URI: 
       # taz.de -- Leben und Sterben mit Corona: Das Lachen meines Vaters
       
       > Schon vor Corona war klar, dass arme Menschen kürzer leben als
       > wohlhabende. Das hat auch damit zu tun, was man seinem Körper abverlangen
       > muss.
       
   IMG Bild: Wie kann ein Mensch darüber lachen, dass er mit einem tödlichen Virus infiziert worden ist?
       
       Der Tod ist universell. Aber Menschen gehen unterschiedlich mit der Angst
       vor ihm um. Während die einen ihr Leben an die Angst anpassen können,
       tendieren andere dazu, sie zu verdrängen.
       
       Als kürzlich die Frage aufkam, ob besonders viele Menschen mit
       Migrationshintergrund coronabedingt auf Intensivstationen behandelt würden,
       habe ich erst geschluckt. Denn die Bild berichtete über eine
       [1][vermeintliche Aussage des RKI-Chefs Lothar Wieler]. Es wäre nicht das
       erste Mal, dass Corona zum Problem vermeintlich Fremder erklärt wird, siehe
       [2][Iduna-Zentrum in Göttingen.]
       
       Auf den zweiten Blick schien mir die Aussage als nicht so unwahrscheinlich.
       Eine [3][Umfrage der Zeit zeigt,] dass in manchen Krankenhäusern
       tatsächlich auffällig viele Menschen mit Migrationshintergrund behandelt
       werden.
       
       Und das lässt mich an meinen Vater denken. Der rief mich im Sommer an,
       lachte, sagte, er sei mit dem Coronavirus infiziert, und lachte wieder.
       Baba, warum lachst du? Es sei schon alles gut, er habe keine Symptome, er
       würde das schon überstehen, antwortete er. Ich verstand es nicht. Wie kann
       ein Mensch darüber lachen, dass er mit einem tödlichen Virus infiziert
       worden ist?
       
       ## Frage der Einstellung
       
       Schon vor Corona war klar, dass sich die Lebenserwartung zwischen der
       niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe bei [4][Frauen um 4,4 Jahre und
       bei Männern um 8,6 Jahre] unterscheidet. Die Gefahr, sich mit dem
       Coronavirus zu infizieren, steigt mit entsprechend prekären Wohn- und
       Arbeitsverhältnissen. Mit dem Wissen, dass viele ältere Menschen mit
       Migrationsgeschichte als Arbeiter:innen in dieses Land kamen, möchte
       ich eine Hypothese wagen:
       
       Die Infektionsgefahr könnte auch eine Frage der Einstellung gegenüber der
       eigenen Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit sein. Wer sein ganzes
       Leben unter gesundheitsgefährdendem Körpereinsatz schuften muss, der geht
       möglicherweise anders mit der Angst vor dem Coronavirus um, weil ihm seine
       Arbeit einen anderen Umgang mit seinem Körper abverlangt hat als anderen.
       
       In einer [5][Studie über proletarische Migrantinnen] ab 50 Jahren, die 2004
       für das Familienministerium erstellt worden ist, heißt es, manche der
       Befragten seien ernsthaften Erkrankungen mit „optimistischer
       Lebenseinstellung“ und „Kampfgeist“ begegnet, andere mit einem „gewissen
       Stoizismus“, mit dem sie „das Leben so akzeptieren, wie es kommt“.
       Erkrankungen würden teils „quasi schicksalhaft hingenommen“.
       
       Vielleicht ist das Lachen meines Vaters, das mich gerade im Kontrast zu der
       Angst in meinem gegenwärtigen Umfeld verstörte, auch darauf zurückzuführen.
       Während die einen früh lernen, sich um ihren Körper zu sorgen, müssen
       andere diese Sorge wegschieben – weil sie sonst gar nicht so leben könnten,
       wie sie müssen. Als ich seinem Lachen besorgt widersprach, antwortete mein
       Vater: „Was soll mir denn schon passieren?“
       
       26 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /RKI-Chef-Wieler-zu-Corona-und-Migration/!5756163
   DIR [2] /Corona-Ausbruch-in-Goettingen/!5686582
   DIR [3] https://www.zeit.de/2021/12/corona-patienten-migrationshintergrund-intensivstationen-soziale-ungleichheit
   DIR [4] https://www.rki.de/DE/Content/Service/Presse/Pressemitteilungen/2019/03_2019.html
   DIR [5] https://www.bmfsfj.de/resource/blob/84626/3e41710822ddfbaee15ac98b9fc5eca5/aeltere-migrantinnen-lang-data.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Volkan Ağar
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Postprolet
   DIR Klassismus
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Kolumne Postprolet
   DIR Kolumne Postprolet
   DIR Schwerpunkt Coronavirus
   DIR Schwerpunkt Korruption
   DIR Kolumne Postprolet
   DIR Bundeszentrale für politische Bildung
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Abschied und Klasse: Danke für fünf Jahre Postprolet
       
       Trennungen gehören zum Lebensweg eines Postproleten. Abschiede hat unser
       Autor trotzdem vermieden. Diesmal will er es besser machen.
       
   DIR Psychische Gesundheit und Klasse: Die Depressionen der Anderen
       
       Auch reiche Menschen werden psychisch krank. Das Leiden der Seele verbindet
       über Klassengrenzen hinweg. Erst im Umgang offenbaren sich Privilegien.
       
   DIR Corona und Risikokonsum in Tübingen: Homo palmericus
       
       Tübingens OB Boris Palmer prahlt mit seiner Corona-Modellstadt. Doch dort
       zeigt sich lediglich sein rechtsliberales Menschenbild.
       
   DIR Dobrindt zu Korruption in der Union: Systematischer Realitätsverlust
       
       CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt kritisiert die korruptionsbedingte
       Kritik an der Union. Damit offenbart er sein verzerrtes Bild der Realität.
       
   DIR Schutzmasken-Affäre der Union: Die Moral der Geschichte
       
       Bundestagsabgeordnete bereichern sich an der Coronakrise und werfen damit
       die Moral über Board. Doch hilft die uns überhaupt weiter?
       
   DIR Bundeszentrale für politische Bildung: Unabhängigkeit bedroht
       
       Auf Bitten des Bundesinnenministeriums änderte die bpb einen Teaser im
       Linksextremismus-Dossier. Der taz liegt nun der Wortlaut dieser „Bitte“
       vor.