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       # taz.de -- Antislawischer Rassismus in Deutschland: Täter, Opfer, Twitterer
       
       > Auch weiße Menschen werden hierzulande Opfer von Rassismus – die aus
       > Osteuropa. Doch gibt es Platz für sie im aktuellen antirassistischen
       > Diskurs?
       
   IMG Bild: Gedenken an die Opfer im Kampf gegen den deutschen Vernichtungskrieg in Berlin 2015
       
       Antirassistische Proteste und Debatten, unter anderem zur [1][kolonialen
       Vergangenheit Deutschlands], erleben einen Aufschwung. Das ist gut und
       wichtig. Aufarbeitung findet statt, wenn auch langsam. Es gibt aber eine
       entscheidende Leerstelle in diesem antirassistischen Diskurs: die
       Auseinandersetzung mit antiosteuropäischem und antislawischem Rassismus.
       
       Dass seit 1945 versäumt wurde, die Verbrechen der Nationalsozialisten, und
       allen voran der Wehrmacht in Osteuropa lückenlos aufzuarbeiten, aber auch
       eine historische Kontinuität von antislawischem Rassismus aufzuzeigen,
       zeigt sich in heutigen Rassismusdiskussionen.
       
       Es gibt sie, die lange Tradition von antislawischem und antiosteuropäischem
       Rassismus in Deutschland. [2][Das sagt Jannis Panagiotidis],
       Migrationsforscher und Leiter des [3][Recet-Zentrums für
       Transformationsgeschichte an der Universität Wien]. Die aktuelle Debatte
       zur Frage, ob weiße Menschen Rassismus in Deutschland erleben könnten, hält
       er für unterkomplex.
       
       Menschen aus Osteuropa erleben Rassismus, nicht weil sie weiß sind, sondern
       trotzdem. Die Täterperspektive sei dabei entscheidend, sagt Panagiotidis.
       
       ## Kein schwarz-weiß binäres Schema
       
       Das Problem sei, dass oft so getan werde, als sei Rassismus ein
       ausschließlich schwarz-weiß binäres Schema, sagt er. Dabei basierte
       Rassismus besonders in Europa nie ausschließlich auf der Unterscheidung
       nach Hautfarben. Die sogenannte „Rassentheorie“, wie es sie im 19. und in
       der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab, hat die Menschheit nicht nur in
       Weiße und Schwarze unterteilt, sagt Panagiotidis. Sondern in „zivilisierte“
       Westeuropäer:innen und „barbarische, rückständige“ Menschen im Osten.
       Seinen Höhepunkt fand diese Kategorisierung später unter den
       Nationalsozialisten, die von „slawischen Untermenschen“ sprachen. Auch das
       antisemitische Bild der „Ostjuden“ hängt historisch damit zusammen.
       
       Seit der Aufklärung ist Osteuropa aus westlicher Sicht ein Ort der
       Rückständigkeit. Wo zuvor die gedankliche Grenze noch zwischen Nord und Süd
       verlief, zwischen dem „gebildeten Süden“ und dem „barbarischen Norden“,
       verschob sich das ab der Aufklärung: Bald blickte „der Westen“, der sich
       als zivilisiert verstand, auf den „rückständigen Osten“.
       
       Im deutschen Kontext hat dieser ausgeprägte Antislawismus eine besondere
       „ungute Tradition“, sagt [4][Hans-Christian Petersen. Er lehrt am Institut
       für Geschichte der Universität Oldenburg], unter anderem mit Schwerpunkt
       auf die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. „Seit dem 18. Jahrhundert
       findet man in den Quellen immer wieder die Vorstellung von sogenannten
       ‚deutschen Kulturträgern‘, die das Licht der Kultur in den ‚dunklen Osten‘
       bringen würden“, sagt er. Reisebeschreibungen seien das vorrangig, die
       davon erzählten, „wie unzivilisiert und rückständig alles sei“, dort im
       Osten. Ein kolonialistischer Blick auf den Osten lasse sich darin durchaus
       erkennen. Es greift also zu kurz, den deutschen Kolonialismus
       ausschließlich auf die Jahre zwischen 1884 und dem Ende der Ersten
       Weltkriegs zu begrenzen.
       
       Diese deutsche Tradition findet ihren Ausdruck in dem Begriff des
       „deutschen Ostens“. Der wird damals als ein zur freien Verfügung stehender
       Raum imaginiert, ein „im Grunde kulturell leerer Raum, den man komplett neu
       aufbauen und mit der eigenen Kultur und Höherwertigkeit füllen könnte“,
       sagt Petersen. Seinen negativen Höhepunkt findet das später unter den
       Nationalsozialisten [5][und dem im kollektiven Wissen kaum verankerten
       „Generalplan Ost“].
       
       ## Hitlers verbrecherischer Plan
       
       Mit dem Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion träumte Hitler 1941 vom
       Idealbild des „Ostraums“, der bis zum Ural als deutsches Siedlungs- und
       Versorgungsgebiet in Besitz genommen werden sollte. Hitlers
       verbrecherischer Plan war es, fünf Millionen Deutsche im annektierten Polen
       und im Westen der Sowjetunion anzusiedeln. 31 Millionen Menschen sollten
       insgesamt deportiert oder ermordet werden. 14 Millionen „Fremdvölkische“
       sollten Arbeitssklaven werden. Das Leben der slawischen und jüdischen
       Bevölkerung auf diesen Gebieten war bedroht durch Hunger, Ausbeutung,
       Deportation und Tod. Einzig der Verlauf des Krieges hat dem mörderischen
       Plan ein Ende gesetzt. Antislawischer Rassismus war im deutschen Kontext
       genozidal, sagt Migrationsforscher Panagiotidis.
       
