URI: 
       # taz.de -- Verreisen an Ostern: Warum ist das so wichtig?
       
       > Die Leute sind verrückt nach dem Reisen. Ich kann das nicht verstehen.
       > Liegt es daran, dass das Leben gerade ein bisschen beschissener ist als
       > sonst?
       
   IMG Bild: Endlich mal raus: Urlauber am Flughafen von Palma de Mallorca am 21. März
       
       Was wird mit Ostern? Das ist die große Frage, die im Moment täglich und
       überall gestellt wird. Tja, was soll denn nun mit Ostern werden? Kann es
       stattfinden oder wird es ausfallen? Was werden „sie“ uns an Ostern
       überhaupt erlauben? Und je länger ich darüber nachdenke, um so absurder
       scheinen mir diese Sätze zu sein. Welchen Stellenwert haben diese Dinge?
       Warum ist die Frage, was mit Ostern wird, so wichtig, dass sie als dicke
       Überschriften in den Zeitungen auftaucht? Was ist denn dieses Ostern
       überhaupt? Und warum soll es nicht stattfinden können, wenn wir nicht nach
       XYZ reisen können?
       
       Wenn ich in meine Kindheit zurückgehe, dann kann ich mich nicht erinnern,
       dass wir jemals irgendwo hinfuhren. Wenn unsere Eltern Urlaub hatten,
       mauerten sie einen neuen Schweinestall, setzten einen neuen Zaun oder
       tapezierten gemeinsam das Wohnzimmer. Wenn die großen Ferien begannen, dann
       wussten wir, dass wir acht Wochen lang würden tun können, was wir wollten,
       aber verreisen würden wir nicht.
       
       Das war auch deshalb nicht schlimm, weil wir nichts anderes erwarteten und
       weil die meisten anderen Kinder unseres Dorfes auch zu Hause blieben. Ich
       unterhielt mich am Samstag mit meiner Freundin, die aus einem Dorf in
       Ostwestfalen stammt, und sie hat genau das Gleiche erzählt. Auch ihre
       Eltern sind nicht verreist, auch sie hatten einen Hof, als Zwölfjährige ist
       sie mit Verwandten das erste Mal an der Ostsee gewesen. Natürlich lebten
       wir auf dem Lande, und für Städter mögen sich solche Ferien zu Hause anders
       angefühlt haben.
       
       Ostern begann für uns der Frühling. An Ostern grillte unser Vater das erste
       Mal, egal, wie kalt es war, in dicker Joppe stand er über seine Würste
       gebeugt und wir hockten, in Decken gewickelt, auf der Hollywoodschaukel,
       die er selbst zusammengeschweißt hatte, während unsere Mutter Plastikeier
       an den Forsythienstrauch hängte und das Kaninchen in den Ofen schob, das
       unser Vater mit Tränen in den Augen geschlachtet hatte.
       
       Das ist, was ich mit Ostern verbinde. Aber Reisen? Warum ist das jetzt so
       wichtig geworden? Warum gibt es deshalb so viel Ärger? Hängt das mit dieser
       „Freiheit“ zusammen? Freiheit ist ja ein großes Thema, besonders jetzt, in
       der Pandemie. Die Freiheit wird verteidigt, die Freiheit wird vermisst, die
       Freiheit sei bedroht, die Freiheit einkaufen zu gehen, sich mit Freunden zu
       treffen und natürlich besonders die Freiheit, verreisen zu können.
       
       Die Leute sind ganz verrückt nach dem Verreisen. Unbedingt wollen sie
       irgendwo anders hinfahren können. Mal andere Luft schnuppern, was anderes
       sehen, den Alltag hinter sich lassen, etc. „Sie müssen ja nicht verreisen,
       Frau Seddig, wenn es Ihnen nichts bringt“, höre ich sie reden, „aber ich …
       (verschiedene Argumente, alle sehr einleuchtend)“.
       
       Ja, das verstehe ich doch, aber ich verstehe es trotzdem nicht, nicht in
       der Tiefe, nicht die Wichtigkeit dieses Themas. Als ich diese Kolumne
       schreibe, gibt es sehr viel Ärger darüber, dass man jetzt nach Mallorca
       fliegen, aber nicht an der Nordsee urlauben darf. Tja, das ist blöd und
       ungerecht und die Nerven liegen sowieso blank.
       
       Die meisten Leute, die ich kenne, verreisen ganz gern mal. Ich selbst
       verreise auch ganz gern mal. Ich gehe gerne wandern. Ich verreise, um mit
       meiner Familie wandern zu gehen. Es erholt mich. Aber haben wir uns in
       unserer Kindheit nicht erholt, weil wir nicht verreist sind? Hatten wir
       keine Ferien, hatten wir kein Ostern, weil wir immer zu Hause blieben? War
       unser Leben armselig? War das Leben unserer Eltern armselig? Haben wir
       etwas verpasst? Verpasse ich jetzt etwas? Und was ist es, was ich, was wir,
       verpassen, wenn wir Ostern nicht irgendwohin fahren können? Und warum ist
       es so wichtig, warum emotionalisiert es die Menschen so sehr?
       
       „Ich muss mal raus“, sagt mir eine andere Freundin am Telefon. „Ich muss
       endlich mal raus!“ Ist es das, die Flucht, raus aus dem eigenen Leben?
       Sehnen wir uns danach, unser Leben zu verlassen? Und ist diese Sehnsucht
       jetzt besonders stark, weil das Leben im Moment ein bisschen beschissener
       als sonst ist?
       
       24 Mar 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Katrin Seddig
       
       ## TAGS
       
   DIR Fremd und befremdlich
   DIR Ostern
   DIR Reisen
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Lockdown
   DIR Mallorca
   DIR Mallorca
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Urlaub auf Malle
       
       Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte
       Leserschaft an einem Poem über pandemische Ferien erfreuen.
       
   DIR Shutdown über Ostern: So läuft der Hase
       
       Bund und Länder haben beschlossen, das öffentliche Leben über Ostern
       drastisch zurückzufahren. Die taz erklärt, was es nun zu beachten gilt.
       
   DIR Corona-Beschlüsse für die Ostertage: Augen zu und durch den Lockdown
       
       Die neuen Corona-Maßnahmen suggerieren eine Entschlossenheit, die den
       Ministerpräsident:innen der Länder fehlt. Die Beschlüsse sind
       dürftig.