auftritt. In Revisionsprozessen
       gibt es keine Zeugenaussagen, keine Befragungen, nur nüchterne Juristerei –
       die in diesem Fall aber spannend wie ein Krimi war.
       
       Ausgangspunkt war ein Abend im März 2018, beteiligt ein Mann und eine Frau,
       die jetzige Nebenklägerin. Beide kannten sich schon eine Weile, hatten eine
       lockere Beziehung, Sex inklusive, allerdings immer mit Kondom. Auch am
       konkreten Abend waren die beiden miteinander intim, wie üblich mit Gummi.
       In einer Pause zog der Mann den Schutz ab, das gab er bei der Verhandlung
       in Kiel auch zu. Er drang erneut und nun ungeschützt in die Scheide der
       Frau ein, was sie aber erst nach dem Akt bemerkte.
       
       Der Richter des Amtsgerichts in Kiel hatte den Mann freigesprochen, mit
       einer formal-juristischen Begründung: Das Gesetz stelle nur unter Strafe,
       wenn der Akt insgesamt gegen den Willen eines Beteiligten geschehe. Das
       „Wie“ sei gesetzlich jedoch nicht geregelt [1][(taz berichtete).]
       
       ## „Gefährlicher Sex-Trend“
       
       Der Schleswiger Strafsenat sah das anders, das erklärte der Vorsitzende
       Martin Probst schon in seiner ersten Stellungnahme. Gleichzeitig machte er
       deutlich, dass es in dem konkreten Fall nicht um Stealthing, „diesem Hype
       unter US-College-Boys, den sie als Sport betreiben“, gehe.
       
       „Stealthing“ bedeutet etwa „Heimlichtuerei“ oder „List“. Laut Wikipedia ist
       der Begriff seit 2014 in der Schwulenszene bekannt, 2017 [2][schrieb der
       Boston Review ] über den „gefährlichen Sex-Trend“ bei Heteros. Wie die
       Taten rechtlich zu beurteilen sind, ist von Land zu Land unterschiedlich,
       die Bandbreite reicht von nicht strafbar bis Vergewaltigung.
       
       In Deutschland [3][entschied das Berliner Kammergericht] im Sommer 2020, es
       handele sich bei dem dort verhandelten Fall – ein Bundespolizist hatte mit
       einer Polizeianwärterin geschlafen und das Kondom heimlich abgestreift – um
       einen sexuellen Übergriff. Allerdings legte das Gericht Wert darauf, dass
       der Mann in die Scheide der Frau ejakuliert hatte.
       
       Ob der Mann einen Samenerguss hat, könne zwar für die Höhe der Strafe
       wichtig sein, aber entscheidend sei es nicht, sagte die Anwältin Kerstin
       Bartsch der taz in einer Verhandlungspause: „Für das Risiko für Krankheit
       oder Schwangerschaft reicht der nackte Penis. Es geht um den Willen der
       Frau, ihren Körper zu schützen.“
       
       Das sah auch Richter Probst so: „Es ist völlig klar, dass
       Geschlechtsverkehr mit Kondom etwas anderes ist als ohne.“ Einerseits, weil
       die Risiken größer seien, andererseits wegen der stärkeren Intimität: Mit
       dem Kondom werde „eine Barriere gezogen“. Daher sei es nicht – wie der
       Kieler Richter geurteilt hatte – ein Akt, der im Ganzen einvernehmlich war,
       sondern zwei Handlungen oder eben „Taten“: Der einvernehmliche Teil mit
       Kondom, der nicht-einvernehmliche ohne.
       
       Hat der Mann die Frau also getäuscht? Nein, nicht im juristischen Sinn,
       befand Probst: „Wir kennen die Fälle von Identitätstäuschung, die manchmal
       drollig sein können – die Frau meinte, mit dem Prominenten zu schlafen, und
       dann war’s doch nur der Barmann.“
       
       Doch in diesem Fall wusste die Frau schlicht nicht, was mit ihr geschah und
       welchem Risiko – einer Schwangerschaft, einer Krankheit – sie ausgesetzt
       war. „Bei anderen Delikten merkt das Opfer es sofort, hier wird die
       Schädigung erst später bemerkt“, sagte Kerstin Bartsch, die Anwältin der
       Nebenklägerin. „Das irritiert uns als Juristen.“
       
       ## Keine Täuschung, aber eine Straftat
       
       Doch sei auch für sie klar, dass es sich zwar nicht um eine Täuschung
       handele, aber um eine Straftat: „Der Konsens, der beschlossen wurde, wird
       gebrochen, weil durch das heimliche Abziehen des Kondoms eine andere Tat
       entsteht. Diese Möglichkeit hat nur der Träger des Kondoms. Er entscheidet
       heimlich über den Willen der Geschädigten.“
       
       Staatsanwalt Christopher Sievers schloss sich an, während Dirk Rebien,
       Verteidiger des Mannes, am Freispruch des Amtsgerichts festhalten wollte:
       „Es kommt allein auf das Einverständnis an, und dieses gab es.“ Während
       einer Handlung immer wieder neu über die Einigkeit zu verhandeln, sei
       „alles andere als lebensnah“. Stealthing sei zwar strafwürdig, aber nicht
       strafbar – hier müsse das Gesetz verändert werden. Rebien schlug vor, den
       Fall an den Bundesgerichtshof zu überweisen.
       
       Der Senat lehnte diesen Antrag ab und gab dafür der Nebenklägerin und dem
       Staatsanwalt recht.
       
       Der Frau steht nun ein zweiter Prozess in Kiel bevor. Dann wird sie
       erstmals die Chance haben, den Fall aus ihrer Sicht zu schildern – die
       erste Verhandlung hatte der Richter vor ihrer Aussage beendet. „Meine
       Mandantin ist gut vorbereitet, sie ist tapfer und will, dass
       weiterverhandelt wird“, sagt ihre Anwältin.
       
       21 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Stealthing-Urteil-des-Amtsgerichts-Kiel/!5727073
   DIR [2] http://bostonreview.net/gender-sexuality/judith-levine-stealthing-sex-crime
   DIR [3] https://www.berlin.de/gerichte/presse/pressemitteilungen-der-ordentlichen-gerichtsbarkeit/2020/pressemitteilung.975296.php
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Esther Geißlinger
       
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