URI: 
       # taz.de -- Kopftuch und Berliner Neutralitätsgesetz: Symbol eines Kulturkampfes
       
       > Berlins Schulsenatorin Scheeres hört auf. Bis dahin nutzt sie ihre Zeit
       > noch zum Kampf gegen das Kopftuch in den Klassen.
       
   IMG Bild: Instrumentalisiert von vielen: Muslimische Frauen im Verhandlungssaal des Berliner Arbeitsgerichts
       
       Es könnte das letzte Gefecht von Berlins glückloser [1][Schulsenatorin
       Sandra Scheeres (SPD)] sein. Zahlreiche Versäumnisse, von der schleppenden
       Sanierung maroder Schulen über den erbärmlichen Stand der Digitalisierung
       bis zum planlosen Agieren in der Coronapandemie, werden ihr angelastet.
       Bereits im August 2020 hat sie angekündigt, dass sie sich nach den Wahlen
       im kommenden September aus der Landespolitik zurückziehen wird.
       
       Doch jetzt will Scheeres noch eine grundsätzliche Klärung in einer Frage
       herbeiführen, die seit vielen Jahren für erbitterte Auseinandersetzungen
       quer durch die Republik sorgt. Scheeres hat das Bundesverfassungsgericht
       angerufen, um die Verfassungskonformität des Berliner Neutralitätsgesetzes
       prüfen zu lassen. Dieses sieht unter anderem vor, dass Lehrkräfte an
       öffentlichen Schulen während des Dienstes keine „auffallenden religiös oder
       weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen“ dürfen.
       
       Seit Jahren beschäftigen dieses und andere Landesgesetze die Justiz, die
       anhand von Einzelfällen den schmalen Grat zwischen Religionsfreiheit,
       staatlichem Neutralitätsgebot und möglicher Diskriminierung ausloten muss.
       Zuletzt bekam eine muslimische Lehramtsbewerberin, der in Berlin die
       Einstellung verweigert wurde, da sie auf ihr Kopftuch im Unterricht
       bestand, vom [2][Bundesarbeitsgericht eine Entschädigung wegen erlittener
       Diskriminierung] zugesprochen.
       
       Eine verfassungsrechtliche Klärung ist also unausweichlich, kann aber die
       breite gesellschaftliche Debatte nicht ersetzen. Und die ist in vollem
       Gange, wobei sich sehr skurrile Allianzen gebildet haben. Im Lager der
       Befürworter einer strikten weltanschaulichen Neutralität bei der Ausübung
       hoheitlicher Tätigkeiten finden sich neben humanistischen Organisationen,
       Frauengruppen, säkularen Muslimen und einigen Lehrer- und Juristenverbänden
       auch große Teile der SPD und der CDU.
       
       ## Skurille Allianzen
       
       Aber auch Rassisten und Islamhasser, die das Ganze gerne auf ein
       „Kopftuchverbot“ fokussieren würden. Auf der anderen Seite stehen neben
       muslimischen Verbänden bis hin zu militanten Islamisten auch große Teile
       der Grünen und der Linken, die das Ideal einer toleranten, weltoffenen
       Gesellschaft hochhalten, in der es keinerlei Einschränkungen der
       Glaubensfreiheit geben dürfe und jeder Anschein vermieden werden müsse,
       dass etwa Muslime diskriminiert werden.
       
       Bis hin zu sich als links verstehenden Ultralibertären, die dem Staat
       jegliche Legitimation absprechen, verbindliche Regeln in solchen Bereichen
       zu erlassen. In der rot-rot-grünen Koalition in Berlin hat dies bereits
       mehrmals zu heftigem Krach geführt, da Grüne und Linke das Gesetz am
       liebsten abschaffen würden, die SPD aber dagegen hält – und dabei auch von
       in Arbeitsgemeinschaften organisierten säkularen Linken und Grünen
       unterstützt wird.
       
       Man kann davon ausgehen, dass das Thema im kommenden Berliner Wahlkampf
       zwar keine entscheidende, aber doch eine wichtige Rolle spielen wird. In
       den wortmächtigen medialen Auseinandersetzungen über dieses Thema kommt
       eine Gruppe allerdings kaum zu Wort – die Betroffenen.
       
       Es sind längst keine Einzelfälle mehr, dass gerade muslimische Mädchen von
       Mitschülern und/oder Eltern massiv dazu gedrängt werden, ein Kopftuch zu
       tragen, als Symbol der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Weltanschauung und
       in Abgrenzung zu den „Ungläubigen“. Lehrerinnen mit Kopftuch würden diesen
       Druck natürlich weiter befeuern.
       
       Das Argument der Religionsfreiheit zieht nicht, denn viele
       Islamwissenschaftler und mit ihnen auch säkulare Muslime verweisen mit
       Nachdruck darauf, dass es sich bei den Bekleidungsvorschriften keinesfalls
       um religiöse Gebote handelt. Das Kopftuch ist für beide Seiten zum Symbol
       eines Kulturkampfes geworden. Den darf man auch ausfechten, aber doch nicht
       in Schulen und anderen hoheitlichen Bereichen, wie etwas der Polizei oder
       Justiz.
       
