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       # taz.de -- Eskalation bei „Querdenken“ in Kassel: Der Kontrollverlust
       
       > Die Ereignisse in Kassel am Samstag waren absehbar. Dass die Polizei
       > nicht richtig eingriff, zeigt, wie mächtig die radikalisierte Bewegung
       > wird.
       
   IMG Bild: Staatlicher Kontrollverlust: nicht angemeldeter Demonstrationszug am Samstag in Kassel
       
       Am Wochenende war es wieder so weit. Rund 20.000 selbsternannte
       „Querdenker“ marschierten in Kassel durch die Innenstadt. Ohne Masken,
       tanzend, feiernd, rufend, inklusive NS- und Diktaturvergleiche,
       antisemitischer Plakate und verschwörungsideologischer Parolen. Fotos der
       Demonstration erinnern an Wimmelbilder. Es ist eine Vereinnahmung des
       öffentlichen Raums inmitten der dritten Pandemiewelle. Ohne Masken, ohne
       Abstand, ohne Hygieneregeln.
       
       Es ist schwer, für die Melange an vermeintlich Bürgerlichen,
       Verschwörungsideolog:innen, Hippies, Esoteriker:innen, extremen
       Rechten und Impfgegner:innen einen einheitlichen Begriff zu finden. Was
       sie eint: der Glaube, dass Corona nicht gefährlich sei, der Hass auf die
       Politik und die Bereitschaft, tausendfache Ansteckung zu riskieren.
       
       Erlaubt war die Versammlung in dieser Form nicht. Nur 6.000 Teilnehmende
       für eine stationäre Kundgebung waren genehmigt – mehr als dreimal so viele
       breiteten sich schließlich in der gesamten Stadt aus. Und die Polizei?
       Schaute zu, stand daneben, ließ gewähren, sprach an manchen Stellen sogar
       Sympathie aus. Ein Video zeigt, wie eine [1][Polizistin mit ihren Händen
       ein Herz Richtung einer Impfgegnerin bildet].
       
       Auf der anderen Seite der Gegenprotest, mit Maske, mit Fahrrädern, um die
       Wahrung der Demokratie und den Schutz vor dem Virus bemüht. Sie versuchen,
       die „Querdenken“-Demo aufzuhalten, die Polizei räumt die Blockade,
       „Querdenken“ applaudiert. Ein anderes Video zeigt einen Beamten der Polizei
       Thüringen, wie er einem Gegendemonstranten mit voller Wucht auf den Kopf
       und ihn damit in Richtung des Rades schlägt. Kurze Zeit später wird ein
       anderer gewalttätig über die Straße gezerrt.
       
       ## Hatten wir das nicht schon? Ja, das hatten wir
       
       Die Polizei sagt im Nachhinein, man sei mit dem deeskalierenden Konzept
       ohne Konfrontation und Zwangsmaßnahmen „eigentlich ganz gut gefahren“.
       Schließlich seien die Teilnehmenden überwiegend aus dem bürgerlichen Lager
       gewesen. Von den Demonstrantenzahlen hingegen sei man überrascht worden.
       Der hessische CDU-Innenminister Peter Beuth kündigt eine Überprüfung des
       Polizeieinsatzes an, die SPD-Oppositionspolitikerin und
       Fraktionsvorsitzende Nancy Faeser spricht von „großem Versagen“.
       
       Man könnte meinen, all das wäre ein Déjà-vu, ein Murmeltiermoment. Hatten
       wir das nicht schon? Ja, das hatten wir. Erst im November bezeichnete die
       taz die „Querdenken“-Demonstration in Leipzig als [2][„Eskalation mit
       Ansage“.] Schon damals fragten wir, wieso die Polizei es nicht schaffte,
       eine illegale Demonstration zu unterbinden.
       
       Falls es eine Steigerungsform von „Man hätte das wissen müssen“ gibt – die
       Ereignisse in Kassel sind der Inbegriff dessen. Wir kennen die Bilder aus
       Leipzig. Wir wissen, dass „Querdenker“ sich nicht um Infektionsgefahr
       scheren, wir wissen um ihr Gewaltpotenzial, wir wissen um die massive
       Mobilisierungskraft dieser Bewegung. Es war zu erwarten, dass sich das
       wiederholt – und deshalb hätte der Staat es verhindern müssen. Aber er hat
       die Kontrolle verloren.
       
       Man kann die Verantwortung dafür nun einzelnen Behörden zuschieben. Die
       Gewerkschaft der Polizei sagt, die Gerichte hätten schon im Vorfeld die
       Veranstaltung anders bewerten müssen. Ein Polizist veröffentlicht auf dem
       Blog [3][„Grundgesetz Ultras“] einen Brief, in dem er schreibt, Führung und
       Einsatzleitung hätten bis ins Ministerium taktisch versagt.
       
       ## Zu Hilflosigkeit darf es nicht kommen
       
       Tatsächlich gibt es auch ein Video, auf dem einige wenige Beamte hilflos
       versuchen, „Querdenker“ aufzuhalten, ihnen mit der Faust ins Gesicht
       schlagen. Auch das darf aber so nicht passieren. Denn die rohe Gewalt als
       Reaktion auf eine aus den Fugen geratene Lage ist eine
       Überforderungshandlung – und nicht etwa die kontrollierte Umsetzung von
       Auflagen oder gar Regulierung des Protests durch die Polizei.
       
       Die Ereignisse in Kassel zeigen erneut, dass „Querdenken“ die gefährliche
       Radikalisierung einer Protestbewegung ist, die vor dem Schulterschluss mit
       Rechten keinen Halt macht. Wenn wir an Bilder wie den Sturm auf das
       US-Kapitol denken, müssen wir sehen: Auch hier gibt es eine Bewegung, die
       immer mächtiger wird, während der Staat zunehmend machtlos zusieht.
       
       22 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://twitter.com/bodoramelow/status/1373529896429969416
   DIR [2] /Querdenken-Demo-in-Leipzig/!5726826
   DIR [3] https://www.ggultras.de/k2003-frust-auch-bei-der-polizei/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sarah Ulrich
       
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