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       # taz.de -- Fragwürdige Abschiebepraxis: Berliner Schandtaten
       
       > Berlin lässt abgelehnte Asylbewerber von Delegationen aus vermuteten
       > Herkunftsländern „begutachten“. Auch Abdul A. droht deshalb die
       > Abschiebung.
       
   IMG Bild: Polizeirazzia im Görlitzer Park Anfang März 2021
       
       Abdul A. war zwölf Jahre alt, als er zusehen musste, wie sein Vater
       erschossen wurde. So erzählt es der heute 19-Jährige, der eigentlich anders
       heißt. Mit der taz sprach er über seine Fluchtgeschichte – und darüber, wie
       er Ende Februar von Berliner Polizisten in einem Mannschaftswagen
       zusammengeschlagen worden sei. Anschließend sei er vor eine Delegation aus
       Guinea gezerrt worden, die seine Herkunft bestätigen und so seine
       Abschiebung ermöglichen sollte.
       
       Abdul besitzt, wie viele Asylsuchende, keine Identitätspapiere. Die Gründe
       hierfür sind vielfältig: Einige Asylsuchende haben nie welche besessen,
       manche ihre Papiere auf der Flucht verloren, andere haben sie aus Angst vor
       Abschiebungen vernichtet. Für die europäischen Zielstaaten ist das ein
       Problem, denn in einer Welt voller Grenzen und Behörden gibt es ohne
       Papiere auch keine Abschiebungen. So begann die Bundesrepublik Deutschland
       damit, Delegationen aus Herkunftsstaaten einzuladen, damit diese
       abgelehnten Asylsuchenden Passersatzpapiere ausstellen – womit die
       Abschiebung der Geflüchteten ermöglicht wird.
       
       Eine solche Delegation aus Guinea befand sich vom 22. Februar bis zum 5.
       März in Berlin, wie ein Sprecher der Senatsinnenverwaltung der taz
       bestätigte. Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte zuvor auf einem
       Pressetermin im Görlitzer Park geprahlt, in 15 von 22 Fällen seien bereits
       „Dealer“ identifiziert worden. Die [1][taz berichtete]. [2][Die
       Springerpresse auch], unter dem Titel „Görli-Dealer zurück nach
       Westafrika!“ Nach diesem Auftritt warfen Gruppen wie die Initiative
       Schwarzer Menschen in Deutschland Geisel Rassismus vor.
       
       Die Delegationsvorführungen werden seit Langem kritisiert. Der [3][Freitag]
       berichtete schon 2016 von Falschidentifizierungen. Der damalige Artikel
       zitiert ein Bremer Gericht, das kritisierte, dass Papiere wohl auch auf
       Basis von Kopf- und Körperformen ausgestellt würden. Ein Sprecher der
       Innenverwaltung erklärte auf taz-Nachfrage, derartige Praktiken gebe es in
       Berlin nicht. Dagegen fragt Aissatou Cherif Balde von der Initiative Guinée
       Solidaire: „Wie sollen die Delegationen sonst entscheiden, wenn die
       Begutachteten sich weigern zu sprechen? Und selbst wenn sie reden: Die
       Grenzen in Afrika sind fiktiv, von europäischen Kolonialherren mit dem
       Lineal gezogen. Das Ganze ist Wahnsinn.“
       
       ## „Neokoloniale Abhängigkeiten“
       
       Laut Balde haben afrikanische Regierung häufig keine andere Wahl, als mit
       den europäischen Staaten zu kooperieren. Sie seien „in die neokolonialen
       Abhängigkeiten des globalen Kapitalismus eingebunden“. Wie aus [4][Anfragen
       der Linksfraktion] im Bundestag hervorgeht, werden die Tätigkeiten der
       Delegationsmitglieder zudem durch finanzielle Aufwendungen versüßt:
       So erhielt etwa die guineische Delegation 2020 Tagesgelder von 100 Euro pro
       Person – neben insgesamt über 20.000 Euro für Unterkunft, Verpflegung,
       Anreise, Dolmetscher:innen und „sonstige Kosten“. Delegierte anderer
       westafrikanischer Länder lassen sich pro ausgestelltem Passpapier – also
       pro Abschiebung – bezahlen.
       
       Auch Abdul A. soll nun nach Guinea zurück, obwohl er, wie er sagt, über
       keinerlei Beziehungen mehr dorthin verfügt. Der 19-Jährige erzählt seine
       Fluchtgeschichte langsam und leise. Seit Jahren wird er wegen
       Posttraumatischer Belastungsstörung und seiner schweren Depression
       psychotherapeutisch behandelt. Nach dem Tod seines Vaters sei plötzlich
       alles vorbei gewesen, erzählt er: seine Schule, sein Leben, seine Zukunft.
       Er habe sich deshalb mit seinem Freund Mahmoud, selbst kaum älter als der
       damals 12-jährige Abdul, aufgemacht. „Wir haben niemandem Tschüss gesagt“,
       erinnert er sich.
       
