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       # taz.de -- Sozialdrama „Oleg“: Ein Außenseiter im Eis
       
       > Überlebenskampf im Kapitalismus: Der Spielfilm „Oleg“ erzählt mit
       > nüchterner Distanz vom Abgleiten eines Menschen.
       
   IMG Bild: Oleg gespielt von Valentin Novopolskij
       
       [1][Oleg (Valentin Novopolskij)] ist ein Alien. Rund 1.500 Kilometer
       Luftlinie sind es von Lettland nach Belgien, doch dazwischen liegen Welten.
       In seiner Heimat sieht der junge Mann keine Zukunft für sich, er hat
       Schulden, die er kaum abbezahlen kann, und so macht er sich auf den Weg
       nach Westeuropa, in der Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben.
       
       In Brüssel, dem multikulturellen Herzen der EU, malocht er in einem
       Schlachthof, Schweine und Rinder zerteilen, ein Knochenjob. Der karge Lohn
       wird am Ende der Woche in braunen Papierumschlägen bar ausgezahlt.
       Ausbeutung in der globalen Marktwirtschaft. Er ist ein Fremder, kann die
       Sprache nicht, versteht auch viele der anderen, meist polnischen Arbeiter
       kaum. Als er in gebrochenem Englisch sagt, er habe einen „Alien-Passport“,
       lachen die anderen.
       
       Er ist ein Geduldeter, allenfalls, seine Aufenthaltserlaubnis ist an das
       bestehende Arbeitsverhältnis gekoppelt. Und das bleibt ihm nicht lange. Als
       sich ein Schlachterkollege an der elektrischen Fleischsäge den Finger
       abschneidet, beschuldigt er Oleg, ihn geschubst zu haben, der deswegen
       gefeuert wird.
       
       In seiner Verzweiflung nimmt Oleg leichtgläubig das Hilfsangebot von
       Andrzej (Dawid Ogrodnik) und dessen Lebenspartnerin Malgosia (Anna
       Próchniak) an, ihm nicht nur einen neuen Job zu besorgen, sondern auch
       gleich einen polnischen EU-Ausweis und einen Schlafplatz in ihrem
       Gemeinschaftshaus mit anderen Migranten.
       
       ## Unbezahlte Leiharbeit
       
       Oleg lässt sich einlullen, arbeitet bald in Andrzejs Auftrag als
       Dachdecker, doch mit der Entlohnung wird er hingehalten. Und warum wohnt
       auch der Typ, der ihn schuldlos verpfiffen hatte, in der Unterkunft?
       
       Als Oleg schließlich begreift, dass er mit Andrzej an einen skrupellosen
       Leiharbeitskriminellen geraten ist, packt er seine Sachen und haut ab. Doch
       auf einen wie ihn hat niemand gewartet und auf Hilfe und Solidarität kann
       er nicht hoffen, weder bei wohlhabenden Belgiern und schon gar nicht unter
       anderen Migranten. Oleg muss sich allein durchschlagen, ein Außenseiter in
       einer feindlichen Welt.
       
       Dass es nicht gut gehen wird, künden schon die ersten alptraumhaften Bilder
       zu Beginn des Films an, in denen er in einer einsamen Eislandschaft leblos
       auf dem Boden liegt und sich an die Geschichte vom heiligen Lamm erinnert,
       die ihm seine Großmutter erzählte und die ihm Angst machte, weil er darin
       sein eigenes Schicksal sah.
       
       Er öffnet die Augen, weil ein dumpfes Knacken unter der Schneedecke zu
       hören ist. Er versucht zu fliehen, bricht im Eis ein und wird vom Wasser
       verschluckt. Das biblische Motiv taucht später wieder auf, wenn Oleg nach
       einer weiteren Abfuhr frustriert durch die winterliche Genter Altstadt
       läuft und schließlich in der Kathedrale vor dem berühmten Altargemälde der
       flämischen Gebrüder van Eyck steht, das die Anbetung des blutenden Lamm
       Gottes zeigt, das sich den Schmerz nicht anmerken lässt.
       
       ## Sklaverei im 21. Jahrhundert
       
       Der über Lautsprecher ertönende Audioguide wirkt für Oleg wie ein Kommentar
       auf seine eigene desolate Situation, die zugleich symptomatisch ist für
       Millionen Migranten in Europa, die sich in dieser Gig Economy von Job zu
       Job hangeln, unterbezahlt und überarbeitet. Sklaverei im 21. Jahrhundert.
       
       Der lettische Filmemacher Juris Kursietis inszeniert Olegs Geschichte im
       4:3-Format und findet so zwingende Bilder für die Enge und die
       Verhältnisse, denen er ausgeliefert ist. Die Kamera rückt dabei immer
       wieder sehr nah, verstärkt in ihrer steten Unruhe das Fahrige und Nervöse
       in Olegs prekärer Lage. Etliche Szenen sind improvisiert, was ihnen etwas
       Raues, fast Dokumentarisches, jedenfalls nicht perfekt Inszeniertes
       verleiht.
       
       Das Sujet erinnert nicht von ungefähr an die Sozialdramen des [2][Briten
       Ken Loach („Sorry We Missed You“)] und wegen des Schauplatzes vielleicht
       noch mehr an [3][Belgiens Regie-Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne]
       („Das Versprechen“), weil sich Kursietis in seinem zweiten Spielfilm, der
       auf wahren Begebenheiten basiert, auf die Stärken seiner Geschichte
       verlässt und diese geradezu klassisch erzählt. In seiner bitteren
       Konsequenz gibt es auch Parallelen zu Rainer Werner Fassbinders
       Ausbeutungsstudie „Faustrecht der Freiheit“.
       
       ## Aufsehen bei Filmfestspielen in Cannes
       
       2019 sorgte „Oleg“ in der Cannes-Nebensektion Quinzaine des Réalisateurs
       für Aufsehen und fügt sich nun in seiner etwas sperrigen Ästhetik gut ins
       kuratierte Portfolio des Arthouse-Streamingdienstes Mubi. Was ihn jedoch
       von seinen großen Vorbildern abhebt, ist die nüchterne Distanz, mit der er
       vom Abgleiten eines Menschen erzählt, der am Überlebenskampf in
       kapitalistischen Strukturen zu zerbrechen droht.
       
       Der Film gibt sich kaum Mühe, seinen Protagonisten als Sympathieträger zu
       zeichnen: Es fällt schwer, Verständnis für seine passive, oft unbeholfene
       Art aufzubringen und sich mit ihm zu identifizieren. Doch gerade dadurch
       schärft sich der unvoreingenommene Blick auf das soziale Ungleichgewicht
       inmitten einer Gesellschaft, die auf dem ökonomischen Ausschluss vieler
       fußt.
       
       25 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=SCvhEforAJU
   DIR [2] /Ken-Loachs-Film-Sorry-We-Missed-You/!5657039
   DIR [3] /Filmfestival-Cannes-Tag-8/!5597278
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Abeltshauser
       
       ## TAGS
       
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