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       # taz.de -- Le Pen, AfD und Verfassungsschutz: Von Frankreich lernen?
       
       > In unserem Nachbarland hat sich der Rechtsextremismus verfestigt. Medien
       > und Politik haben ihn zu lange banalisiert.
       
   IMG Bild: Darf sich über die populistische Kritik an Präsident Macron freuen: Marine Le Pen im März 2021
       
       Heute werden Demokratien nicht mehr durch Staatsstreiche gestürzt, sondern
       durch politische Parteien und Führer, die die Prinzipien von Freiheit und
       Toleranz ausnutzen, um demokratische Verfassungen von innen heraus zu
       sabotieren. Eine Taktik, die die (nord-)amerikanische Demokratie fast das
       Leben gekostet und Länder wie Ungarn und Venezuela in die Autokratie
       gestürzt hat.
       
       Diese Lehre hatte der deutsche Verfassungsschutz womöglich im Hinterkopf,
       als er entschied, die [1][AfD als „Verdachtsfall“] einzustufen und mit
       nachrichtendienstlichen Mitteln beobachten zu lassen. Auch wenn diese
       Maßnahme inzwischen von dem [2][Kölner Verwaltungsgericht] ausgesetzt
       wurde, zeigt sie, wie entschlossen in Deutschland Institutionen der
       Demokratie gegen Extremismus mobilisieren.
       
       Und man könnte sagen: Nicht ohne Erfolg, wie die Niederlagen der AfD bei
       den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz verdeutlichen.
       Diese sind auf interne Konflikte zurückzuführen, die wiederum mit dem
       gesellschaftlichen Druck verbunden sind.
       
       ## Marine le Pen ist „normal“
       
       Diejenigen, die die Mittel kritisieren, die dabei angewendet werden, können
       sich gerne die Ergebnisse des rechtsextremistischen Rassemblement National
       in Frankreich anschauen. Angeführt von Marine Le Pen, hat er es inzwischen
       geschafft, in den Augen vieler Franzosen als „normale Partei“ zu
       erscheinen.
       
       Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 könnte laut einer Umfrage des Instituts
       Harris derzeit Marine Le Pen im zweiten Wahlgang gegen Emmanuel Macron mit
       47 Prozent der Stimmen rechnen, 13 Prozentpunkte mehr als 2017. Und 30
       Prozent mehr als ihr Vater Jean-Marie Le Pen 2002 als
       Präsidentschaftskandidat gegen Lionel Jospin erreichte.
       
       Damals schaffte es die rechtsextremistische Partei erstmals in die zweite
       Runde der Präsidentschaftswahlen. Viele Franzosen gingen auf die Straße und
       protestierten. Im Jahr 2017 blieb eine solche Protestwelle aus. Seit ihrer
       Wahl zur Chefin 2011 hat Marine Le Pen, das Image der Partei, das schwer
       durch die hasserfüllten Auftritte ihres Vaters belastet war, „entteufelt“
       („dédiaboliser“).
       
       ## Offizielle Abkehr von Rassismus
       
       Offiziell erfolgte eine Abkehr von Rassismus und Antisemitismus sowie die
       vordergründige Hinwendung zu republikanischen Werten. Doch hinter den
       rhetorischen Verschönerungen hat sich das Programm inhaltlich kaum
       geändert. Und es gibt immer wieder Vorfälle, die zeigen, dass die
       rechtsextreme Substanz der Partei im Kern intakt geblieben ist.
       
       Nicht nur haben viele Politiker und Medien in Frankreich aufgrund eines
       mangelnden Konsenses und fehlender Voraussicht es versäumt, gegen den
       Rassemblement National zu mobilisieren. Sie haben dessen Erfolg auch mit
       befeuert, indem sie selbst populistisches Gedankengut verbreitet haben.
       
       Ein zentraler Mitspieler dieser Entwicklung ist CNews, eine Art
       französische Fox News. Es ist ein Infokanal, der die Ideen der extremen
       Rechten und der Identitären breit streut und mehrheitsfähig macht. Das
       geschieht insbesondere durch inszenierte Debatten in Talkshows. Die
       Spielregeln lauten hier etwa so: Je provokanter und hasserfüllter die An-
       und Übergriffe, desto besser.
       
       ## Verharmlosung des Vichy-Regimes
       
       Der Starkolumnist ist der Islam-, Frauen- und LGBT-feindliche Éric Zemmour.
       Wegen rassistischer Äußerungen wurde er mehrfach von französischen
       Gerichten verurteilt. Zudem verharmlost er die Haltung des Vichy-Regimes
       während des Zweiten Weltkriegs gegenüber der jüdischen Bevölkerung und
       äußert sich offen antisemitisch.
       
       CNews hat derzeit zwar nur eine Zuschauerquote von 1,8 Prozent. Aber der
       Einfluss reicht weit darüber hinaus. Andere Nachrichtensender wie BFM und
       LCI haben sich den abgründigen Ton ihres Konkurrenten schon längst zu eigen
       gemacht. Hier geht es nicht mehr um den Austausch von Argumenten, es zählt
       einzig die Kontroverse und deren Heftigkeit.
       
       Man scheut auch nicht mehr davor zurück, die Meister in dieser Disziplin
       einzuladen: Rechtsextremisten. [3][Doch auch die populistischen
       Sprücheklopfer der linksextremistischen Partei France Insoumise] von
       [4][Jean-Luc Mélenchon] sind herzlich willkommen. Mit ihrem dauernden
       Hunger nach Skandal und Streit üben die Infokanäle Druck auf
       Politiker:innen aus. Sie beeinflussen die Themensetzung und die
       Tonlage.
       
       Die Mitläufer dieses Verfalls der politischen Diskussion sind zahllos. Zu
       nennen sind Politiker und sogar Minister, die sich der populistischen
       Rhetorik bedienen. Aber auch karrieregeile Journalisten, die ohne Rücksicht
       auf Verluste die Einschaltquoten hochtreiben. Egomanische Persönlichkeiten,
       die nach jeder Form der medialen Sichtbarkeit fiebern. Und die Millionen
       von Zuschauer:innen, die diesen ethischen und moralischen Bankrott der
       demokratischen Öffentlichkeit legitimieren.
       
       ## Dämonisierung des konservativen Lagers
       
       Und da sind auch diejenigen, die links sind, dem rationalen Diskurs aber
       stark schaden, so sie das konservative Lager dämonisieren oder Präsident
       Emmanuel Macron mit einem Diktator gleichstellen. Mit dem Ergebnis, dass
       viele Linke drohen, sich bei den Wahlen 2022 zu enthalten, anstatt im
       zweiten Wahlgang wie zuletzt für Macron gegen Marine Le Pen zu stimmen.
       Dies würde bedeuten, dass die „republikanische Front“, die die
       Rechtsextremisten dreißig Jahre lang von der Macht fernhielt, 2022
       Geschichte ist.
       
       Bis jetzt widersteht man in Deutschland noch solchen antidemokratischen
       Angriffen. Aber wie lange noch? Die Bundesrepublik sollte von Frankreich
       lernen. Denn über die Institutionen hinweg hängt die Stabilität der
       demokratischen Ordnung auch von der Akzeptanz ungeschriebener Gesetze ab.
       Zu diesen gehören: unnötige Polarisierungen und vereinfachende Zuspitzungen
       vermeiden, stattdessen besser argumentieren.
       
       Und die Meinungsfreiheit und die politische Legitimität des Gegners
       respektieren – jedoch zwischen Meinung und Wissen unterscheiden und zu
       antidemokratischen Kräften klare Grenzen ziehen.
       
       28 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Géraldine Schwarz
       
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