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       # taz.de -- Betroffenheit nach rassistischen Morden: Atlanta und verbundene Seelen
       
       > Wieviel Gemeinsamkeiten benötigt Betroffenheit? Das fragt sich unsere
       > Kolumnistin nach der Ermordung sechs asiatischer Frauen in Atlanta.
       
   IMG Bild: Demo in Berlin gegen anti-asiatischen Rassismus und Gedenken der Opfer des Anschlags von Atlanta
       
       Du stehst im Ballettunterricht vor einem riesigen Spiegel und betrachtest
       dich und die anderen Mädchen. Ihr tragt die gleichen Anzüge in Schwarz und
       Rosa, ihr macht synchrone Bewegungen, plié, du schaust in den Spiegel, aber
       findest, dass du nicht so recht ins Bild passt.
       
       Du löffelst Vanilleeis mit Johannisbeeren und dein Onkel nennt dich beim
       Namen deiner Mutter. Deine Mutter trägt Kleider in Konfektionsgröße 34 und
       du fragst dich, ob dein Körper zu viel Platz einnimmt.
       
       Du sitzt auf einer Bank zwischen deinen Eltern, von gegenüber mustern dich
       zwei Damen, die nach Douglas riechen. Sie finden, [1][dass du ein süßer
       Mischling bist und ganz besonders aussiehst], dass du niemandem ähnelst.
       Auf einem heiligen Berg wollen Tantchen mit Schirmmützen ein Foto von dir
       machen, sie halten deine Mutter für deine Übersetzerin. Sie finden, dass du
       ein hübsches Mischblut bist.
       
       Du suchst nach dir, aber ziehst in eine Stadt, in der es sich gut
       verschwinden lässt. Du wohnst in einer Nachbarschaft, wo die meisten
       Menschen deine Augenfarbe haben und wirst in Sprachen angesprochen, die du
       nicht verstehst. Du schreibst Texte über das Leben und andere sagen, es
       wären Texte über Minderheiten. Du wirst nach Zerrissenheit gefragt, aber
       willst über Dehnbarkeit sprechen. Du schaust schlechte Serien, wenn die
       Hauptdarstellerin ungefähr so aussieht wie du. Du lächelst, wenn du Kinder
       siehst, neben denen du früher als Schwester durchgegangen wärst.
       
       ## Das Wort Betroffenheitsporno
       
       Du lernst Leute kennen, sie raten Türkei, Kasachstan, Hawaii, Griechenland,
       Korea. Du nickst immer. Du irritierst die anderen und dabei irritierst du
       auch dich selbst. Du triffst einen Mann und er sagt, wie reizvoll es ist,
       dass man nicht sagen kann, was genau du bist. Als er reizvoll sagt, sieht
       er hungrig aus.
       
       [2][Am 16. März 2021 werden in] Atlanta sechs asiatische Frauen in
       Massagesalons von einem weißen Mann erschossen. Der Mann spricht von
       Versuchung und Sexsucht. Ein Polizist sagt, der Mann habe einen schlechten
       Tag gehabt. Du wartest auf die Namen der Toten, du ertrinkst im Internet.
       Du relativierst deine Betroffenheit, du hast nicht genug mit den Frauen
       gemeinsam, um auseinanderfallen zu dürfen. Wie viel genau wäre denn genug?
       Du denkst an die Unterschiede, aber fühlst die Gemeinsamkeiten. Du siehst
       das Foto einer Ermordeten und denkst an deine Mutter.
       
       Du willst sortieren, du setzt an, scheiterst, wartest. [3][Du denkst an das
       Wort Betroffenheitsporno.] Du findest, dass du dein Inneres nicht nach
       außen kehren musst, aber dass du sprechen darfst und weglassen, ohne alles
       in mundgerechte Häppchen zu teilen. Du weißt nicht, ob es sich lohnt, über
       diese Dinge zu schreiben.
       
       Du betrachtest dich im Spiegel und erinnerst dich, dass du gleichzeitig bei
       dir selbst bleiben und dich mit anderen überschneiden kannst. Du siehst
       dich nur selten in anderen Körpern, aber sehr oft in anderen Seelen. Und du
       stellst fest, wie schön das ist, zwischen allem anderen.
       
       30 Mar 2021
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Lin Hierse
       
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