       Die Jungen verdienten ihr Geld auf Baustellen und mit Putzen von Autos. Ein
       Jahr brauchten sie, um das Mittelmeer zu erreichen. Doch nach Europa
       schafften sie es nicht gemeinsam – Mahmoud überlebt die Überfahrt nicht.
       Sein völlig überladenes Plastikboot legt einen Abend vor Abduls ab. Es
       kentert, fast alle Passagiere ertrinken. Auch Mahmoud.
       
       Abdul A. hingegen überlebt. Sein Boot wird von einer militärischen
       Patrouille abgefangen, vermutlich Frontex. Die Soldaten bringen die
       Schutzsuchenden zurück zur nordafrikanischen Küste, nach Melilla, einer
       noch aus Kolonialzeiten entstammenden spanischen Enklave auf marokkanischem
       Gebiet. Drei weitere Monate muss A. in einem Auffanglager ausharren.
       
       ## In Berlin geht es A. zunächst besser
       
       Doch auch in Europa endet die Tortur nicht: In der überfüllten spanischen
       Unterkunft gibt es keine Schule, keine Arbeit, kein Leben. Also macht sich
       der nun 13-Jährige erneut los in Richtung Norden. An Polizisten und Grenzen
       vorbei kämpft er sich bis nach Hamburg. Hier bringt ihn eine Frau zur
       Arbeiterwohlfahrt, wo der Junge seinen Asylantrag stellt. Die Behörde
       verteilt ihn daraufhin in ein kleines Dorf in Mecklenburg-Vorpommern.
       
       Doch als einziges Kind mit dunkler Hautfarbe ist das Leben dort nicht
       leicht. Abdul wird gemobbt, auf der Straße ruft man ihm das N-Wort
       hinterher. Einmal wird er in der Schule attackiert. Seine Deutschlehrerin
       setzt sich für ihn ein, ohne Erfolg, die Tat bleibt folgenlos. Als er 15
       Jahre alt ist, wird sein Asylantrag abgelehnt. Eine Begründung, so sagt A.,
       sei ihm nie mitgeteilt worden. Schließlich verprügeln ihn drei Männer am
       helllichten Tag auf einem Basketballplatz so sehr, dass sie seine Schulter
       permanent beschädigen.
       
       Die Welt will Abdul A. also auch in Mecklenburg nicht leben lassen. Er
       flieht erneut, diesmal nach Berlin. Hier werden die Dinge etwas besser. Ein
       Mann aus Gambia bringt A. in seine Wohnung. Er verbringt viel Zeit im
       Krankenhaus wegen der Schulter. Hier lernt Abdul auch seine spätere
       Freundin kennen, eine Berlinerin. Abdul belegt Deutschkurse, inzwischen
       spricht er fast fließend Deutsch.
       
       Die Gegenwart ist erreicht: Am 22. Februar gerät Abdul in der Nähe des
       Görlitzer Parks auf dem Weg zum Einkaufen in eine Personenkontrolle. Als
       herauskommt, dass er ein abgelehnter Asylbewerber aus Guinea ist, nehmen
       die Polizisten ihn sofort fest. Man sei ohnehin auf der Suche nach
       „relevanten Personen zur Vorstellung vor der guineischen
       Expertenkommission“ gewesen, schreibt eine Sprecherin der Polizei der taz.
       
       ## Polizei erstattet Anzeige
       
       Er sei in Handschellen gelegt und in den Mannschaftswagen gestoßen worden,
       erzählt A. Hier habe er auf dem Boden gelegen, ein Beamter hätte mit seinem
       Fuß auf seinen Hals gedrückt. Sie hätten ihn als Dealer beschimpft, ihm
       gesagt, dass er schon morgen abgeschoben würde. Dann: Schläge und Tritte,
       immer wieder. Schließlich habe jemand seinen Kopf genommen und mehrfach
       gegen die Wand des Polizeiwagens geschmettert. A. zeigt auf eine
       Kopfverletzung, die immer noch zu sehen ist. Er habe angefangen, laut zu
       beten, auf Arabisch, da habe ein augenscheinlich türkischer Polizist
       abgelassen. Der sei daraufhin sofort von den anderen Beamten angegangen
       worden. Warum er nicht mitmache, hätten sie ihn angekeift.
       