       Bis in die Nullerjahre hinein tauchten die NS-Verbrechen in Osteuropa im
       kollektiven deutschen Gedächtnis allerdings nur am Rande auf. Das änderte
       sich zum Teil mit der zweiten Wehrmachtsausstellung ab dem Jahr 2001, mit
       dem Beginn der Zwangsarbeiter:innendebatte und der Gründung der
       Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft im Jahr 2000 sowie dem
       Beginn der Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen
       aus Osteuropa.
       
       In den vergangenen zwanzig Jahren lief die Aufarbeitung der
       nationalsozialistischen Verbrechen im Osten Europas gesellschaftlich
       dennoch schleppend. In der Wissenschaft finden sich hingegen umfassende
       Werke und Untersuchungen dazu. Verwunderlich also, dass es dieses Wissen
       kaum in den antirassistischen Diskurs geschafft hat.
       
       ## Angst vor Opferkonkurrenz
       
       Unwissen allein wäre ein Zustand, den man ändern könnte. Leider gesellt
       sich bei manchen Antirassist:innen auch ein Unwille dazu, Geschichte
       und Betroffenheit von Osteuropäer:innen anzuerkennen. Als gäbe es eine
       Angst vor Opferkonkurrenz oder einfach keinen Platz für diese Menschen im
       antirassistischen Diskurs.
       
       Im vergangenen November regte sich [6][der Journalist Hasnain Kazim] auf
       Twitter darüber auf, wer im Zusammenhang mit der US-Präsidentschaftswahl
       als USA-Experte eingeladen werde. „Das ist wie mit der
       Helmut-Kohl-Regierung, wen die alles als ‚Russlanddeutschen‘ sah – da
       reichte auch der Besitz eines deutschen Schäferhunds vor 200 Jahren“,
       schrieb er. [7][Sein Tweet löste Kritik aus.] Das ignorierte Kazim
       zunächst, löschte seinen Tweet aber.
       
       Kazim, der selbst immer wieder Opfer von rechten Hassnachrichten und
       Rassismus wird, trat also verbal gegen Menschen, die Ähnliches erlebten.
       Überrascht das? Nicht wirklich. Kazim offenbarte nicht nur, dass er
       unsensibel gegenüber der Geschichte der Russlanddeutschen war, er bediente
       sich auch einer plumpen Parole, die schon vor über zwanzig Jahren unter
       Rechten beliebt war.
       
       Nach Tagen der Stille [8][entschuldigte sich Kazim auf Facebook]. Wobei er
       auch da erneut bewies, in seiner Auseinandersetzung mit dem Thema nicht
       weitergekommen zu sein. Er sprach von Russlanddeutschen als Einwanderern,
       die wegen ihres „deutschen Bluts“ eingebürgert worden wären, während
       nichtweiße Migrant:innen, die schon länger in Deutschland lebten, höhere
       Hürden überwinden mussten, wie beispielsweise Kazims Familie.
       
       ## Gewalt gegen postsowjetische Migranten
       
       Tatsächlich wurden Russlanddeutsche nie wegen ihres „deutschen Bluts“
       eingebürgert. Grundlage war vielmehr die erlebte Vertreibung und
       Deportation während des Zweiten Weltkriegs. Nachweisen mussten
       Russlanddeutsche ihre „deutsche Volkszugehörigkeit“, also eine ethnische
       Zugehörigkeit. Von vielen Deutschen wurden sie aber pauschal als „Russen“
       angesehen.
       
       Kaum bekannt sind [9][die postsowjetischen Migrant:innen, die Opfer
       rassistischer Gewalt wurden]. Wahrscheinlich weil man sie schwer
       kategorisieren konnte. Waren sie nicht zu weiß, um Rassismus zu erleben?
       Migrationsforscher Panagiotidis schreibt in seinem aktuellen Buch
       „Postsowjetische Migration in Deutschland“ darüber.
       
       Am 4. Mai 2002 attackierten Jugendliche den Aussiedler Kajrat Batesov und
       seinen Freund Maxim K. vor einer Disko und beschimpften sie als
       „Scheißrusse“. Batesov starb am 23. Mai 2002 an seinen Verletzungen. Ein
       „fremdenfeindliches Tatmotiv“ wollte das Gericht damals nicht erkennen.
       
       In Heidenheim erstach ein Rechtsextremist am 19. Dezember 2003 Viktor
       Filimonov, Waldemar Ackert und Aleksander Schleicher, alle drei junge
       Spätaussiedler. In diesem Fall sah das Gericht ebenfalls keinen
       rassistischen Hintergrund.
       
       Dass sich unter den Tätern rassistischer Gewalt auch postsowjetische
       Migranten finden, gehöre „zu den Paradoxien der deutschen
       Mehrheitsgesellschaft“, schreibt Panagiotidis.
       
       Der Russlanddeutsche Alex W. [10][erstach am 1. Juli 2009 die im dritten
       Monat schwangere Ägypterin Marwa El-Sherbini] in einem Dresdner Gericht.
       Das rassistische Tatmotiv war hier eindeutig.
       
       Was illustriert das?
       
       Wohl dass die Grenzen zwischen Tätern und Opfern nicht immer so eindeutig
       verlaufen wie manche es gerne hätten. Die Realität ist eben komplexer als
       bislang noch oft im antirassistischen Diskurs dargestellt.
       
       30 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Wissenschaftler-zu-postsowjetischer-Migration/!5733742
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