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       # taz.de -- Die Wahrheit: Hitlergruß mit lädiertem Flügel
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (117): Was Spatzen mit
       > Spinoza und seiner Philosophie zu tun haben. Und mit Luftschutzbunkern.
       
   IMG Bild: Leihen sich auch gern Scooter aus: Spatzen der Großstadt
       
       Laut Spinoza steht ein Ackergaul einem Ochsen näher als einem Rennpferd,
       „weil es mit ihm eher gemeinsame Affekte hat“, wie der Philosoph Gilles
       Deleuze schreibt. Egal, was die Biologen, von Linné bis zu den
       Artbestimmern (Taxonomen) und den Genetikern dazu sagen – nämlich, dass die
       einen Pferde sind (Einhufer) und die anderen Rinder (Paarhufer). Es geht
       nicht (mehr) um die evolutionär entwickelte Physiologie oder um einige
       alberne Gene, sondern um die Fähigkeit oder Notwendigkeit der Lebewesen, zu
       affizieren und affiziert zu werden.
       
       Unser Spatz zum Beispiel: Er war aus dem Nest gefallen, und ich zog ihn
       groß. Im Sommer kam er mit aufs Land. Und dort mauserte er sich zu unserem
       interessantesten Haustier. Bei Spaziergängen flog er voraus, landete aber
       immer wieder auf der einen oder anderen Schulter und erzählte uns von da
       aus alles Mögliche. Er unterhielt sich gern mit uns.
       
       Im Haus stürzte er sich auf den Frühstückstisch, landete dabei auch mal in
       der Marmelade und musste mühsam gewaschen werden. Auch stürzte er sich gern
       auf den dösenden Dackel und zupfte ihm graue Haare aus dem Fell. Mittags
       schlief er bei meinem Vater auf der Couch, abends bei meiner Mutter, die
       sich im Schlaf weniger bewegte. Einmal schlüpfte er nachts unter den Bauch
       des Meerschweinchens, das ihm daraufhin gedankenverloren einige Flugfedern
       anknabberte. Der Spatz, den wir Benjamin nannten, konnte danach eine ganze
       Weile nur noch schlecht fliegen, er blieb aber fröhlich und
       unternehmungslustig und begleitete uns einfach zu Fuß auf unseren
       Spaziergängen.
       
       Monatelang erzählten wir anderen Leuten nur noch Geschichten, in denen er
       die Hauptrolle spielte. Und er dachte sich fast täglich neue Geschichten
       aus, die uns begeisterten, auch wenn sie aus seiner Sicht vielleicht
       schiefgingen. Schon bald war er unser beliebtestes Familienmitglied. Wenn
       einer von uns nach Hause kam, war die erste Frage: „Wo ist Benjamin?“ Wir
       kamen zu der Überzeugung, dass er sich als Mensch begriff; Vögel, auch
       Spatzen, interessierten ihn nicht, und der Größenunterschied zwischen sich
       und uns schien ihm nichts auszumachen.
       
       ## Clare und Clarence
       
       Noch klarer wird das Affizieren und Affiziert-Werden bei dem Spatz
       Clarence, der zwölf Jahre mit der Musikerin und Hobby-Ornithologin Clare
       Kipps zusammen lebte. Ihr Buch darüber heißt „Clarence, der Wunderspatz“
       (1956). Die Autorin, die allein in London lebte, entwickelte ein besonders
       enges Verhältnis zu Clarence, ihrem Spatz, der in den Kriegsjahren, da
       Clare Kipps im Luftschutz eingesetzt war, in ganz England berühmt wurde,
       weil er die im Luftschutzbunker sich Versammelnden unterhielt.
       
       Es gibt einen [1][Wikipedia-Eintrag] dazu: „Neben einigen anderen Tricks
       war die Luftschutzkellernummer sehr beliebt: Clarence rannte auf den Ruf
       ‚Fliegeralarm!‘ hin in einen Bunker, den Mrs. Kipps mit ihren Händen
       bildete, und verharrte dort reglos, bis man ‚Entwarnung!‘ rief.
       
       Noch beliebter waren seine Hitlerreden: Er stellte sich auf eine
       Konservendose, hob den rechten, durch ein Jugendunglück leicht lädierten
       Flügel zum Hitlergruß und begann zunächst leise zu tschilpen. Er steigerte
       dann seine Lautstärke und Furiosität bis zu einem heftigen Gezeter, verlor
       dann scheinbar den Halt, ließ sich von der Dose fallen und mimte eine
       Ohnmacht.
       