       Wie sehr gerade junge Musliminnen in diesem Kulturkampf instrumentalisiert
       werden, zeigt eine Erklärung der bildungspolitischen Sprecherin der Linken
       in der Hamburger Bürgerschaft. Sabine Boeddinghaus verteidigte das Recht
       auf Vollverschleierung von Schülerinnen „selbst bei Zweifeln an der
       Freiwilligkeit des Tragens“. Ausschlaggebend müsse sein, „dass ein Verbot
       absolut kontraproduktiv ist, da man jeglichen Gesprächsfaden abreißen
       lässt“.
       
       ## Musliminnen werden instrumentalisiert
       
       Man fragt sich, wo denn die Grenzen wären. Müssten bei dieser Argumentation
       nicht auch Zwangsehen als Teil der religiösen Vielfalt akzeptiert werden?
       Andere Vertreterinnen dieser Partei bezeichnen Neutralitätsgesetze als
       „antimuslimischen Rassismus“ und beklagen [3][„Berufsverbote für
       Musliminnen“] in Teilen des öffentlichen Dienstes. Auf gesetzlichem Weg ist
       dieser Konflikt nicht mehr zu lösen.
       
       In mehreren Bundesländern wurden entsprechende Verordnungen bereits ganz
       oder teilweise gekippt, in Einzelfällen jedoch auch bestätigt. Das
       Bundesverfassungsgericht muss Politik und Justiz jetzt Leitplanken
       vorgeben. Das Spannungsverhältnis zwischen Religionsfreiheit und dem
       Neutralitätsgebot des Staates – beides im Grundgesetz geschützte Güter –
       wird sich damit nicht auflösen lassen.
       
       Aber in Karlsruhe kann geklärt werden, inwieweit der Staat das Recht hat
       oder gar dazu verpflichtet ist, sowohl Kinder als auch Erwachsene vor mit
       hoheitlichen Aufgaben betrauten Personen zu schützen, die auch bei der
       Dienstausübung nicht auf ein aggressives Symbol einer Frauen verachtenden
       und in großen Teilen totalitären Weltanschauung verzichten wollen.
       
       Schulsenatorin Scheeres hat kurz vor dem Ende ihrer landespolitischen
       Karriere nichts mehr zu verlieren. Ihr beharrliches Festhalten am
       Neutralitätsgesetz und der Gang nach Karlsruhe verdienen dennoch
       Anerkennung und Respekt. Säkulare Grundprinzipien müssen entschieden
       verteidigt werden, bevor es dafür zu spät ist. Hoffentlich sieht man das
       auch in Karlsruhe so.
       
       22 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Senatorin-Scheeres-SPD-geht-2021/!5704295
   DIR [2] /Kopftuch-Streit-vor-Gericht/!5710379
   DIR [3] /Kopftuch-Urteil-des-Verfassungsgerichts/!5667752
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rainer Balcerowiak
       
       ## TAGS
       
   DIR Religion
   DIR Kopftuch
   DIR Verfassungsgericht
   DIR Schule
   DIR Bildung
   DIR Muslima
   DIR Kopftuchverbot
   DIR Neutralitätsgesetz
   DIR Kopftuch
   DIR Neutralitätsgesetz
   DIR Neutralitätsgesetz
   DIR Schwerpunkt Rassismus
   DIR Bildung
   DIR Homeschooling
   DIR Islamismus
   DIR Kopftuch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Berliner Neutralitätsgesetz: „Niemand ist ganz neutral“
       
       Das Kopftuchverbot im Staatsdienst wackelt. Unverständlich, dass die SPD
       daran festhält, sagt die Grünen-Politikerin Tuba Bozkurt.
       
   DIR Schüler*innen gegen Neutralitätsgesetz: Moratorium gefordert
       
       Damit sie ihre Lehrerin mit Kopftuch zurückbekommen, haben
       Grundschüler*innen aus Kreuzberg eine Petition gestartet.
       
   DIR Protest gegen Neutralitätsgesetz: „Muss nicht um Religion streiten“
       
       Eine Grundschulklasse aus Kreuzberg protestiert gegen das
       Neutralitätsgesetz. Denn das habe ihnen ihre „wundervolle Lehrerin“
       genommen.
       
   DIR Wochen gegen Rassismus: „Klare Kante zeigen“
       
       Es gibt inzwischen eine ausgeprägte Form von antimuslimischem Rassismus,
       sagt Berlins Justizsenator. Dagegen will er gezielt vorgehen.
       
   DIR Schulöffnungen in Berlin: Präsenz mit Selbsttest
       
       Trotz steigender Infektionszahlen geht es für die Berliner Oberstufen
       wieder in die Schule. Dabei helfen sollen regelmäßige Selbsttests.
       
   DIR Geflüchtete und Homeschooling: Am falschen Ende gespart
       
       Der Senat will benachteiligte Kinder beim Homeschooling unterstützen. Dazu
       bräuchte es als erstes Internet in allen Flüchtlingsheimen.
       
   DIR Kopftuch an Schulen: Alles bleibt ruhig
       
       Befürworter*innen des Kopftuchverbots sagen, das Tuch gefährde den
       „Schulfrieden“. Stimmt das? Zu Besuch in einer Bremer Schule.
       
   DIR Debatte ums Kopftuch im Staatsdienst: Kampf um die Köpfe
       
       Lehrerinnen dürfen nun auch in Berlin religiöse Symbole tragen. Darin, dass
       Religion öffentlich gelebt wird, steckt auch eine Chance.