       Auf taz-Nachfrage schreibt die Polizei, es seien keine Ermittlungen gegen
       beteiligte Polizeibeamte eingeleitet worden. Im Gegenteil: Man habe am
       fraglichen Tag und am fraglichen Ort Ermittlungen gegen einen guineischen
       Asylsuchenden unter anderem wegen eines tätlichen Angriffs auf
       Vollstreckungsbeamte eingeleitet. Im Schreiben der Polizei heißt es auch,
       der Festgenommene habe „mehrmals mit seinem Kopf gegen die Scheibe des
       Polizeifahrzeuges geschlagen“. Die Polizisten hätten versucht, den Mann zu
       beruhigen, doch dieser habe die Beamten „in Rage“ attackiert. Zudem werden
       einige Coronaverstöße gelistet.
       
       Im Klartext: Die Polizei zeigt Abdul A. an, nicht umgekehrt. Dieses
       Vorgehen ist in Fällen vermeintlicher Polizeigewalt üblich. Unklar bleibt,
       warum A. seinen eigenen Kopf mehrfach gegen die Wand des Polizeifahrzeuges
       gehämmert haben sollte. Auch will die Polizei nichts von einer blutenden
       Kopfverletzung oder davon gewusst haben, dass er nach seiner Festnahme
       gehumpelt habe. A. selbst hat keine Anzeige erstattet: Er wisse, dass das
       nichts bringe, sagt er.
       
       Noch am selben Tag habe man ihn zur Delegation gezerrt, blutend und
       humpelnd. Diese habe im ehemaligen Flughafen Tegel getagt. „Keine zehn
       Minuten“ habe die Befragung gedauert. Die drei guineischen Beamten hätten
       ihn lediglich nach seinem Geburtstag und nach einigen Städtenamen Guineas
       gefragt. Sie seien nicht nett gewesen. Mehrfach habe er versucht, ihnen
       seine Geschichte zu erzählen. „Das wollen wir nicht wissen“, hätten sie
       barsch geantwortet.
       
       ## Zwei Selbstmorde
       
       Das Urteil der Befragung: Abdul A. ist guineischer Staatsbürger.
       Reiseersatzpapiere können ausgestellt, die Abschiebung kann eingeleitet
       werden. Nur noch eine medizinische Untersuchung durch das Gesundheitsamt
       stehe der Abschiebung seitdem im Weg, sagt A. Den ersten Termin für diese
       verpasste er. Denn kurz nach seiner Befragung bricht Abdul A. zusammen.
       Mehrere Wochen verbringt er im Krankenhaus, die Gewalt war wohl zu viel für
       die ohnehin schwer belastete Psyche des jungen Menschen.
       
       „Wo immer diese Delegationen hinziehen, überall lösen sie in den Communitys
       Existenzängste und Panik aus“, sagt Balde von Guinée Solidaire der taz. So
       nahmen sich erst Mitte März die beiden Asylsuchenden Alpha Oumar Bah und
       Salah Tayyar das Leben, die [5][taz berichtete]. Ein Sprecher der
       Senatsinnenverwaltung will aber keinen Zusammenhang zwischen Suiziden und
       Abschiebedelegationen sehen: Es seien „fast ausschließlich“ Kriminelle
       vorgeladen worden, keiner der beiden Toten sei dabei gewesen. Balde erzählt
       dagegen, immer wieder würden Menschen abgeschoben, die in der Ausbildung
       stehen oder in Deutschland arbeiten. Niemand fühle sich vor den
       Delegationen sicher.
       
       Auch nach ihrer Abreise aus Berlin tourt die guineische Delegation weiter
       durch Deutschland. Abdul hingegen hat nun mithilfe einer engagierten
       Anwältin mehrere Berufungsverfahren gegen seine Abschiebung eingelegt.
       Seine Situation bleibe aber weiterhin unsicher, sagt er. Die Mecklenburger
       Ausländerbehörde drohe ihm mit Abschiebehaft, auch da er sich weiterhin
       weigere, nach Mecklenburg zurückzukehren.
       
       Abdul A. sagt, eher würde er sich umbringen. Dennoch hält er sich am
       Silberstreif der Hoffnung fest: Er will eine Ausbildung beginnen. Seine
       Nachricht an die deutsche Mehrheitsgesellschaft ist kurz und prägnant: „Wir
       sind nur hier, um zu leben. Einfach nur um zu arbeiten und zu leben. Bitte
       versteht das.“
       
       7 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Fragliche-Abschiebepraktiken/!5757646
   DIR [2] https://www.bz-berlin.de/berlin/friedrichshain-kreuzberg/kampf-gegen-kriminalitaet-goerli-dealer-zurueck-nach-westafrika
   DIR [3] http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-pass-wird-passend-gemacht
   DIR [4] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/116/1911666.pdf
   DIR [5] /Folgen-deutscher-Asylpolitik/!5756929
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Timm Kühn
       
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