       ## Symbolspatz
       
       Clarence wurde zu einer Symbolfigur der von Hitlers Luftangriffen geplagten
       Londoner und ihres Durchhaltewillens. Er wurde in Presseberichten gefeiert,
       und sein Bild zierte Postkarten, die zu Gunsten des Britischen Roten
       Kreuzes verkauft wurden.“
       
       Für die deutsche Ausgabe von Clare Kipps Buch schrieb der Biologe Adolf
       Portmann ein Nachwort: „Vom Wunderspatzen zum Spatzenwunder“ betitelt.
       Darin versuchte er vorsichtig einige Verallgemeinerungen aus Clare Kipps
       Aufzeichnungen zu ziehen. Clarence konnte singen, wobei er von der Autorin
       am Klavier begleitet wurde: „Es mag im Spatzen ein sehr vages allgemeines
       Erbschema eines Liedes vorhanden sein, das in der Spatzenwelt normal gar
       nicht ausreift, das aber in neuer Umwelt sich entwickelt. Das würde uns
       zeigen, wie wenig ‚frei‘ die normale Entwicklung in einer Gruppe ist, wie
       viele Möglichkeiten eine gegebene Sozialwelt erstickt … Der Gesang des
       trefflichen Clarence mahnt an schwere Probleme alles sozialen Lebens.“
       
       Clare Kipps schrieb über ihren Spatz: „Er nahm mir nie etwas übel und
       betrachtete mich von klein auf als seine Erretterin aus jeder Schwierigkeit
       und Klemme.“ Clarence schlief im Bett der Autorin, an ihren Hals
       geschmiegt. Einmal wollte eine Freundin von ihr im Bett mit übernachten:
       „Clarence lief das Kissen auf und ab, schalt und drohte und griff
       schließlich meine Freundin so wütend an, dass sie als Eindringling
       gezwungen war, aufzustehen …“
       
       ## Eine kleine Terz
       
       Über seinen Gesang notierte sie: „Der erste Teil oder die Einleitung
       [seines Gesangs] war ein Ausdruck des Vergnügens, der guten Laune und
       alltäglichen Lebensfreude, während der zweite Teil, das eigentliche Lied,
       ein Verströmen reinen Entzückens war. Beide Teile waren gewöhnlich in
       F-Dur, aber der zweite Teil variierte an Tonhöhe um so viel wie eine kleine
       Terz, ja nach der Tonstärke.“
       
       Über seine Luftschutzbunker-Nummern: „Wenn er es satt hatte [das Publikum
       im Luftschutzbunker mit Tricks zu unterhalten], nahm er eine Patiencekarte
       in den Schnabel und drehte sie darin zehn- oder zwölfmal herum. Das war
       glaube ich sein Lieblingstrick, denn er hatte ihn selbst erfunden und
       vergnügte sich noch jahrelang damit … Leider begann er im Frühjahr 1941 des
       Lebens in der Öffentlichkeit mit all seinem Glanze überdrüssig zu werden …“
       
       Für Kipps war es „eine sehr wichtige Grundlage unseres Zusammenlebens, dass
       wir viele Stunden friedlicher Betrachtung in Stille zusammen genießen
       konnten. Ich liebe weder Geräusche noch zu viel Musik. Sein Charakter war –
       abgesehen von seinem wilden Temperament und der Eifersucht – ohne Makel. Es
       lag nichts Zerstörerisches in seinem Wesen, und nie war er gierig. Ich
       glaube jedoch nicht, dass er Sinn für Humor hatte.“
       
       Im Kapitel über sein letztes Lebensjahr heißt es: „Das stolze Gebaren, das
       wählerische Verhalten und der tyrannische Eigensinn waren verschwunden … Er
       erwies sich als sehr weise – es fiel mir immer schwerer, ihn als einen
       gewöhnlichen Vogel zu betrachten.“
       
       Während Benjamin für uns ein wunderbarer Spatz blieb, wurde Clarence bei
       der Witwe zu etwas anderem: „Dass seine Intelligenz überragend war, glaube
       ich nicht. Ich bin klügeren Vögeln begegnet. Was ihn so interessant und
       reizend machte, war die Fähigkeit, durch das Medium der ungewöhnlichen
       Umgebung seine Vogelnatur in einer Sprache auszudrücken, die ein
       menschlicher Verstand begreifen und an der er teilhaben konnte. Und darin
       war er vielleicht einzigartig.“
       
       22 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Clarence_(Spatz)
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
       ## TAGS
       
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